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Vom politischen Frauengeist des Jahres 1813

Die geistigen Frauen der klassischen und romantischen Zeit sind uns zumeist als »schöne Seelen« wert. Wir fühlen uns ihnen verpflichtet als den anmutvollen Führerinnen in eine wundervoll junge seelische Kultur, den Künderinnen bis dahin unerlebter Schicksale des Geistes und des Herzens. Zart und reich erscheinen sie uns im subjektiven Erleben, im Genießen und Verteilen von Gedanken und Schönheit. Eine neue Welt – der modernen Seele – haben sie schaffen helfen.

Aber das ist uns nicht genug. Gerade wir Frauen von heute suchen instinktiv noch nach einem anderen Zug, der uns das Idealbild der weiblichen Persönlichkeit vollendet: nach der Art, wie die Frauen die mächtigen Objektivitäten, wie sie »der Menschheit große Gegenstände«, die geschichtlichen Tatsachen miterleben. Wir haben ein doppeltes Recht, an die Frauen jener Zeit und Kultur diese Frage zu stellen. Denn der im Sinne der klassischen Humanität vollendete Mensch muß seine Reife auch in der Haltung zu den großen Formen des handelnden Lebens bekunden. Es ist das stärkste Mißverständnis auch des deutschen Klassizismus, wenn man ihn als eine einseitig ästhetische Lebensanschauung wertet. Auch Schiller will durch die ästhetische Erziehung nicht nur den vollendeten Menschen, sondern den vollendeten Staat verwirklichen helfen. Und umgekehrt: zur Vollendung des klassischen Menschen gehört sein Anteil am gemeinsamen Leben.

In geschichtlich bestimmter Form lautet diese zunächst allgemeine Frage: » Wie erlebten die Frauen der klassischen Kultur 1813?« Und damit ist die eine Seite der Erscheinung berührt, die uns in der Betrachtung der Freiheitskriege überhaupt wieder und wieder fesselt: die realpolitische Macht der »Ideologen«, die Art, wie aus einer philosophisch-künstlerischen Bildung ein nationaler Wille wurde.

Vor dieser Frage sinkt die wehende Flamme von Rahels Geist in ein winziges Fünkchen zusammen. In ihren Briefen an Varnhagen aus Berlin, als im April die Belagerung Spandaus ihr den ersten Kriegslärm nahebrachte, sieht man mit peinlichem Befremden, wie von aller Pracht ihres Geistes nichts übrigbleibt als ein etwas exaltierter Tatendrang für die Verwundeten, ein Seufzen nach Frieden und eine durchaus unverhohlene frauenzimmerliche Angst, die sie ja dann auch auf die Flucht nach Prag treibt. Kein politischer Gedanke, der nur irgendwie der Bedeutung dessen, was sich abspielt, nahekommt, dagegen die albernsten Einfälle, Erzeugnisse ihrer »windenden Angst« (ihre eigenen Worte!) vor knatternden Gewehren. »Mich verzehrt der wütende Krieg.« – »Ich habe so einen Plan im Herzen, alle europäischen Frauen aufzufordern, daß sie den Krieg niemals mitmachen wollen – dann könnten wir doch ruhig sein, von einer Seite; wir Frauen mein' ich.« Rahel hat keine innere Beziehung zur Geschichte, nur etwa zu den überragenden Personen. Da findet sie schöne, tiefe und bezeichnende Worte. Zum Beispiel zum Tode Fichtes: »Deutschland hat sein eines Auge zugetan.« »Wenn Fichte sterben muß! dann ist niemand sicher. Mich dünkte immer, Leben schützt vor dem Tode: wer lebte mehr als der?«

 

Caroline von Humboldt erscheint manchen neben dem schillernden und prunkenden Reichtum Rahels fast allzu schlicht. Gewiß ist sie stiller und unendlich viel einfacher. Aber der Zuschnitt ihres Wesens ist größer und reiner. Wenn irgendeine Frau der Zeit, so hat sie die klassische Haltung: Diotima zugleich und die heroische Mutter, Gattin und Bürgerin; schöne Seele und Politikerin. So zeigt sie sich uns vor allem in der Art, wie sie die Freiheitskriege durchlebt.

Wir wissen das aus dem vierten Bande ihres Briefwechsels mit Wilhelm von Humboldt, der die Jahre 1812 bis 1815 umfaßt. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, Königliche Hofbuchhandlung. Das Ehepaar war während des ganzen Krieges getrennt. So haben wir in unschätzbaren Dokumenten einen Austausch über die Zeitereignisse, von dem wir sonst nur indirekt etwas wissen könnten. Aber auch sonst haben wir dieser Trennung etwas zu danken: die vollkommene, unzweifelhafte Selbständigkeit ihres Urteils in allen Dingen. So allein, fern von jedem unmittelbaren Miterleben und Mitwissen der Staatsgeschäfte, in denen Humboldt eine (vielleicht zeitweise die) treibende Kraft war, dazu in einer Umgebung mit vollkommen anderen Anschauungen bekommt Caroline etwas auf sich Gestelltes, Kühnes und Sicheres. Ihre mütterliche Würde tritt wundervoll stark hervor, da sie den Kindern in jeder Weise den Vater ersetzt. In allen Briefen ist kein einziges Wort oder Anliegen an Humboldt als Familienvater. Er dient dem Staat, und sie leitet sein Haus und die Kinder. Das ist ganz selbstverständlich, und weder er noch sie verlieren darüber ein Wort.

Beim Ausbruch des Krieges war Humboldt seit zwei Jahren preußischer Gesandter in Wien. Im Juni 1813, am Tage der Waffenstillstandserklärung, wurde er von dort ins Hauptquartier des Kaisers Franz abberufen. Hier und bei dem dann folgenden Prager Kongreß handelt es sich um die Frage, ob mit Österreichs Vermittlung ein Friede zwischen Frankreich und Preußen geschlossen werden soll oder ob der Krieg fortzusetzen sei. Humboldt war – wie alle preußischen Patrioten – der Meinung, daß man unter keinen Umständen die feurige Volkserhebung in einem unwürdigen und unsicheren Frieden enden lassen dürfe. Seine besondere Aufgabe war, zur Fortsetzung des Krieges ein Bündnis mit Österreich zu erreichen – der schwere Konflikt, in dem er während des Prager Kongresses stand, war die Frage, ob Preußen auch bei Scheitern dieses Bündnisses den Krieg allein fortzusetzen wagen dürfe und ob es angesichts der Unsicherheit des Zustandekommens nicht doch besser sei, schon jetzt auf den Frieden hinzuarbeiten, ehe Napoleon sich stärken und einen noch schlechteren Frieden diktieren wird. Das Ohr des Königs hatte Knesebeck, der die Fortsetzung des Krieges ohne Österreich für unmöglich hielt. Metternich wollte den Frieden.

Wilhelm von Humboldt schreibt täglich an Caroline, die mit den Kindern in Wien geblieben war. Er beschreibt ihr – in seiner pedantisch genauen, bestimmten und klaren Art wie in einem amtlichen Bericht – den Fortgang der Verhandlungen Schritt für Schritt. Manchmal mit vorsichtigen Umschreibungen und Auslassungen, denn Metternich ließ Humboldts Briefe und Carolines Antworten öffnen, weil Humboldt ihm unter den Vertretern der preußischen Interessen »der furchtbarste von allen« erschien. Aber oft fanden sich doch Gelegenheiten, die Briefe durch Freunde zu bestellen, so daß er offen sein konnte. So bekommt man doch im ganzen ein vollständiges Bild.

Die Österreicher, Stadion, Gentz, Lebzeltern und Metternich selbst, die aus den (lange nicht so regelmäßigen, aber doch auch häufigen) Briefen Carolines Wiener Gesellschaftsklatsch als ersehnte Labung im Ernst der Staatsgeschäfte zu erfahren hofften und immer wieder enttäuscht wurden, wundern sich, was die Humboldts einander doch immer zu schreiben hätten. »Freilich mag nach der Art,« sagt Humboldt, »wie diese Herren mit ihren Frauen leben, das zu begreifen schwer sein.« Man fühlt auch so, daß ihm ihre geistige Mitarbeit Bedürfnis ist. Aber es mag auch – zugleich als Probe dafür, wie sich bei Humboldt ständig alles in Reflexion wandelt – eine ausdrückliche Äußerung von ihm aus späterer Zeit hier stehen:

»Mit Dir über die Angelegenheiten meines Geschäfts zu reden, ist mir wirklich ein ernstes Bedürfnis. Ich tue es gar nicht bloß, weil ich weiß, daß es Dir Freude macht, so hinreichend natürlich auch dieser Grund wäre. Ich tue es noch weniger aus Bedürfnis, mich mitzuteilen, Gott weiß, daß es selbst mein Fehler ist, dies nicht zu haben. Aber ich tue es, weil Du immer so rein, so aus tief gemütvollen Maximen und mit so richtiger Ansicht über die Begebenheiten, wie sie an sich, wenn sie von allem Zufälligen und Unwesentlichen entkleidet sind, dastehen, urteilst, daß kein Mensch auf Erden solcher Leitung entbehren möchte. Ich weiß und werde nie vergessen, wie unendlich sie mir in der schwierigen Zeit meiner jetzigen Laufbahn geholfen hat, wo alles und fast auch die sonst Besten daran arbeiteten, mich herunterzuziehen. (Das war eben in Prag.)

Diese Art, auf männliche Entschlüsse einzuwirken, liegt tief im weiblichen Gemüt; nur daß wenige Frauen je dazu gelangen, ihr inneres Bestes, oder vielmehr das ihrer Natur zu erreichen und noch weniger damit soviel Geist und eine so schöne Eigentümlichkeit verbinden, die nicht mehr der Natur angehört, als Du. Immer aber besitzen die Frauen auch hiervon viel mehr, als davon Gebrauch gemacht wird, da die elende Aufgeblasenheit und der Leichtsinn der Männer es mutwillig von sich stößt. Auch darin sind sie sehr undeutsch, denn in den besten deutschen Zeiten war es immer anders. Dagegen verstatten sie gerade auf verkehrte Weise den Frauen tausendfachen Einfluß auf die Ausführung im einzelnen, was man schon darum nicht tun muß, weil wirklich große und edle Frauen diesen verschmähen und von selbst meiden. Der Rat der Frauen ist wie ein Stern, der durch die Wüste des Lebens leitet. Er zeigt die Richtung. Wie man es machen soll, um dieser Richtung durch Klippen und Umwege zu folgen, ist der eigenen Betriebsamkeit überlassen, die immer bei weitem kleinlicher ist und sein muß, woraus dann auch wieder die Pflicht der Frauen entsteht, zufrieden zu sein, wenn man im Sinn und Geist gehandelt hat, und das Mangelhafte in der Ausführung zu übersehen und zu verzeihen.«

Ein Stern, der ihn führte, war Carolines Urteil ihrem Gatten ganz besonders in der Zeit des Prager Kongresses. Sie war kernhafter, temperamentvoller, gefühlssicherer als er, dem eine gelassene, zuweilen spitzfindige Reflexion sehr leicht den ursprünglichen Willen zerklügelte. In den Entscheidungen aber, bei denen er im Prager Kongreß mitzuwirken hatte, kam es auf mehr an als auf staatsmännische Rechenexempel. Es galt die Energien zu schätzen, die der frühlingsfrisch erwachte Volkswille in die Wagschale der Geschichte warf; es galt ein Instinkturteil im großen. Die gezirkelten Sätze, die feine Diplomatenhände auf Kanzleibogen setzten, waren Zündfäden, auf denen der kleine Funke aus der kühlen Weisheit der Konseils in die starken, schweren Leidenschaften eines gedrückten Volkes rann. Wessen Herz war groß, wessen Phantasie weit genug, um wahrhaft Stellvertreter der Millionen zu sein, deren Schicksal von ein paar Männern in Prag entschieden wurde?

Wilhelm von Humboldt ringt unausgesetzt darum, sich mit dem Gefühl dieser Millionen zu erfüllen, »zu erraten, was das Schicksal, und der einfache Sinn, der es ahndet« will; er weiß, daß »bei wahren Weltbegebenheiten, an denen wirklich die Völker von Herzen teilnehmen« nicht diplomatische Feinheit, sondern »die einfachsten und schlichtesten Gefühle den Ausschlag geben«. Eben darum wendet er sich an Caroline. »Keiner denkt so edel und fest in solchen Dingen als Du – – man kann nie etwas schwach machen, wenn Du dabei bist – – soviel Du daher kannst, ohne unvorsichtig zu sein, antworte mir, ob Du meiner Meinung bist.«

Sie schwankt keinen einzigen Augenblick. »Deutsche Ehre wieder obenauf. Das ist mir die Hauptsache.« »Daß die Knaben für nichts ihr Leben opfern als für das Rechte, daß die Mädchen einst nur Männern angehören, die ebenso gesinnt sind, das ist das einzige, wonach ich trachte. Denn einmal siegen muß doch das ewig Wahre und Rechte. Oh, daß ich den Beginn dieses Sieges mit meinem Herzensblut erkaufen könnte! Die Natur hat es wunderbar im Weibe gemacht – so beschränkte Kräfte und so unbeschränkte Wünsche!« Selbstverständlich gibt es keinen Frieden mit Napoleon vor seiner vollkommenen Vernichtung. Ihre einzige Angst ist, daß man Entschlüsse fassen könnte, die der gewaltigen Stimmung im Volk nicht würdig sind. In ihrer Seele ist der »ungeheure Kampf der helfenden und der zermalmenden Kräfte in dieser Zeit« unausgesetzt gegenwärtig, bis zum Zerspringen ist ihr Herz voll von den Hoffnungen und Tränen der Tausende, die sich diesem Krieg geopfert haben und zu opfern bereit sind. »Wenn ich ein Mann wäre, so würde dies Gefühl mich zur Tat, zum Siege oder zum Tode führen, gleichviel. So kann ich es nicht immer in der engen Brust fassen, und es muß in Tränen ausströmen.« Und an anderer Stelle:

»Es möchte einem das Herz brechen, daß nicht mehr geschehen ist, wo es nicht mit Strömen des Blutes erkauft werden mußte, wo ein edles, großes und tiefes Gemüt der leitende Faden in diesem Chaos des Elends, der Unterdrückung sein konnte, und die Segnungen von Millionen und Millionen dem, der das Recht mit Macht und mit Kraft ergriff, folgen mußten. Man verliert sich in allen Gedanken, die das erregt und oft fragte ich mich, wie man in einem Herzen das alles beherbergen kann, was sich darinnen auf- und abtreibt. Doch habe ich die Überzeugung, daß die Gefühle und Gedanken, die durch diesen mächtigen Kampf aufgeregt sind, geheiligt durch den Tod so vieler Edlen, die mit Freuden das Leben dafür hingaben, zu etwas Großem reifen muß. Alles in der Natur, das etwas wert ist, das Physische und Moralische, alles tritt mit Kampf und Schmerzen und Ringen in die Wirklichkeit. So sehe ich diese schmerzlich verworrene Zeit doch auch nur als den Übergang zu einer anderen an.«

So sammelt die heroische Mutter in die Tiefen ihrer warmen, spannkräftigen Seele die Gefühle ihres Volkes. Eine unbeschreibliche einfache Würde liegt in ihrer Haltung. »Ich denke, die Kinder sollen noch eine Zeit erleben, wo man sich ihrer nicht schämen darf.« Sie hat selbst einen sechzehnjährigen Sohn beim Heer, in derselben Eskadron mit dem fünfzehnjährigen jungen Gneisenau. Ihr einziger Wunsch ist, daß Theodor ins Gefecht kommt, daß er Gelegenheit haben möchte, dem Vaterland zu dienen. Jede persönliche Sorge ertrinkt in dieser feierlich gesteigerten Stimmung. Und doch bewahrt sie in ihrem fast unfaßlichen Mutterheroismus die menschliche Wärme und Weichheit ihrer Seele. Denn ihr ist diese wunderbare Kraft nicht von außen her als ein vergängliches Geschenk der außerordentlichen Zeit gegeben, sondern sie wächst ihr aus den Tiefen eines in vielen Schmerzen gereiften Menschentums. Schon früher, als sie an der Pyramide des Cestius in Rom den ersten geliebten Sohn begrub, hat sie gelernt, daß »der Tod so eigentlich zum Leben gehört«, und in den mannigfachen seelischen Erschütterungen, die das Leben einem heißempfindenden Menschen wie ihr nicht spart, hatte sie erfahren, daß » alles Tiefe um Schmerzgefühle spielt«. Ihr ist eigen, was Nietzsche die tragische Gesinnung nennt, die Bereitschaft, sich dem Schmerz willig hinzugeben, »daß er, nachdem er das Tiefste der Brust zerrissen, sie befruchte mit himmlischer Klarheit und Licht«. So stellt sie dem großen Schicksal die große Kraft des Ertragens entgegen, die frei und unabhängig macht von Wohlsein und Glück und äußeren Erfolgen. Sie kann im Sinne des antiken Wortes leben, das sie einmal zitiert: »Setze den Fuß nur leicht auf«.

Nicht daß sie sich aus persönlichstem Bangen und Leiden nicht oft erst zu dem großen Bewußtsein der Weltgeschichte durchkämpfen mußte. Ihre Briefe bezeugen zuweilen, daß sie diesen Zwiespalt fühlt. Aber auch da: welche wundervoll große Anschauung!

»Man trägt in das Gefühl des Lebens keine Einheit, wenn man die Gegenwart sozusagen nicht schon als gewaltige Geschichte betrachtet – ach, die Schmerzen des Herzens, die, die es treffen, und die, die es ahndet, widerstreben dieser großen Ansicht und doch drängt solches einem mit jedem Moment auf, daß es so ist, und daß das gewaltige Schicksal jeden Moment, den des unaussprechlichsten Schmerzes wie den der höchsten Freude, nur zurückdrängt in die Vergangenheit. So geht es vorwärts, entgegen dem stürzenden Strom der Zeit, und die abfließenden Wellen nehmen uns bald vielleicht mit in ihre Kühle.«

 

Caroline von Humboldt war aber nicht nur in der politischen Grundstimmung stark und wirklichkeitssicher; sie dachte und urteilte auch in allen politischen Einzelfragen kühn und treffend, und ihre Briefe sind voll von weitschauenden politischen Gedanken und praktischem Verständnis. Über die österreichischen Diplomaten, besonders über Metternich und vor allem über Gentz, denen beiden Wilhelm von Humboldt eine weitgehende Duldung entgegenbrachte, urteilt sie viel entschiedener. Sie hat ein stärkeres Gefühl für die staatsmännische Unzulänglichkeit, die nicht im Verstand, sondern im Charakter begründet ist. Metternich ist »von seiten des Gemüts, des menschlichen Eingehens in menschliche Verhältnisse der Zeit und dem, was sie aufgeregt hat, nicht gewachsen«. Sein frivoler Gleichmut und sein vollkommener Mangel an Pathos war ihr in tiefster Seele zuwider; das geistvolle Motto seiner leichtfertigen Apathie » cette affaire, comme toute affaire, finira d'une manière quelconque« schien ihr der schlechthin sündhafteste Grundsatz eines Staatsmannes. Und vollends gegen Gentz, von Rahel immer wieder als Verehrer »agaciert« und von Humboldt als Freund geachtet, ist sie unerbittlich. Ihre klare, bestimmte, positive Natur verabscheut die elegante, weltläufige Gesinnungslosigkeit Gentzens. Sie läßt sich auch von Humboldt selbst in dieser Abneigung nicht irremachen: die Frau in ihr protestiert gegen den gewissenlosen Lebemann, dessen Geist und Grazie sie durchaus nicht besticht. »Das Gemüt ist ihm untergegangen in Liederlichkeit und physisch-moralischem Gehenlassen. Das Heiligste, was diese Zeit belebt hat, hat ihn nicht durchdrungen. Mir ist er rein eklig geworden. Trau ihm nicht.« »Gentz ist mir mit seinen Ansichten ein Greuel. Er hat sich wirklich überlebt.«

Sie kommt aber auch immer wieder mit sachlichen Ratschlägen, die sich stets durch ihre Klarheit auszeichnen und immer auf eine kühnere und stolzere Haltung Preußens hinauswollen. Der Überfall des Lützowschen Freikorps mitten im Waffenstillstand setzt sie in helle Empörung. Man hätte gleich den (von den Franzosen besetzten) Festungen die Lieferungen abschneiden sollen, bis die beiden verantwortlichen Generale ausgeliefert wären. Jedenfalls solle man nun, wenn Napoleon den Waffenstillstand verlängert haben wolle, auf Räumung aller Gebiete bis zur Elbe durch französische Truppen dringen, damit man vor weiteren Wortbrüchen sicher sei. »Das lege ich Dir an die Seele,« schreibt sie. Ob man sich nicht von den Rheinbundstaaten wenigstens noch Bayerns versichern könne, meint sie ein andermal. Eigentlich gehöre doch Österreich nicht mehr recht zu Deutschland, Preußen und Bayern seien die beiden Zentralpunkte, die das übrige doch mehr oder weniger an sich zögen. Sie war überhaupt auf Österreich eifersüchtig und auf Preußens Einfluß in der Allianz von Herzen erpicht. In den Tagen, in denen sie Berichte von der Schlacht bei Leipzig erwartete, schreibt sie:

»Es verdrießt mich nicht wenig, wenn Preußen nicht des ganzen politischen Einflusses genießt, dessen es genießen sollte. Denn Rußlands Interesse an Deutschland kann eigentlich nur das sein, daß Deutschland nicht ein Werkzeug in Napoleons Händen zu seiner Unterjochung sei. Österreich und Preußen sind die wahren Stützen Deutschlands, und Österreichs Benehmen in allen vorigen Jahren hat es eigentlich kalt gegen Deutschland gemacht. Wenn Metternich das nicht fühlt, so ist er doch nicht auf dem rechten menschlichen Wege und hat eigentlich nicht die großen Ansichten, die er haben sollte, und mit denen allein er der Zeit gewachsen wäre.«

In ihrer Einschätzung Österreichs hat sie sich als Seherin erwiesen. Es erscheint ihr als das Land, dem die nächsten großen Veränderungen bevorstehen. Noch in diesem Jahrhundert werde es aufhören, eine deutsche Macht zu sein. Deutschland, d. h. das deutsche Deutschland, sei im Wachsen, und Österreich werde damit nicht Schritt halten. Und ebenso klar hat sie später die polnischen Besitztümer Preußens eingeschätzt: »Polen ist meiner Meinung nach ein Abgrund, aus dem nichts herauszuholen, aber viel hineinzuwerfen ist, und zwar bodenlos.«

Leider sind von der Schlacht von Leipzig bis zu dem Kongreß von Chatillon, an dem Humboldt wieder teilnahm, keine Briefe von Caroline erhalten. Dann nimmt sie – nun von Berlin aus, wohin sie zurückgekehrt ist – lebhaftesten Anteil an der Frage, ob die Verbündeten in Paris einziehen werden. Es wird viel Menschen, viel teures Blut kosten, aber es muß sein. »Wie die drei dort anwesenden Souveräne es anders fühlen, es anders wollen möchten, ist mir unbegreiflich. Es ist eine wahre, reine Ehrensache.« Die Bedingungen des Friedensschlusses durchdenkt sie vollkommen selbständig und immer auf eine würdige Haltung der verbündeten Mächte Napoleon gegenüber und auf eine den großen Opfern entsprechende Genugtuung bedacht. Als ein besonderes Fraueninteresse legt sie ihrem Gatten die Herausgabe der von Napoleon aus den eroberten Ländern zusammengebrachten Kunstschätze nahe. »Große Geschäfte machen oft so etwas vergessen,« sagt sie, »allein es ist der Frauen Pflicht, daran zu erinnern, denn dies ist in diesem Falle eine Ehrensache, und den eigenen Männern kann Ehre nicht teurer sein, als sie es den Frauen sein muß. Sie ist der Glanz des Lebens, sein Schmuck und seine Krone.« Der Ehrenpunkt ist immer das, worin sie am lebhaftesten empfindet. »Der Friede wird doch nicht etwa französisch abgefaßt werden?« fragt sie; »unsere Kinder und Enkel glauben ja wahrhaftig nicht an die Wahrheit der Geschichte, an die erlittene und gerochene Schmach, wenn das wäre. Ich weiß, Du siehst diese Dinge manchmal zu gleichgültig an, aber tue es nicht.« Ihr ist überhaupt der Friede von Paris unzulänglich nach den großen und glücklichen Anstrengungen. Sie empfindet deutlich, daß es noch nicht das Ende des Krieges sein kann. »Preußen steht da mit weit hingebreiteten Armen, allein mit weniger konzentrierter Kraft. Man sieht es der bloßen Landkarte an, daß bald wieder ein blutiger Krieg sein muß.« Auch für Deutschland im ganzen ist ihr das Ergebnis des Friedens nicht genügend, »Straßburg hätte in deutschen Händen sein müssen«. Dieses Unzulängliche des Erreichten kränkt sie weniger noch an und für sich, als insofern sie darin eine Enttäuschung des Volkes durch seine Staatsmänner sieht: des Volkes, das geblutet und geopfert und alles hingegeben und damit andere Gewichte in die Wagschalen der Entscheidung geworfen hat als die diplomatische Überlegung der Höfe. Sie empfindet immer aus der Seele dieses Opfermutes und dieser Hingabe heraus, und sie sagt wiederholt, daß die Völker viel besser seien als die Fürsten, daß die Völker großer Schicksale würdig wären, wenn man ihnen nur würdig begegnen möchte. Den lebhaftesten Protest ihres nationalen Ehrgefühls ruft der Gedanke hervor, daß man den Herzog von Leuchtenberg Eugen Beauharnais als deutschen Fürsten in Deutschland lassen könne. Der König von Bayern, der ihm seine Tochter gegeben hat, mag ihm jetzt auch zu leben geben. Bayern hat ja genug Erfolge im Pariser Frieden gehabt – »genug gestohlen und zusammengepraßt« –, wie Caroline sich erbost ausdrückt. Aber daß Eugen Beauharnais irgend etwas erblich in dem von ihm so oft mißhandelten Deutschland haben soll, findet sie »abscheulich, gottlos und sündlich«. Wenn Deutschland seine eigenen entarteten Kinder, den König von Sachsen und den verhaßten Fürst-Primas des Rheinbundes zu Tode füttern müsse, so sei dies ein Werk der Barmherzigkeit, aber den Eugen solle man hinschicken, wo er hergekommen sei. Es müsse den übelsten Eindruck machen, wenn man ihn da jetzt irgendwo ansiedeln wolle.

Daß Sachsen nicht einfach zu Preußen geschlagen wird, scheint ihr ein schmerzlicher Beweis der Schwäche Preußens. Man hätte es nach der Leipziger Schlacht gleich nehmen sollen. Der König von Sachsen habe es nicht besser verdient. »Was so sonnenklar hingestellt ist, wird nur durch die langen Debatten eines Kongresses verunstaltet und entstellt.«

Überhaupt war da im Pariser Frieden vieles, was ihr gegen das Ehrgefühl geht: z. B. die Erhebung Hannovers zum Königreich, diese Nachahmung französischer alberner Standeserhöhungen. »Es kommt ja heraus, wie ein Avancement unter den großen Herren.« Statt daß man den unter Napoleon avancierten Fürsten nahelege, freiwillig auf diese sie befleckenden Titel zu verzichten! »Alles gratuite Beibehalten derselben, alles Tragen von Orden aus jener Zeit und dergleichen, was eben in denselben Artikel gehört, kommt mir vor, wie wenn man die Kleidung aus dem Zuchthause trüge, nachdem man daraus entlassen ist.« Darum erregte auch Goethes Verhalten, der nach Ausbruch des Krieges noch weiter den Orden der Ehrenlegion trug und sich nur schwer entschloß, ihn abzulegen, bei Caroline und ihren Kindern aufrichtigen Abscheu. Während Rahel sich überflüssigerweise wortreich darüber entrüstet, daß »ein wütender Krieger« (der bei Goethe einquartierte österreichische General Colloredo) gewagt habe, seinem Wirt sein Befremden wegen dieses Ordens auszusprechen!

In ihrer Enttäuschung über den Fortgang der Pariser Friedensverhandlungen ist sie auch durchaus nicht erschrocken, als Napoleon wieder in Frankreich landet und der Krieg von neuem beginnt. Im Gegenteil, sie atmet fast auf; es ist ihr ganz recht so, damit das Weltgericht seinen klaren endgültigen Ausklang hat.

»Ich bin nicht eigentlich angst über das Evenement mit Napoleon. In dem großen Weltgericht, das gehalten wird – denn ich gestehe Dir, mir kommen alle Begebenheiten so vor – wird es nötig sein, daß dieser Stoff der Gärung dazwischen falle, damit das Gute und das Böse, die Wahrheit und die Lüge sich schärfer sondern.« Und später: »Für uns sehe ich den Krieg als entschieden an, er wird blutig werden, ach Gott, man kann nicht genug wünschen, beten und flehen, daß jetzt große, sehr ernste, sehr konsequente Maßregeln genommen werden. Ist man Österreichs ganz sicher? Bayerns? Die deutschen Völker sind gut, aber mit Recht sind sie unzufrieden mit vielem, was seit dem Frieden von Paris geschehen ist. Dieser Krieg trägt einen ganz anderen Charakter als der vorige. Im vorigen war trotz seiner herrlichen Waffentaten ein Fehler, sein Zuschnitt war nicht gemacht, wie er es hätte sein sollen. Gott gebe, daß man sich diesmal sage, daß mit Napoleon kein Frieden, keine Unterhandlung, kein Waffenstillstand ist.«

Ihr ist dieser letzte Akt des Krieges die große Krise, deren es noch bedurfte, um Deutschland zu reinigen. Und sie sieht mit Genugtuung die schönen, tüchtigen, frohen Regimenter ausrücken. Man soll nur dann endlich den provisorischen Zuständen ein Ende machen und Deutschland definitiv in Ordnung bringen. Und dann – woran ihr ganz besonders viel liegt – man soll zu dem Volk über die Ursachen des Krieges reden, von den Kanzeln, wenn es sein muß. Ihr liegt überhaupt immer daran, daß auch alle ordentlich erfahren, was geschieht, und teilnehmen können. Schon beim Ausbruch des Krieges von 1813 drängt sie Humboldt, für einen ordentlichen Nachrichtendienst zu sorgen. Man sollte von Frankreichs organisierter Publizität lernen. Sie ist glücklich über den Aufruf des Königs bei Wiederausbruch des Krieges. In Österreich finde es niemand der Mühe wert, mit dem Volke zu sprechen. Das sei eine »verruchte Manier«, die sich schwer rächen werde.

Von Anfang an aber sind ihre Gedanken auf das gerichtet, was nach dem siegreichen Ende des Krieges in Preußen und Deutschland geschehen muß. Nach dem Krieg wird die wichtigste Periode für das Land anheben. Und ihre heißeste Sehnsucht ist, daß Humboldt dann an der inneren Befreiung Preußens mitarbeiten könne. Von dieser Aussicht ist schon zwischen den Gatten die Rede, als Humboldt während des Prager Kongresses damit rechnen muß, im Falle eines unwürdigen Friedens mit Frankreich seine Entlassung aus dem Staatsdienst nachzusuchen. Sie antwortet auf seine Mitteilungen und Fragen:

»Preußen hat in dieser Zeitperiode eine Kraft geäußert und entwickelt und zum Teil in das wirklich reelle und handelnde Leben übertragen, die einem Preußen als die Wiege künftiger gesetzmäßiger Freiheit sehr teuer machen. Einige Jahre wolltest Du doch noch dem Vaterlande weihen. Wenn Du daher Deinen jetzigen lebendigeren Verkehr mit dem Könige, mit dem Staatskanzler benutztest, im Lande zu wirken und nach Deinem besten Wissen und Gewissen zu handeln, so glaube nicht, daß es mir unangenehm sein würde, dort zu leben. Im Gegenteil. Mit den Menschen als Menschen hat man dort lebendigere Berührungspunkte, das ist und bleibt gewiß. Machte Preußen einen wirklich ehrenvollen Frieden, so sähe ich es recht gern ( pas pour la gloriole kannst Du wohl denken), aber aller dieser Ursachen wegen und meines wahren Interesses an Preußen wegen, wenn Du Minister der auswärtigen Geschäfte würdest, oder in der inneren Administration employiert würdest. Bis zu deinem fünfzigsten Jahr Dich wenigstens Preußen zu geben, halte ich doch für eine unerläßliche Pflicht, zumal in so gewaltiger und ernster Zeit. Ich wünsche es aus reinem Interesse für das Gute. Nötigen Dich aber die öffentlichen Umstände, ganz zurückzutreten, so glaube mir, mein teurer Wilhelm, daß es für mich nur das Schmerzliche haben wird, Dich für Preußen verloren zu denken (für Preußen, das mir um der Masse von schönen, wahren und heiligen Gefühlen und Empfindungen des Rechten, mit dem Tausende seiner Bürger in den Tod gegangen sind oder ihr Liebstes dem Schicksal dargebracht haben, unbeschreiblich lieb geworden ist); aber sonst weißt Du wohl, daß das Aufgeben einiger Bequemlichkeiten des Lebens oder einigen Glanzes, der einem mehr für andere, die man liebt, als für sich selbst etwas wert ist, mir keine harten Kämpfe kosten wird.«

Wenn Preußen das Herz der Erhebung war, in dem alle ihre Lebenspulse schlugen, so schien es ihr der reine treue Wille des Volkes zu sein, der es dazu machte. Darum brennt ihre Seele für das Schicksal der inneren Politik in Preußen ebensosehr wie für Preußens moralische Eroberungen in Deutschland, auf die sie hofft und an die sie glaubt.

 

Das Schicksal der Humboldts nach dem Kriege ist ein Symbol alles dessen, was in den Freiheitskriegen so stolz und jugendfrisch begann und nachher so unrühmlich und fruchtlos endete. Nach einem kurzen und vergeblichen Kampf mit den reaktionären Widerständen im Ministerium des alternden Hardenberg endete Humboldts politische Laufbahn mit dem Jahre 1819. Sein Schicksal glich dem des Philosophen im Staate Platos: »er fand nicht den ihm gemäßen Staat, um darin noch mehr zu wachsen und mit dem Eigenen das Gemeinsame zu erretten.« Und so ist auch Carolines Seele, die alles nur ganz sein konnte, aus der Welt des Handelns ganz in die der Kunst und Liebe zurückgekehrt. Aber wie der Rhythmus eines stillen Verebbens und Verrinnens zieht es sich von da ab durch ihr Dasein. Das ist die Resignation der Mutter, der die Kinder in ihr eigenes Leben hinein entwachsen, und die zunehmende Mattigkeit einer Leidenden – aber auch das Ausbleiben eines erhabenen Antriebs, der sie noch einmal wieder dem persönlichen Kreise entrissen und ihrem Dasein die monumentale Größe geschichtlicher Bedeutsamkeit gegeben hätte.


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