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Freideutsche Jugend

Herbst 1913

Wenn man sich heute ein Bild von dem neuen Geist zu machen versucht, der die intellektuelle Jugend zu erfüllen beginnt, so steht man gleich vor einer Schwierigkeit. Es ist schon so viel daraus gemacht, darüber orakelt, geurteilt, begutachtet, gedeutet, daß das Gewebe der Meinungen die Sache selbst zu verhüllen anfängt. Jeder, der darüber schreibt, verschiebt sie ein wenig. In jeder Diskussion rückt sie in ein anderes Licht. Redend, schreibend wird die Jugendbewegung zu etwas hingeredet und -geschrieben, was ihr vielleicht fern lag. So kommt die Jugend in Gefahr, selbst beirrt zu werden. Oder sie gerät in eine Gegenwehr, die den eigenen Instinkt trübt.

Und trotzdem ist diese Diskussion unvermeidlich. Für die Pädagogen ist es selbstverständlich, daß sie versuchen müssen zu verstehen, was vorgeht. Aber auch für jeden anderen bedeutet die Jugendbewegung eine Tatsache, die seiner lebhaften Aufmerksamkeit wert ist. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Anfang zu etwas wirklich Neuem, zu einer neuen Kulturstimmung, die nicht die Jugend als Jugend und nur für ein paar Jahre erfüllt, sondern die in ihr als der Generation der Zukunft heranwächst, als in den neuen Menschen, die sich vielleicht einmal neue Lebensformen schaffen werden.

 

Das grundsätzlich Neue scheint das Wachsen des Instinkts gegen die Unnatur und Überladenheit der modernen Zivilisation zu sein.

Wir sahen in dem letzten Jahrzehnt bei einzelnen Führern, dann als eine Gesamtstimmung eine Kritik dieser Zivilisation gegenüber entstehen. Simmel sprach schon in dem vor Jahren erschienenen Buch über die Philosophie des Geldes davon, daß es nicht Ziel der Kultur sein könne, daß unsere Bahnen nur immer noch schneller fahren und unsere Räume immer noch besser beleuchtet werden. Technik ist Mittel, nicht Zweck, aber sie hat sich weit über die Bedeutung eines Mittels ausgewachsen. Sombart hat in einem seiner letzten Bücher von einem Rückfall der Menschheit in ganz primitive Liebhabereien, Rekordsucht, Besitzwut, als Folge der technischen Anspannung gesprochen. Was in der älteren Generation als Einsicht, Gedanke, Kritik schon lebendig ist, ohne doch schon die Macht einer Lebensumformung zu gewinnen, kommt jetzt in der Jugend als unbewußter Instinkt heraus. Sie will einfach nicht mehr mittun in dem steinernen Meer.

Das ganze Wanderwesen ist die erste Reaktion. Aber was bei den Kleinen nur Stadtflucht, Abenteuerlust, Wandermut und Naturfreude ist, bedeutet bei den Älteren doch seelisch mehr. Eine Rückkehr zur Natur und eine Ablehnung der städtischen Zivilisation in einem weiteren Sinn. Ein instinktiver Protest gegen die rein zivilisatorische Kultur des Gehirnmenschen, ein Sichzurückfühlen zur Freude und Einheit des ganzen Menschentums und zu seiner Einfachheit. In der Freude, die keiner Mittel und Stimulantien bedarf als Gesundheit, Bewegung, Wald und Straße – der Freude des Müdewerdens und Ausruhens, des Ausmarsches und der Lagerstätte genießt die Jugend den Zauber von Daseinsformen, die weit zurückliegen hinter dem Zuschnitt der Großstadt. Ein ganzes Gefüge moderner Lebensreformen: die Gartenstadt und der Sport, die immense Verbreiterung der Reise- und »Touristen«-Freuden, die Belebung des Tanzes, die Kleidungsreform, das ganze Freiluftwesen in der Hygiene – alles zusammengenommen scheint jetzt auf einmal stark genug, um etwas Ganzes, Wesenhaftes, eine neue Gesundheit, ein neues Lebensgefühl zu werden. Was planmäßig im einzelnen erstrebt wurde, tritt in der heutigen Jugend auf einmal als ein selbstverständlicher Wille hervor, der, wie es scheint, der wachsenden Überladung und Komplizierung unseres zivilisierten Daseins Halt gebieten und eine Wendung zur Vereinfachung versuchen möchte.

 

Die freideutsche Jugend hat bei ihrer Tagung im Herbst 1913 eine Resolution gefaßt, in der sie erklärt, sich keiner Partei verschreiben zu wollen. Vielleicht war das Zustandekommen dieser Erklärung an sich auch durch äußere Umstände bedingt, eine Abwehr dieser oder jener einzelnen Richtungen und ein notwendiges Suchen nach etwas Einigendem, Gemeinsamem. Aber diese Resolution hat schließlich doch noch eine andere Bedeutung als die einer ad hoc-Taktik. Ihr Echo tönt uns voller und aus tieferem Grunde von überall her entgegen. Es ist auch mehr als der Protest gegen den »Kampf der Parteien um die Jugend« – gegen dieses bedenkliche und abstoßende Werben um die Jugend als den Machtfaktor der Zukunft. Vielmehr scheint auch in dieser Ablehnung irgendwelcher Einzelzwecke und der Abneigung, sich auf eine »Richtung« einzulassen, letzten Endes ein gefühlsmäßiger Widerstand herauszukommen gegen die Zerspaltenheit des modernen Lebens in lauter Zweckrichtungen.

Das bedarf der weiteren Erläuterung.

Es ist wohl das entscheidende Merkmal für die Physiognomie unserer Zeit, daß das Leben in einem Grade organisiert ist wie nie zuvor. Die Leistung der Persönlichkeit verteilt sich aufgelöst in das Adergeflecht dieser sozialen Organisation, wir sind alle mehr »Mit«menschen als Menschen, mehr »Bestrebung«, Funktion, Mitgliedschaft, Organ als Person. Durch die Fertigkeit, die wir gewonnen haben, unseren Ideen einen Leib zu schaffen in einer »Organisation«, werden sie uns unter den Händen zu objektiven Mächten und treten uns gegenüber als ein Werk, das unseren Dienst verlangt und dem wir uns als Gefangene ergeben müssen.

Es liegt eine unheimliche Tendenz zur Zweckdienlichkeit im modernen Lebenszuschnitt. Alles wird auf seine fernsten Wirkungen, seine Zusammenhänge mit dem andern, als Glied einer Kette, Station und Mittel angesehen. Wenn Jugendpflege betrieben wird, so dient sie nicht sich selbst, sondern der Bekämpfung des Umsturzes oder der Erzeugung von Patriotismus, oder der Erhöhung der Waffenfreudigkeit. Man muß nur jene Geleitworte durchlesen, die wohlmeinende Freunde der freideutschen Jugend mit auf den Weg geben (in der Schrift »Freideutsche Jugend« bei Eugen Diederichs erschienen), um diese Zwecktendenz auf Schritt und Tritt wie eine Manie und Krankheit zu finden. Da wird zum Beispiel die in sich selbst schöne und wertvolle, so ganz harm- und zwecklose Geselligkeit, die sich die Jugend schafft, sofort zum Mittel fernster und breitester Wirkungen: Anfang einer deutschen Geselligkeit, die den imperialistischen Siegeszug der deutschen Kultur über die Welt hin unterstützen soll! Als wenn sie erst an dieser letzten Peripherie möglicher Folgen einen Wert gewinnen könnte! Das Wort Schillers, daß es nicht Bestimmung des Menschen sein könne, sich selbst aufzugeben für seine Zwecke, hätte heute verhundertfachte Gültigkeit. Die geheime Befürchtung, mit der er in das 19. Jahrhundert hinaus sah, ist eingetroffen. Die Betriebsamkeit, die als großer Zwang in der Zeit liegt, ist wie eine verzehrende Krankheit für alles Persönliche, das nicht ganz stark und unangreifbar ist. Nur die Kräftigen können sich selbst noch behaupten und bewahren gegenüber der Eilfertigkeit, mit der dieses Ausnutzungssystem, das die Menschen sich geschaffen haben, alle ergreift, zerkleinert, verteilt, dahin und dorthin leitet und für hundert verschiedene Einzelzwecke verwerten will. Schwächeres Leben kommt in diesem Zerstäubungsprozeß überhaupt nicht mehr zu sich selbst.

Machen wir es uns klar: diese Ausnutzungstendenz, dies Verlorengehen und Verzehrtwerden des Menschen in lauter Leistung ist eine Zeitkrankheit. Eine chronische Umkehrung von Mittel und Zweck. Es ist denkbar, ja es sind die Anzeichen dafür da, daß dem Zeitalter der Technik und des Organisiertseins, der höchsten Inanspruchnahme des einzelnen durch die Kollektivleistung, seiner denkbar weitestgehenden Umwandlung zum Werkzeug eine neue Kultur folgen wird, bei der wir alle errungenen technischen Mittel für ein volleres – und stilleres – persönliches Leben verwerten. Und es scheint, als bereite dieser Umschlag sich vor.

 

Vorläufig freilich zeigt es sich, daß es auch noch eine andere Form gibt, sich über die tausendfache Zweckeinstellung des Lebens zu erheben. Eine dekadente, negative, unjugendliche Form: das Ermüden an Zweck und Ziel, an irgendeiner positiven Willensrichtung überhaupt, die höheren oder gemeineren Formen der Blasiertheit. Als Otto Ernst vor etwa anderthalb Jahrzehnten sein Lustspiel »Jugend von heute« schrieb, meinte er, diese Stimmung des nil admirari als das Wesen der modernen Jugend verstehen zu sollen. Es sind so viele Ziele da, es werden, immer mit der gleichen eifrigen Überzeugtheit, so viele »Werte« angeboren, daß sie sich untereinander kalt stellen und Skepsis, Müdigkeit, Relativismus sich ausbreitet. Wir haben diese Skepsis in einer feinsten und geistigsten Form in der Wiener Dichtung. Das Liedchen des Rosenkavaliers tönt sie wider:

Es ist eh' all eins, es ist eh' all eins,
Was das Herz auch noch so gach begehrt.
Na was willst denn halt so mit aller G'walt,
Geh, es ist ja all's net drumi wert.

Eine Willenslähmung angesichts der Vielgestaltigkeit der Zwecke, und eine Temperamentserschlaffung durch zu viel aufnehmende, verstehende, einfühlende und zu wenig aus eigenstem Kern heraus schöpferische Arbeit: das ist die eine Wirkung der anspruchsvollen Mannigfaltigkeit unseres Daseins: das glatte Versagen, die vollkommene Auflösung des wollenden in den verstehenden Menschen.

 

Es ist ein ganz starkes und erfreuliches Zeichen der unzerstörbaren Gesundheit unseres Geschlechts, daß sich nun neben dieser müden, überwältigten und benommenen Kapitulation vor der Zerspaltenheit unserer Kultur eine frische, überwindende und naive Ablehnung durchsetzt. Das Wort »Jugendkultur« hat sich die Jugend nicht selbst zugelegt, man hat es ihr gegeben, und es hat dadurch schon etwas Gekünsteltes bekommen. Es soll ausdrücken, daß die Jugend nach ihrer eigenen geistigen Lebensform suchen will, nicht vorzeitig eingefangen in das Wesen des Alters. Sicher ist das keine ganz glückliche Formel für das, was sich da in der neuen Jugend regt. Sie hat eine doppelte Gefahr: die Jugendlichkeit, deren Wesen ja doch das Unbestimmte, Stimmungsmäßige, der Sturm und Drang ist, wird zu einer bewußten, gewollten Lebensform gemacht. Und ferner: es wird verwischt, daß alle größten und zentralsten Lebensgüter überhaupt menschlich gemeinsame sind, so wenig verschieden für jung und alt, wie für hoch und niedrig oder für Mann und Weib.

Die Formel »Jugendkultur« als Ausdruck dessen, was die Jugend will, deutet aber in ihrer leisen Verborgenheit schon die Schwierigkeit an, die überhaupt darin liegt, einem einfachen, instinkthaften Lebensgefühl und seinem dunkel geahnten Ziel programmhaft Ausdruck zu geben. Gerade weil es wohl das Wesen der neuen Bewegung ist, sich von der einzelnen Lebensreform weiter zu einer tieferen Einheit zu tasten, wird sie sich schwer theoretisch aussprechen können. Wenn es ihr Sinn zu sein scheint, das Wort Ruskins wieder zu Ehren zu bringen, daß »der größte Reichtum das Leben sei«, so wird sie diesem Drang weniger in einer Formel wie in Taten, Sitten, Stimmungen, Fröhlichkeiten zur Äußerung verhelfen können. Das Wort »Jugendkultur« leistet ihr den Dienst einer negativen Abgrenzung: nichts Einzelnes, nicht Abstinenz allein, oder Sport, oder Kleidungsreform usw. usw., sondern das, was als eine Kraft in dem allen steckt. Etwas neues Ganzes, Menschliches, etwas nicht Rationalisiertes, Bezogenes. Schiller hat in den Briefen über ästhetische Erziehung einen Seelenzustand »erfüllter Bestimmbarkeit beschrieben, den er alt Wirkung künstlerischer Erhebung ansieht. Nicht für etwas Einzelnes schon entschlossen, das anderes verdrängt und ausschließt, sondern voll Spannkraft zu allem, was den ganzen lebendigen Menschen in Anspruch nehmen und befriedigen will. Und das ist die innere Verfassung, die die Jugend haben möchte und zu der sie bei der allzu schnellen und intensiven Zurichtung auf ihre Zweckverwendung nicht kommt. In diesem Gefühl liegt der berechtigte Sinn des Protestes gegen die Schule als gegen den großer Zurichtungsapparat für die gesellschaftliche Verwertung des Menschen, der sie trotz aller humanistischen Traditionen und Ideale geworden ist.

 

Auffallend ist in der Jugendbewegung das Gewichtlegen auf die Wahrhaftigkeit, die Ehrlichkeit gegen sich selbst. Sie kommt aus dem starken geistigen Selbsterhaltungsinstinkt heraus, der die treibende Kraft der neuen Generation zu sein scheint. Allerlei äußere Motive kommen dazu: der Protest gegen die auch von Lehrern schon oft und schmerzlich empfundene Mogelei und Kompromißlerei in der Schule, mit der die unvermeidliche Spannung zwischen Autorität und Freiheit unwürdig gelöst wird. Aber das ist ja eine alte Geschichte. Der neue Akzent, den das Wahrhaftigkeitsbedürfnis gewinnt, kommt jetzt doch wohl noch aus besonderen Quellen. Aus dem Kampf um sich selbst, um die Bewahrung des eigenen Willens, der personalen Einheit in einer Kultur, die automatisch, mechanisch, fast unfaßbar jeden mehr und mehr in ihre Kompromißlerei hineindrängt. Es soll kein Zweck so wichtig sein, daß man seinetwegen die Treue zu sich aufgäbe. Man will in dieser übermächtig andringenden Gewohnheit den Mut zu neuem Anfang bewahren. »Wir kennen aber anderes, was keine Erfahrung uns gibt oder nimmt« – so heißt es in der Zeitschrift der Jugend »Der Anfang«: »Daß es Wahrheit gibt, auch wenn alles bisher Gedachte Irrtum war, oder: Daß Treue gehalten werden soll, auch wenn bisher niemand sie hielt.«

Es ist in gewisser Weise die Verlegenheit dieser Jugendbewegung, daß ihr in einer Welt der formulierten Programme, wo aller Wille sein Aushängeschild haben muß, nichts Formulierbares bleibt als diese Treue gegen sich selbst und die mehr oder weniger stark und lebhaft vorhandene und sich gebärdende Ablehnung und Auflehnung gegen einengende Einflüsse durch das Alter, bei einem starken Solidaritätsgefühl, das sie als Jugend zusammenhält und verbindet.

Hier und da kommen dann noch allgemeine und gefühlsmäßige Rassenideale hinzu, um diesem schwer definierbaren Lebenswillen einen Namen zu geben.

 

In dieser unvermeidlichen, in der Natur der Sache gegebenen Programmlosigkeit der Jugendbewegung liegt ihre Gefahr. Zunächst des Mißverstandenwerdens. Man sieht nur die Auflehnung, die Unbescheidenheit, die Mißachtung der »Autorität« usw. Und nicht jeder fühlt in diesem absprechenden, widerspenstigen Gebaren den positiven Kern, um den es geht.

Aber es liegt auch eine innere Gefahr in der Schwierigkeit, den Willen der neuen Jugend positiv darzustellen und auszusprechen. Nämlich die, daß die rüden, leeren und von Natur respektlosen Elemente sich eindrängen und aufspielen. Der »Anfang« hat sich davon nicht freihalten können. Er hat in dem programmhaften Bestreben, nichts zu unterdrücken, alles zu Wort kommen zu lassen, auch Ergüssen eines ebenso uninteressanten wie unjugendlichen und belanglosen Rowdytums, das es immer gegeben hat, zu breiter Wirkung verholfen – man weiß nicht recht warum. Man hat auch in Diskussionen mit den jüngeren Leuten zuweilen – neben allem überzeugend aufrichtigen Ringen, das da oft herauskommt – das Gefühl, als wollten sie die Revolution à tout prix, über Notwendigkeit und Bedürfnis heraus, um der schönen Farbe willen. Solche unerfreulichen Geister, wie sie hier den leeren Raum der Programmlosigkeit mit ihren Tiraden füllen, sammeln sich um jede junge Bewegung; man darf sie ihr nicht zur Last legen, aber sie können ihren Geist verderben. Zumal, wenn sie noch von verantwortungslosen Erwachsenen unterstützt werden.

Die leere Verneinung kann sich aber auch in anderer Form einschleichen: in der wirklichen Ideallosigkeit aus Egoismus, oder Mangel an Ehrfurcht, oder Mangel an Temperament, oder Superklugheit. Der Wille, sich keiner Einzelbewegung verpflichten zu wollen, kann auch aus der Not eine Tugend machen und den bloßen Mangel an Begeisterung, ehrlichem Willen und Aufopferung mit einem schönen Kleide einhüllen.

Vielleicht ist aber diese Gefahr nicht so sehr groß wie die andere einer aus dieser Programmlosigkeit hervorgehenden gezwungenen Zurückhaltung und Askese den Ideen und Gütern gegenüber, die des Schweißes der Edeln wert sind. So wie ein leeres Bedürfnis zum bloßen Putsch über Notwendigkeit hieraus revolutionären Lärm schlägt, so kann eine mißtrauische Sorge um die programmatische Freiheit auch da zurückhalten, wo Gefolgschaft und Hingabe das Natürlichere – und Jugendlichere wäre. Nun ist allerdings zu sagen, daß die Erwachsenen an diesem Mißtrauen ihr gut Teil Schuld tragen. Nicht nur durch den »Kampf um die Jugend« – oder richtiger um die Macht über die Jugend (was etwas ganz anderes ist), sondern mehr noch durch die ganze würdelose und übertriebene Art, sich an sie heranzumachen, die, durch den offiziellen Charakter der Jugendpflege begünstigt, Mode geworden ist. Solcher sentimentalen oder klugen Absichtlichkeit muß ein gesund und anständig empfindender junger Mensch Mißtrauen entgegen bringen, und es geschieht diesen betriebsamen Bemühungen recht, wenn sich die Jugend gegen sie versteift und sie abweist.

 

Überhaupt ist die Haltung der Erwachsenen dieser Bewegung gegenüber nicht gerade immer ein Muster von Takt und Weisheit. In den Geleitworten, die allerhand Zeitgenossen der freideutschen Jugend auf den Hohen Meißner mitgegeben haben, blüht neben Ernsthaftem und Gutem wirklich Torheit genug. Manchmal scheint an die Stelle der unmotivierten generellen Verehrung des Alters, die von der Jugend mit Recht skeptisch betrachtet wird, beim Alter eine ebenso unmotivierte, unbegrenzte Verehrung der Jugend getreten zu sein. Als ob jemand schon deshalb alle edlen und verehrungswürdigen Kräfte der Zukunft im Busen trüge, weil er achtzehn Jahre alt ist. Als ob es nicht genau soviel achtzehnjährige Minderwertigkeiten gäbe wie dreißig- oder vierzigjährige!

Man soll zur Jugend von Mensch zu Mensch sprechen, scheint mir, nicht anders wie zu seinesgleichen, einfach und ernsthaft von dem, was einem selbst ernst ist; zu Menschen, von denen man erwartet, daß ihnen etwas ebenso ernst und heilig zu werden vermag. Es ist so eine Koketterie um diesen Begriff »die Jugend« herum entstanden, eine Selbstbespiegelung auf der einen Seite und eine distanzlose, gerührte Gönnerhaftigkeit auf der andern, von der man sich schlechtweg nicht vorstellen kann, daß sie der Jugend zusagt. Das wäre ja überhaupt ein klägliches Segelstreichen, wenn die Erwachsenen (das Wort ist nicht ganz richtig, denn die Jugend, um die es sich hier handelt, ist ja auch eigentlich erwachsen, besser: die Erzieher) nun auf die Übermittlung ihres Kulturwillens an die Jugend verzichten wollten und sich sozusagen auf das Altenteil zurückzögen. Oder wenn sie aus lauter Anpassung an die begründete Programmlosigkeit der Jugend ihrerseits in eine unbegründete Programmlosigkeit verfielen. Es ist zweierlei: die Jugend aus Machtinteresse für etwas gewinnen wollen, oder der Jugend etwas mitteilen und zeigen, was einem Überzeugung ist und an dessen Lebenswert man glaubt. Das erste ist unverantwortlich und zudringlich, das andere ist ein selbstverständlicher Ausdruck der Achtung, die man der Jugend wie jedem anderen Menschen auch zollt. Höher als alle Wünsche, zu werben und zu gewinnen, steht mir die innere Selbständigkeit der Jugend; ich möchte keine Gefolgschaft, die durch persönlichen Einfluß, durch Überredung und Willensübertragung zuwege gebracht ist, bei der irgendeine Unselbständigkeit, irgendein nicht ganz klares Verhältnis zur Sache selbst bei der Jugend mitspielt. Aber diese Sache könnte und wollte ich nicht anders vertreten, als wie ich sie selbst sehe und wie sie mir Gewissensangelegenheit geworden ist. Die Jugend selbst wird, ob sie folgt oder ablehnt, immer am stärksten durch die Erzieher mit dem bestimmten, festen, einheitlichen Kulturwillen beeinflußt, vorausgesetzt, daß diese Erzieher nicht persönlich herrschen wollen, was immer ein illoyaler Mißbrauch geistiger Überlegenheit ist.

 

Ein Charakterzug der freideutschen Jugendbewegung bleibt noch zu erwähnen. Sie ist eine Klassenbewegung. Das gilt fast am stärksten von der Physiognomie des »Anfang«. Stärker als von der akademischen Freischar oder den Gruppen, die ganz bestimmten Lebensreformen, etwa der Abstinenz, sich verschrieben haben und schon dadurch sozial werden. Die Programmlosigkeit umweht etwas von der Luft des Luxus. Dieser Anspruch: wir wollen nichts als jung sein, leben, frei sein, wir wollen keiner vorhandenen Idee, keinem einzelnen Zweck verschrieben sein, ist nur denkbar mit dem zahlenden Vater im Hintergrund. Der junge Volksschullehrer, die junge Kontoristin sind in demselben Alter, in dem die akademische Jugend diese freie Jugendlichkeit proklamiert, darauf angewiesen, sich sachliche Ideale zu bilden, Ideale, die ihnen ihre Arbeit durchleuchten. Sie sind Glieder eines Arbeitssystems und können mit der programmlosen Jugendlichkeit nichts anfangen. Als ich das vor einiger Zeit in einer Diskussion über dieses Thema sagte, wurde von anwesenden Vertretern speziell des »Anfang«-Kreises versichert, daß sie selbst diese Einseitigkeit empfänden und vielleicht einmal Wege finden würden, sie auszugleichen. Vorläufig liegt etwas unbewußt Egoistisches in diesem Pochen auf die Jugend und die sachliche Verantwortungslosigkeit; und zwar um so mehr, je älter der Mensch ist, der auf das Recht seiner Jugend pocht. Bis wohin ist da überhaupt die Grenze zu ziehen? Es ist die Gefahr auch der Jugendgruppen in der Frauenbewegung, daß wir die Kinderstube in Permanenz, den ewigen Backfisch in neuer Erscheinungsform bekommen.

 

Über die jungen Mädchen ist in diesem Zusammenhang noch etwas zu sagen. Sie haben es gut in der freideutschen Jugend, denn die Kameradschaftlichkeit der Geschlechter ist durchgehend ein stärkstes und erstes Postulat. Auch darin liegt etwas Zukunftvolles, und man sollte hoffen dürfen, daß dieser Geist die mannigfachen Gefahren überwindet, die aus ungesunden Sexualsitten und -anschauungen in manchen Teilen des Studententums mit der programmatischen Freiheit verbunden sein können. Andererseits steht die weibliche Jugend innerlich noch etwas anders zu all den Problemen, die ihre Kameraden beschäftigen. Sie ist durchweg in den hier entscheidenden Jahren ein wenig reifer. Sie ist meist nicht so voll Opposition und hat weniger Selbstgefühl. Was insbesondere die Studentin anlangt, so hat sie doch ihren Bildungsweg meist freiwillig gewählt und kann schon darum der Schule nicht so feindselig gegenüberstehen. Selbstverständlich ist es bei einzelnen anders, aber das Normale ist doch für sie die Freude an der selbstgewählten Arbeit in Schule und Universität. Als eine zweite große moderne weibliche Jugendgruppe kommen dann die sozial arbeitenden Mädchen in Betracht – im ganzen sicherlich eine ethische Elite. Ihnen, die, einer weiblichen Anlage folgend, ihren Lebensinhalt oder doch ein wesentliches Stück davon so früh schon aus sich heraus legen, liegt ihr jugendliches Selbst an sich nicht so im Sinn. Im ganzen wird also die weibliche Jugend nicht ganz auf den Ton gestimmt sein, der die Sprache der freiesten deutschen Kameraden kennzeichnet. Hier und da werden sie ein wenig überschrien, und es werden nicht immer die wertvollsten sein, die in protestlerischem Gebaren ihren Mann stehen. Daß sich aber, wenn auch in etwas stilleren und zurückhaltenderen Formen, bewußt und unbewußt auch in der weiblichen Jugend das Ringen um das neue Leben vollzieht, kann jeder sehen, der sie etwas kennt.

 

Die Schule und die Familie sind die beiden Mächte, die sich zu diesem Neuen irgendwie zu stellen haben. Für die Familie ist es schwerer. Der korporative Geist der Jugend entzieht ihr zunächst viel. Es ist eine allgemeine Klage gegen Wandervögel und Jugendklubs, daß sie die Jugend familienfremd machen. Sie ist nicht unberechtigt, und es wäre richtiger, diese Entfremdung nicht noch theoretisch zu verschärfen, wie das hier und da seitens der Führer geschieht. Denn im letzten Grunde ist gerade das, was die Jugend instinktiv sucht: Verstärkung und Verdichtung der menschlich-persönlichen Lebensfülle, etwas, das ohne Heimkultur nicht denkbar ist.

Was die freideutsche Jugend zum gesunden Fortschreiten auf ihrem Weg und zur Überwindung der in ihrer Situation und in manchem anderen liegenden Gefahren braucht, ist Ruhe. Man soll sie erziehlicherseits weder durch sentimentale Befeierung noch durch pedantische Entrüstung in eine wohlgefällige oder märtyrerhafte Selbstbespiegelung hineintreiben. Und vor allem: man soll sich in die Tatsache hineinzufühlen versuchen, daß hier aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich die Keime zu neuen Lebensformen schwellen, die der Zivilisationsleistung des technischen Zeitalters einen neuen Humanismus folgen lassen werden.


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