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Herbst 1914
Im Krieg erreicht die Macht und das Verfügungsrecht des Staates über den einzelnen ihren letzten, äußersten, höchstmöglichen Grad. Darüber hinaus, daß der Staat seine Männer ruft, um sie in den Tod zu schicken, läßt sich eine Steigerung nicht denken. Dem Verfügungsrecht über das Leben ist nichts an die Seite zu stellen: es ist die vollkommenste Erhöhung des Rechtes der Gesamtheit über das Recht des einzelnen.
Die Frage, ob der einzelne mit dieser großen Generalenteignung innerlich einverstanden ist, oder ob er sich nur dem Zwang fügt, entscheidet sich im Augenblick der Mobilmachung. Die Art, wie ein Volk den Ruf zu den Waffen begrüßt, wie es die Einsetzung des Staates in seine Macht über Leben und Tod aufnimmt, zeigt den Grad seines inneren Volkseins, der Überwindung des Einzelmenschen durch den Gemeinschaftsmenschen. Die Einmütigkeit und Freudigkeit, mit der unser deutsches Volk sich dem großen Gebot des 1. August unterstellte, gehört zu den gewaltigsten Zeugnissen seiner Geschichte: weil sie zeigte, wie stark in den Einzelseelen die Gesamtseele geworden ist. Wir wissen, daß in dieser alles überwindenden Kraft des staatlichen Gemeinschaftsbewußtseins unser stärkster Rückhalt liegt – daß auf ihr unsere Siegeshoffnung beruht. Im deutschen Volk ist der letzte Mann innerlich bereit, sein Leben dem Staat zu schenken.
Diese große Bereitschaft stellt für jede andere Forderung des Staates an den einzelnen außergewöhnliche Maßstäbe auf. Wenn der Staat die Einsetzung des Lebens verlangt und freudig gewährt bekommt, wenn Millionen Haus und Hof, Werkstatt und Geschäft sich selbst überlassen, um nur Werkzeug und Waffe für Größe und Bestand des Vaterlandes zu sein, erscheint selbstverständlich jede andere Zumutung der Gesamtheit an den einzelnen gerechtfertigt. Um so mehr, wenn Lohn und Erfolg jener höchsten Opfer, die an den Grenzen fallen, gefährdet werden können dadurch, daß etwa die Volkswirtschaft sich nicht widerstandsfähig erweist. Der Staat muß in dem Augenblick, da er den Tod gebietet, das Recht auf alle Opfer des einzelnen haben, die notwendig sind, um dem höchsten den Preis zu sichern. Es würde ein unerträglicher Widerspruch entstehen zwischen Heer und Volk, draußen und drinnen, wenn hier nur das unbedingteste Gebot der Hingabe herrscht und dort Selbstsucht und Profitgier geduldet wird. Daß ein Mann, die Lage ausnutzend, sich bereichert, letzten Endes auf Kosten derer, die draußen für ihn sterben – das erscheint der nationalen Sittlichkeit dieser Zeit als schlechthin unerträglich.
So steht es grundsätzlich und moralisch. Wirtschaftlich und praktisch liegt die Frage nun so, daß alle Maßnahmen, die notwendig werden, um die deutsche Volkswirtschaft gegenüber den außerordentlichen Zuständen widerstandsfähig zu machen, auf eine sehr einfache Grundformel hinauskommen: das Bibelwort »einer trage des andern Last«. Wenn durch den Krieg große Produktionszweige ganz stillgelegt, einige zum Teil gelähmt, andere in ihrem normalen Zustand belassen und manche aufs Höchste angespannt sind, wenn infolgedessen manche Berufsschichten gar nichts verdienen und andere gute Zeit haben – oder wieder innerhalb der Berufe es dem einen gut geht und dem andern nicht, gibt es nichts anderes als Ausgleichsversuche.
Der Verzicht auf alle Sondervorteile – das ist die Forderung, die auch vom praktisch-wirtschaftlichen Standpunkt immer wieder eingeschärft wird: bei der großen Tagung der deutschen Wirtschaftsverbände ebenso wie in den Stadtverordnetenversammlungen oder den Vorstandssitzungen der Kartelle.
Der wirtschaftliche Krieg, sei es, daß die einzelnen, sei es, daß die Interessengruppen ihn führen, bekommt sein Maß durch die große Forderung: Erhaltung des Ganzen. Die Volkswirtschaft konzentriert sich auf die Aufgabe, eine Verteilung der Lasten, ein Gleichgewicht der Bedürfnisbefriedigung herzustellen.
Die Frage ist nun: in welchem Grade ist es möglich, das nationale Not- und Pflichtgebot »einer trage des anderen Last« volkswirtschaftlich zu verwirklichen? Das ist im Grunde eine technische – eine Organisationsfrage. Nach den alten Begründungen der liberalen Wirtschaftsauffassung muß jeder Regelungsversuch des »freien Spiels der Kräfte« vor allem deshalb verhängnisvoll wirken, weil es keine Stelle gibt, von der aus das Wirtschaftsleben übersehbar ist. Diese Begründung war stichhaltig in Zeiten ohne Telegraph, Statistik, Verbände. Sie wird es von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger. 1870 wäre es unmöglich gewesen, Deutschlands Bestände an Rohstoffen oder Vieh festzustellen. Der Staat kannte sozusagen sich selbst und seine Volkswirtschaft noch nicht. Er kannte seine Volkswirtschaft nicht, und er konnte ihre Kräfte nicht an den entscheidenden Stellen erfassen und lenken. Bis 1870 gab es fünf Kartelle, und die Gewerkvereinsentwicklung stand in den Anfängen. Die Statistik und die Organisation, die systematische tatsächliche Gliederung und die systematische Darstellbarkeit schaffen erst die Vorbedingungen, um den vielgliedrigen Koloß der Volkswirtschaft planmäßig einer plötzlich veränderten Lage anzupassen.
Vielleicht ist die glänzendste wirtschaftstechnische Leistung die planmäßig vorbereitete Kriegsorganisation des Kredits, das kunstvolle Gefüge von Reichsbank, Darlehnskassen, Privatbanken, Sparkassen, Kriegskreditbanken, dessen geheimnisvolle Tragfähigkeit nur wenigen Eingeweihten heute durchsichtig ist und das überhaupt nur wenige je verstehen werden. Dieser Bau ist nicht von selbst entstanden. Auch die Banken haben erst eine individualistische Sicherungspolitik getrieben, indem sie Außenstände einzogen und Kredite stornierten. Sie haben im großen dasselbe versucht, was die kleine Hausfrau in den ersten Tagen tat, als sie sich so hoch wie möglich verproviantierte. Erst durch Reichsbank und Behörden ist das feine System der Deckungen entstanden, das den Erfolg der Kriegsanleihe sicherte.
Die Zentralisation der Wirtschaftsleitung vollzog sich in zwei Stufen. Die erste führte vom einzelnen zum Verband oder vom Einzelverband zum Verbandskartell. Auf allen Wirtschaftsgebieten reichte zunächst die Selbstorganisation ein Stück weit. Der Bund der Industriellen und der Zentralverband deutscher Industrieller schlossen sich zusammen, um einen Austausch der Arbeitskräfte zu vermitteln. Der Verband der Tabakfabriken verteilte die großen Militäraufträge auf die einzelnen Fabriken in der Form, daß jeder daran Anteil hatte. Grundbesitzerverbände schlossen sich zusammen zur Schaffung von Darlehns- und Unterstützungskassen. Das sind nur wenige Beispiele der zahlreichen Maßnahmen, von denen uns die Handelsteile der Zeitungen berichten. Wer genug Phantasie hat, dem geben diese Berichte ein großartiges Bild werdender Ordnung, so als wenn man aus der Vogelperspektive zusähe, wie ein Heer seine Stellungen wechselt und das scheinbare Chaos des Übergangs sich gliedert und klärt.
Aber es kommt überall der Punkt, an dem die bloße Verbandsregelung nicht mehr zureicht; wo sie entweder in Staatsregelung übergeleitet werden muß, oder wo der Staat die Verbände nur noch als beratende und ausführende Organe einer Wirtschaftsleitung benutzt, die er selbst übernimmt. Das ist der grundsätzlich ungemein bedeutsame Vorgang, den wir heute allenthalben beobachten. Der Ausgangspunkt für Eingriffe der Staatsleitung ist verschieden. Entweder ist es die notwendige Unvollständigkeit der Verbandsleistung: wenn z. B. der Staat neben und über die Zentralen von Arbeitgeber- und Arbeiterverbänden sein Reichsarbeitsamt und die Reichszentrale der Arbeitsnachweise einsetzt: Staatsorganisation als Ergänzung und Zusammenfassung der Verbandsorganisationen. Ähnlich erscheint etwa die Berliner kommunale Arbeitslosenunterstützung nach Genter System als ein solches Nebeneinander, bei dem die öffentliche Leistung mit der Verbandsleistung organisatorisch verbunden wird. Meist aber ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Mitwirkung da, wo es gilt, die widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen derer, die an einem Produktionsvorgang oder an irgendeinem Zweig der Bedürfnisbefriedigung beteiligt sind, vor ein neutrales Forum zu bringen und – ob mit oder ohne Anwendung von Zwang – auszugleichen. Zwei Beispiele dafür sind die Einigungsämter der Gemeinden für die Miets- und Wohnungsfragen und die Festsetzung der Höchstpreise für Lebensmittel.
In beiden Fällen ging der Staat zunächst von dem Gedanken der Verteidigung der Bevölkerung gegen wirtschaftliche Schäden aus. Die Höchstpreise und die Maßnahmen gegen die Exmission waren einfache Schutzmaßnahmen für den Mieter und Brotesser. Aber wenn sie nur als solche in Angriff genommen wurden, enthüllte sich doch sofort in ihren Rückwirkungen die wirtschaftliche Verkettung. Hinter den betroffenen Bäckern erschienen die Mehlhändler, die Getreidehändler, die Landwirte. Hinter dem Mieter der Haus- und Grundbesitz, die Hypothekenbank und der Hypothekengläubiger. Und der Staat, der eine wirtschaftspolizeiliche Schutzmaßnahme treffen wollte, sieht sich zur systematischen Regelung eines ganzen Produktionszweiges gezwungen. Und diese Notwendigkeiten wachsen.
Was nun über diese Kriegszeit hinaus volkswirtschaftlich lehrreich sein wird, sind einmal die Formen, in denen Selbstregulierung und Staatsleitung miteinander verbunden werden, und dann die Frage, wie weit heute öffentliche Wirtschaftsleitung möglich ist. Das große, erzwungene Experiment der Kriegszeit wird der Volkswirtschaftslehre und noch mehr der Gesetzgebungspraxis unendlichen Stoff zu einer Erfahrung und theoretischer Bearbeitung geben.