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Der Wirtschaftsplan 1915

Sommer 1915

Wenn man die Bundesratsverfügung über »den Verkehr mit Brotgetreide und Mehl aus dem Erntejahr 1915« in ihren sicheren bestimmten Sätzen auf sich wirken läßt, so kann man sich kaum noch vorstellen, daß sie die endgültige Kristallisation schwankender Notbehelfsgesetze, das schließliche Ergebnis eines Tastens von Notwendigkeit zu Notwendigkeit sind. Man hat es – als die innere Kriegslage uns zeigte, daß wir volkswirtschaftlich ebenso zu kämpfen hatten wie militärisch – getadelt, daß kein innerer Kriegsplan da war. Gewiß – es wird kein Krieg wieder kommen, ohne uns in anderer Weise wirtschaftlich vorbereitet zu finden. Aber es war vielleicht doch ein Glück, daß diesmal noch keine Mobilmachungsordnung bestand. Denn nun und nimmer hätte man am grünen Tisch, in Erwägungen über bloße Möglichkeiten, gewagt, was nun der Druck der Wirklichkeit und der erhöhte Glaube an die Organisation erzwungen haben. Hätte jemand in der Beschaulichkeit des Friedens uns vorgeschlagen, daß der Staat seinen 70 Millionen Bürgern bis auf das Gramm ihre tägliche Brotration zuteilen sollte, die Einwände und Unmöglichkeitsbeweise wären wie ein Hagelwetter auf ein solches Hirngespinst heruntergeprasselt und hätten es im Handumdrehen in Grund und Boden geschlagen. Viele werden sich noch des Gefühls erinnern, mit dem sie im Spätherbst zum erstenmal diesen Gedanken »Rationierung« aussprechen hörten und sich den Versorgungsapparat vorzustellen versuchten, der den letzten Säugling in Bialla, Kate 23, ebenso sicher erfaßte wie den Metallarbeiter, Berlin N, Wattstraße 64, 2. Hof, IV rechts. Wir alle empfanden es als ein Wagnis, aus dem das eiserne Schicksal, unter dem wir standen, uns mit besonders eindringlichem Ernst anschaute. Wir verstanden, daß man an den verantwortlichen Stellen schwankte, ob dieser in der Weltgeschichte zum erstenmal sich eröffnende Weg von uns beschritten werden sollte. Und wenn wir heute auf die Reihe der Maßnahmen zurückschauen, in denen das System einer nie dagewesenen staatlichen Versorgungswirtschaft vor uns entstand, so überfällt uns wohl noch nachträglich ein Gefühl wie den Reiter der Sage, der ahnungslos über den verschneiten Bodensee geritten war. Es ist geglückt, trotz der Schwankungen und Unsicherheiten, die den Weg kennzeichneten, trotzdem erst gezaudert und kleinere, weniger einschneidende Mittel tastend versucht wurden. Und ohne den theoretischen Willen dazu ist dabei ein Experiment größten Stils geleistet, dessen wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung wir heute noch kaum ganz ermessen, das aber jedenfalls nicht als unwiederholbares Kriegsunikum aus der Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung herausfällt, sondern durchaus in ihre Bahn gehört.

Der Wirtschaftsplan für das Erntejahr 1915 ist vor seiner Festlegung Gegenstand grundsätzlicher Kämpfe der drei beteiligten Wirtschaftsgruppen gewesen: der Landwirte, der Händler, der Städte als Verbrauchervertretungen. Die Landwirte verlangten, daß die Verwaltung der Vorräte ausschließlicher in ihre Hände gelegt werden sollte, die Händler wollten Aufhebung der Staatswirtschaft und Wiedereinsetzung des freien Handels, die Städte wehrten sich gegen beide und wünschten, daß bei der begonnenen staatswirtschaftlichen Regelung geblieben würde.

Der Wirtschaftsplan in seiner endgültigen Gestalt ist – theoretisch angesehen – tatsächlich ein Äußerstes staatssozialistischer Versorgungsregelung. Er verstärkt gegenüber dem bisherigen Zustand sowohl wie den vorhandenen Interessentenwünschen den Staatsfaktor noch ganz außerordentlich. Zunächst an der Zentrale. Denn die neue Reichsgetreidestelle ersetzt die bisherige Reichsgetreidegesellschaft durch eine Behörde im eigentlichsten Sinne des Wortes. Die Geschäftsabteilung, die für Abnahme, Bezahlung, Unterbringung des Brotgetreides, Lieferung an Heer, Kommunen, Betriebe zu sorgen hat, untersteht der Verwaltungsabteilung, die als Behörde ausdrücklich qualifiziert ist und deren Mitglieder teils vom Reichskanzler ernannt werden, teils Bundesratsbevollmächtigte sind. Ihr liegt ob – neben allen statistischen Arbeiten als Voraussetzung – Bestimmung der Mehlmengen auf den Kopf der Zivilbevölkerung einschließlich der Selbstversorger, Bestimmung der Rücklagen, Festsetzung der Mengen Getreide, Mehl und Saatgut, die an die Kommunen und der Mengen, die von ihnen zu liefern sind, Ausmahlungsvorschriften, Freigabe von Hinterkorn zur Verfütterung.

Theoretisch hätte sich als Grundschema der Brotversorgung wohl auch ein Zwangssyndikat der Landwirte mit Staatsbedingungen und unter Staatsaufsicht denken lassen – nach Analogie des Kohlensyndikats –; praktisch kam es, weniger wegen der Zahl der Produzenten, als wegen ihrer unentwickelten wirtschaftlichen Organisation nicht in Frage. Es blieb nur der politische Apparat der Reichsbehörde, der Landeszentralbehörden und der Kommunen. Und damit werden die Besitzer von Getreide im Grunde zu Verwaltungsbeamten eines ihnen anvertrauten öffentlichen Gutes; nach dem Wortlaut dieses Gesetzes zwar erst mit der Trennung des Getreides vom Boden. Aber inhaltlich gehören ja zu diesem Wirtschaftsplan frühere Verordnungen, so vor allem der Bestellungszwang, die schon ein Stück Produktionsregelung darstellen. Mit der Trennung des Getreides vom Boden wird jeder einzelne Akt die Ausführung eines Staatsauftrags, hinter dem der nackte Zwang steht: das Aufbewahren, das Dreschen, die Deputatsverteilung, die Zurückstellung von Saatgut usw. usw. Der Staat kann durch die jeweils zuständige Behörde nicht nur diese Handlungen an sich erzwingen, sondern auch Zeit und Art ihrer Ausführung kontrollieren. Die Behörde kann von sich aus das Dreschen vornehmen lassen, wenn der Besitzer des Getreides nicht in einer vorgeschriebenen Zeit drischt, sie kann jedem Betriebsleiter, der sich in der Befolgung der Pflichten unzuverlässig erweist, die ihm durch diese Verordnung oder die dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen auferlegt sind, das Geschäft einfach schließen und jedem Landwirt, der seine Bestände unzuverlässig verwaltet, das Recht der Selbstversorgung entziehen. Der Bauer ist Ernährungsbeamter geworden, er fährt ein, lagert, drischt, versorgt sein Gesinde im Staatsauftrag.

Der Staat arbeitet durch Vermittlung der Kommunen. Mit einem Schlage sind die ländlichen Kommunen unter genauester Staatsaufsicht Absatzgenossenschaften geworden. Sie können (§ 21) das Getreide, das aus ihrem Bezirk zu liefern ist, auf eigene Rechnung erwerben und an die Reichsgetreidestelle nach deren Geschäftsbedingungen verkaufen. Andrerseits können sie in der Höhe des ihnen zustehenden Anteils an Brotgetreide zugleich »Selbstwirtschafter« sein, d. h. ohne Dazwischentreten höherer Stellen sich aus den im eigenen Bezirk erzeugten Vorräten selbst versorgen. Immer aber als Verantwortliche vor der Landeszentralbehörde, bzw. der Reichsstelle, der sie ihre finanzielle und faktische Leistungsfähigkeit für die Durchführung dieser Aufgabe (Lagerräume usw.) nachweisen und die Befolgung aller Mahl-, Back- und Verteilungsvorschriften zusichern müssen.

Es ist zu früh, die praktischen Folgen dieser Regelung für das künftige Wirtschaftsschicksal des Getreides nach dem Kriege heute ermessen zu wollen. Augenfällig ist eines: durch eine gewaltige verwaltungstechnische Neuerung ist der Kreislauf der Getreideversorgung auf eine vollkommen neue Bahn gelenkt. Wird er nach dem Kriege in das alte Geleise wieder ganz einmünden? Jenes Geleise, an das im § 23 mit dem vagen Hinweis erinnert wird, daß der ansässige Handel »möglichst zu berücksichtigen« sei?

Eines ist wohl sicher, daß die Aufgabe, die jetzt den Gemeinden übertragen ist, vielerorten der Ansatz zu neuen kommunalgenossenschaftlichen Methoden des Getreideaustauschs werden muß, die den Krieg überdauern werden.

Und ein andres, Grundsätzliches scheint auch mit dem großen Werk dieses Wirtschaftsplans hinter dem Schleier der privatkapitalistischen Wirtschaftsmethoden hervorgetreten zu sein: daß der Staat tatsächlich eine Verantwortung für die wirtschaftliche Erhaltung seiner Glieder trägt, und daß er die großen Grundstoffe der Volkserhaltung nur so lange der Privatspekulation überlassen kann, als ihre Beschaffung ohne seine Mitwirkung gesichert ist. Wir sehen, wie die bisherigen Grenzen staatlicher Wirtschaftsleitung ein gewaltiges Stück vorgetragen werden, teils durch praktische Organisationsmöglichkeiten, an die man bisher einfach nicht glaubte – oder die man auch wohl in politischer und seelischer Hinsicht nicht besaß –, teils dadurch, daß der Krieg den Staat unendlich viel dichter zusammengeschlossen und seine Verantwortung grundsätzlich um viele Grade erhöht hat.

Das Gebilde, das sich für den Augenblick aus Zweck und Voraussetzungen der Volksversorgung durch den Staat ergeben hat, ist die Zusammenfassung der Produzenten in ein System, das Risiko und Gewinn – das eigentliche Unternehmertum – dem einzelnen überläßt, ihn aber zugleich für die Leistung seines Produktionszweiges in der staatlichen Gemeinwirtschaft im vollsten Umfange und im strengsten Sinne verantwortlich macht.

In dieser Struktur der deutschen Kriegsgetreideversorgung liegt eine wirtschaftliche Zukunft, die wir heute nur ahnen können.


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