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Frühjahr 1915
Die Forderung der »deutschen Mode« kommt aus drei ziemlich verschiedenartigen Wurzeln. Die eine ist die Empfindung für gewisse allgemeinste Mängel der Mode: ihre Anlehnung an einen bestimmten Frauentypus und die Verbildung des Körpers, die sie den Frauen aufzwingt (der »Reform«-Gedanke in seiner weitesten Fassung). Die andere ist das Gefühl der deutschen Frau, daß die Pariser Mode ihr unangemessen ist, und ihr Wunsch, Kleider zu tragen, die mehr Ausdruck deutschen Wesens sind. Die dritte ist der Wunsch der deutschen Modeindustrie, in der Zeit, da Paris wenigstens von einem Teil der Welt abgetrennt ist, etwas zu schaffen, was nicht nur uns im Lande, sondern der Welt Paris zu ersetzen vermag.
Man muß sich klar darüber sein, daß diese ihrem Wesen nach durchaus verschiedenen Gründe das Suchen nach einer deutschen Mode auch in durchaus verschiedene Richtungen lenken, Richtungen, zwischen denen der Ausgleich erst gesucht werden muß und keineswegs leicht zu finden sein wird.
Am leichtesten vereinigen sich noch die beiden ersten Gedanken. Dem »Los-von-Paris«-Bedürfnis der deutschen Frauen hat die Tatsache einen besonderen Aufschwung gegeben, daß die Mode dieses Jahres, des Kriegssommers, skandalös war – ebenso häßlich wie, geradeheraus gesagt: unanständig. Was für Karikaturen von Frauen hat man die abziehenden Soldaten im Sommer umdrängen sehen, Frauen, deren Aussehen (eingezwängte Beine, herausgedrängte Körperformen) ein Hohn war auf die Stimmungen, die sie erfüllten, und an nichts so wenig erinnerte, als an das, was sie in diesem Augenblick waren: die Mütter.
Es ist dieser Eindruck, der alles, was viele schon vorher suchten und vertraten, bestätigte. Die deutschen Frauen hatten sich die Kleidung der kleinen Pariser Straßenmädchen aufreden lassen – ja, sie aus Mangel an genauerem Unterscheidungsvermögen wahlloser angenommen, als die feine Französin selbst. Sie waren maßlos blamiert dadurch, daß sie in diesem Augenblick Kleider trugen, die allem Hohn sprachen, was wir als »deutsch« empfinden; germanische Zurückhaltung: und diese dreisten Trumpfe; deutsche Wahrhaftigkeit: und diese Unechtheit und Verbildung der gesunden Linien; deutscher Arbeitsernst: und diese engen Röcke und Stöckelschuhe!
Weniger einfach als die Verneinung des trotz aller Reformbemühungen zäh beharrenden Zustandes unserer Abhängigkeit von Paris lag nun aber gleich die Frage: was jetzt?
Vestigia terrent! Nach dem Kriege 1870/71 gab es einen maskeradenhaften Versuch zur Wiedereinführung deutscher Trachten. Die heimziehenden Krieger wurden von Frauen in einem neuen »Ehrenkleid der deutschen Jungfrau« empfangen, im Gretchenkostüm und Puffärmeln. Dieses Kostüm – in die damalige modische Formentwicklung, die ganz andere Richtung zeigte, unvermittelt eingestellt – konnte nichts anderes sein als Theater und verschwand spurlos, um den ungeheuerlichen Scheußlichkeiten der achtziger Jahre Platz zu machen. So etwas also können und wollen wir nicht wieder versuchen.
Die Los-von-Paris-Forderung darf sich nicht verirren auf den Weg zu einer deutschen Eigentracht. Das ist – abgesehen von den wirtschaftlichen Interessen der Modeindustrie, von denen noch zu sprechen ist – auch innerlich falsch. Die Lebensformen des Kulturmenschen sind nun einmal europäisch geworden, folgerichtig steckt auch in der Kleidung ein europäisches Element. So überflüssig es ist, daß dieses Gemeinsame der europäischen Form gerade von Paris bestimmt und dem Wesen der germanischen Völker dabei durch Uneuropäisch-Romanisches Gewalt angetan wird, so wenig ist natürlich daran zu denken, daß die deutschen Frauen in der Welt umherlaufen, wie Figuren aus einem historischen Festzug, sei es nun aus der mittelalterlichen oder aus der Königin-Luise-Gruppe, oder aus dem Biedermeier. Eine »deutsche Tracht« ist ein Unding, ein innerer Widerspruch zum Wesen moderner Lebensformen. Erreichbar ist der deutsche Ausdruck für ein Gemeinsam-Europäisches.
Wie ist das zu erreichen?
Eins muß man sich klarmachen: Die Schaffung einer Mode ist eine weltliche, freudige, leichtblütige Angelegenheit. Sie kann nicht im puritanischen Geist, nicht als eine Art von Sittlichkeitsbewegung betrachtet werden. Sie muß zwar mit Handwerksernst und künstlerischer Strenge, aber sie kann nicht ohne ein wenig Fleischeslust und Freude an den Dingen, die Motten und Rost fressen, angegriffen werden. Sie ist eine Sache der Weltkinder. Und allgemein, als Volksleistung angesehen, setzt sie eine auf Eleganz und Glanz bedachte, genußfrohe und schönheitsbedürftige Gesellschaft voraus. Selbst wenn die Mode in gewisser Weise bürgerlicher mehr dem Bedürfnis der arbeitenden Frau angemessen werden muß, so beruht doch aller Schwung der Erfindung und Formreichtum der Ausführung auf der fröhlichen Weltlichkeit, die der Ausdruck eines wirtschaftlich kräftigen, blühenden Volkes ist. Mit der »Einfach- und Geschmacklos«-Gesinnung, die das Kleid als ein notwendiges Übel betrachtet, das so wenig Erfindungsaufwand wie möglich verschlingen darf, läßt sich natürlich keine Mode machen. Wir haben aber noch ziemlich viel puritanische Strenge in der Stellung zur Kleiderfrage bei uns in Deutschland. Sie ist gut, sofern sie die Mittelschichten vor den Entgleisungen schützt, die man überall da sieht, wo mit mäßigen Mitteln das »Mondäne« erstrebt wird, aber sie hält andererseits die Schichten, deren Frauen Takt und Sinn für das Angemessene haben, in einer gewissen unkünstlerischen Enge und Ängstlichkeit fest. Wir müssen ein wenig mehr moralischen Mut zur Eleganz haben, das ist Voraussetzung. Weil nämlich sonst die besten Sachen, statt für die eigentlich gute Gesellschaft, für die Halbwelt und die Extravaganz der Emporkömmlingsschicht gemacht werden. Und damit kommen wir von Paris nicht los.
Worin liegt eigentlich das Wesensfremde der Pariser Mode? Mir scheint: in zweierlei. Dem Frauentypus an sich, den sie ästhetisch herausarbeitet, und der starken Gleichförmigkeit, mit der sie ihren Typus ausprägt. Um vom letzten zu reden: Wem fällt es nicht auf, daß bei der Auffahrt der eleganten Welt im Bois de Boulogne alle Damen zum Verwechseln gleich aus sehen? Bei aller Abwandlung und Mannigfaltigkeit der Farben doch im Typus alle auf den gleichen puppenhaften Ausdruck gebracht, der in den Modebildern dann wiederkehrt. Wir könnten in Deutschland die Frauen nicht annähernd in dem Umfang und Grade auf eine Grundform bringen. Wir haben viel mehr nicht zu verwischende und einzuschnürende Individualität, ihre Bezwingung durch die Mode gelingt nicht annähernd in gleichem Grade. Und das ist wohl ein Fingerzeig. Im germanischen Einzelmenschen ist das Individuelle stärker als im romanischen Gesellschaftsmenschen. Eine deutsche Mode ist eine an sich gelockerte Mode, die mehr Spielraum lassen muß für individuelle Abwandlung, die wohl tut, den Zwang zu vermeiden, durch den in einer Zeit der weiten Ärmel jeder wenig engere schon wie ein Meerwunder wirkt. Nach dieser Richtung: Lockerung des modischen Zwangs, Ermöglichung abweichender Formen neben den modisch normalen, hat die bisherige deutsche Reformbewegung doch schon Gutes erreicht. Sie hat den Frauen ein Stück Freiheit für persönlichen Stil gegeben, dem Takt der einzelnen damit freilich oft mehr zugemutet, als er leisten konnte, aber immerhin das Auge an stärkere Individualisierungen und persönlich kräftigere Noten in der Kleidung gewöhnt. Darin wird man weitergehen können. Die französische Mode ist gewiß in feinen Einzelheiten, Farbenerfindungen, Tönungen, launigen Spielarten ihrer jeweiligen Grundform reicher, als wir es bis jetzt zu sein vermögen, aber sie läßt dem Persönlichen fast keinen Raum; wer sich von der Grundform entfernen will, kann es eigentlich nur in der Richtung kecker Übertreibungen.
Dieser Mangel an Möglichkeiten der Individualisierung in der französischen Mode hängt mit dem anderen Zug zusammen, durch den sie uns innerlich fremd ist: dem Frauentypus, auf den sie zugeschnitten ist. Es ist nicht einmal notwendig, daß sie wie die letzte Tangomode ihre Anregungen geradezu aus der Welt des argentinischen Zuhältertanzes nimmt. Auch sonst betont sie im Wesen ihrer ästhetischen Wirkungen das Sexuelle stärker, als es sich mit dem germanischen Frauentypus verträgt, sowohl gefühlsmäßig wie auch rein körperlich. Die französische Mode ist so eingerichtet, als ob der Mensch ewig jung wäre. Sie hat keine Formen geschaffen für die Matrone, für die sie sich einfach nicht mehr interessiert. Sie verleugnet die Mutter in der Frau, nicht nur jetzt, sondern immer.
Wir suchen also nach etwas, das uns gemäßer ist. Dabei ist schließlich noch eines zu berücksichtigen: das Interesse unseres deutschen Modegewerbes. Überhaupt die wirtschaftliche Seite der Sache. Das deutsche Modegewerbe steht hoch genug, um auch in den feinen Sachen weltmarktfähig zu sein. Eine wirtschaftliche Großmacht darf in solchen Fragen nicht nur an den eigenen Bedarf denken, sondern muß bedacht sein, sich den Weltmarkt zu erschließen. Darum heißt die Aufgabe heute nicht »deutsche Mode«, sondern »deutsche Weltmode«. Und wenn schon aus inneren Gründen alle unweltläufige Eigenbrödelei der »deutschen Tracht« abzulehnen war, so ist sie ebenso unzeitgemäß aus diesen äußeren Rücksichten. Frankreich hat seine Modeherrschaft keineswegs dadurch errungen, daß es eine französische Nationaltracht suchte und sich vor fremden Einflüssen ängstlich zu schützen bestrebt war. Im Gegenteil. Es hat unbekümmert die kostbaren Materialien und die fähigen Kräfte, die guten Formen und die brauchbaren Erfindungen des Auslandes benutzt. Und je unbekümmerter es das tat, um so sicherer verschmolz es diese Elemente zu etwas eigenartig Französischem, das zugleich weltläufig war. Wir sollen auch nicht so ängstlich sein, lernen, wo wir lernen können, verwerten, was wertvoll ist. Nicht dadurch wird unsere deutsche Mode selbständig, daß wir sie aus der Ablehnung des Fremden heraus entwickeln, sondern dadurch, daß wir den schöpferischen Kräften Spielraum gewähren, die freihändig ihre Aufgabe aus dem Bedürfnis heraus angreifen.
Aber indem man das hinschreibt, ist schon etwas anderes gesagt: daß nämlich die deutsche Weltmode keine Sache des Programms und des guten Willms, sondern des Könnens ist. Ob sie möglich ist, kann nicht mit Tinte und Feder, sondern nur mit Proben entschieden werden. Darin lag die Bedeutung der Modeschau, die vom deutschen Werkbund am 27. März in Berlin veranstaltet wurde und an der sich die bekanntesten Berliner Firmen beteiligten. Sie hat die Frage beantwortet: Was leistet die deutsche Kleiderkunst ohne Paris? Hat sie in einer Weise beantwortet, die doch mit einem starken Optimismus für die Zukunft erfüllen kann.
Es hat wohl allen Frauen einiges Widerstreben gekostet, sich in die nötige Stimmung für die rosenumpflanzte Wandelbahn zwischen den beiden lampenschirmartigen Pavillons, auf der sich die Modelle zeigten, hineinzufinden. Ich könnte mir denken, daß sich in Paris bei einer solchen Vorführung das Publikum sehr lebhaft äußert. Die deutschen Zuschauerinnen waren schweigsam und ernsthaft. Es war nicht nur das Ungewohnte einer solchen Vorführung, sondern es war das Bewußtsein, dem auch in der Eröffnungsansprache Hofrat Bruckmann Ausdruck gab, daß es sich nicht um einen Eitelkeitsmarkt, sondern um ein Stück ernsten deutschen Wirtschaftskampfes handelte.
Aber keine hat sich wohl schließlich den Eindrücken entzogen, die zumal von der Fülle und Reichhaltigkeit guter Form und geschmackvoller Erfindung ausgingen.
Gewiß, das war noch kein »Los von Paris« in der Tradition und Art. Die lebendigen Mannequins waren – die besten am meisten – nach Paris geschult. Sie waren geschminkt und frisiert wie die Damen aus dem Bois und trugen Schuhe, in denen sie selbst auf dieser sanften Wandelbahn auch nicht einen sicheren Schritt machen konnten. Aber es gab genug, um über die Ironie dieses kippelnden Schuhwerks hinwegzukommen. Durchgehend vorzüglich war zunächst das Technische. Es »saß« alles hervorragend, was bei den zahlreichen gewagten Dingen, den über die Hüften gelegten Gürteln z. B. selbst bei so schlanken Modellen keine einfache Sache war. An Exaktheit und handwerklicher Qualität der Ausführung steht das deutsche Kleidergewerbe sicher seinen Pariser Meistern nicht nach.
Die Erfindung. Überraschend war ihre Reichhaltigkeit. Wir sind ohne die Pariser Anregung in keiner Weise »auf dem Trocknen«. Im Gegenteil – man hatte den Eindruck, als wenn die Erfindung sich künstlerisch freier und mutiger bewegen könnte, ohne den alten Zwang. Man konnte auch bestätigt sehen, daß eine deutsche Mode mehr Spielraum der Formen haben wird. Es waren z. B. bei den Gesellschaftskleidern zwei durchaus verschiedene Typen nebeneinander: das lose und schlank fließende Schleppkleid und das fußfreie mit dem glockenförmig abstehenden Rock. (Beide zusammen sind freilich in demselben gesellschaftlichen Kreis kaum denkbar, ohne einander zu stören.) In ähnlicher Reichhaltigkeit der Typen war das Straßenkleid da. Das gab eine gewisse Unsicherheit, die sich auch in manchen verfehlten Erfindungen zeigte. Auch in den Farben. Ein häßliches Ziegelrot, das keine Dame auf der Straße tragen wird, kam verschiedentlich vor. Und dann gewalttätig karierte Sachen. Aber das blieben Einzelheiten. Das Ganze war ausgesprochen fähig und tüchtig, durchaus weltläufig und elegant. Die Hüte sind noch nie so hübsch gewesen. Und fast jede der ausstellenden Firmen hatte einige Muster, die über die Mode ins Künstlerische hineinreichten und eine vollkommene Lösung der Aufgabe zeigten.
Ein Fingerzeig aber für den weiteren Weg schien dieses: daß kein Kleid von den zuschauenden Frauen mit so erkennbarem Beifall aufgenommen wurde, wie ein ganz einfaches, ernstes schwarzes Samtkleid nach merowingischem Schnitt mit dem einzigen Schmuck von zwei schmalen Schmelzperlengürteln über den Hüften.
Immer, wenn über die Deutsche Mode gesprochen wird, fällt es einem auf, wie wenig klar die verschiedenen bei Entstehung und Ausführung in Betracht kommenden Mächte vorgestellt und in ihren besonderen Möglichkeiten und Interessen erfaßt werden. Die Erörterung ist noch viel zu allgemein und zu wenig systematisch. Sie greift hierhin und dahin, und geht sie mündlich vor sich, so redet man aneinander vorbei.
Die Sache wird aber überhaupt erst klar, wenn man sich diese Mächte im einzelnen ansieht.
Erstens: auf der Produktionsseite.
Sehen wir ab von den Industrien, die das Material zum Kleide erst schaffen, und berücksichtigen wir nur die Entstehung der Kleidung aus dem Stoff, so sind da vier Gruppen. Nämlich:
das Modehaus mit seinen höchsten Formen feiner Maßschneiderei;
die Konfektion, die Massenware herstellt;
die Schneiderin, die für eigene Kundschaft arbeitet;
die selbstschneidernde Hausfrau oder Haustochter.
Jede dieser vier Gruppen steht unter anderen Bedingungen und hat andere Interessen. Jeder entspricht eine gewisse Schicht auf der Seite der Kunden. Auch hier ist Klarheit gut.
Das Modehaus arbeitet für eine schmale Schicht der höchsten Einkommenstufe. Sie hat sich verbreitert, und ihr muß die größere der Frauen zugerechnet werden, die sich dann und wann einmal, für besondere Gelegenheiten, ein Kleid im Modehaus bestellen, ohne daß ihnen ihre Mittel erlauben, seine ständigen Kunden zu sein.
Den Kleidungsbedarf der anderen Frauen decken Konfektion und Hausschneiderin gemeinsam. Und zwar in wachsendem Maße die Konfektion, in abnehmendem die Schneiderin. Die Zahl der Alleinbetriebe im Bekleidungsgewerbe ist seit 1882 von 436 000 auf 343 000 gesunken, fast um 100 000 bei gewaltig steigender Bevölkerungsziffer. Diese Ziffer (in der allerdings die männlichen Betriebe mitenthalten sind) erklärt sich (im wesentlichen!) daraus, daß die einzelne Schneiderin von der Konfektion abgelöst wird. Die Bluse behauptet seit zwanzig Jahren ihren Platz hauptsächlich als die für Konfektionsherstellung geeignete Kleidform, die der individuellen Körperform nicht zu genau angepaßt zu sein braucht, um doch zu sitzen. Überhaupt hat die Rücksicht auf die Herstellungsweise der Konfektion die Mode der letzten Jahrzehnte ohne Zweifel in stärkstem Maße beeinflußt. Man mußte Kleidformen haben, die, ohne nach Maß gearbeitet zu sein, nicht allzu schwer passen. Der Anteil der Konfektion einerseits, der einzelnen Schneiderin anderseits an der Bekleidung gestaltet sich wohl so, daß in der Großstadt das fertig gekaufte Kleid, in der Kleinstadt das von der Schneiderin angefertigte häufiger ist. Unter sozialen Gesichtspunkten gesehen, wird im ganzen vermutlich die Frau des Mittelstandes noch mehr bei der Schneiderin arbeiten lassen, während die Arbeiterin fertig von der Konfektion kauft.
Die Frau, die selbst schneidert – d. h. sich nicht nur gelegentlich eine Bluse, sondern wirklich Kleider macht, muß seltener werden in dem Maße, als die berufslose Haustochter seltener wird. Denn die häusliche Eigenschneiderei war mehr eine Sache erwachsener Töchter als der Mutter, die vielleicht noch für ihre kleinen Kinder selbst nähte, aber später doch nicht mehr die Zeit dazu fand. Auf alle Fälle handelte es sich aber wohl stets nur um Ergänzung des gekauften und bestellten Kleiderbesitzes durch ein paar selbstgefertigte Stücke, selten um das Ganze. Die soziale Schicht, in der die selbst schneidernde Frau am häufigsten ist, wird der Mittelstand sein bis in kleinbürgerliche Verhältnisse hinunter.
Man muß sich diese verschiedenen Stufen des Bekleidungsgewerbes und die Schichtung ihrer Kunden deutlich vorstellen, um die Modefrage klar zu sehen, und vor allem ihre volkswirtschaftlich-sozialen Grundlagen zu erfassen.
Das Modehaus beruht sozusagen auf dem Prinzip der finanziellen Schrankenlosigkeit. Es will und soll seine Leistungen möglichst weit ins Unerschwingliche entrücken, damit sie das Privilegium der Erlesenen bleiben. Das Geld spielt keine Rolle. Oder vielmehr: es spielt die umgekehrte Rolle; die Kleider sollen viel Geld kosten, denn sie sollen als Ausdruck wirtschaftlicher Macht und zur Betonung der letzten großen, sozialen Unterschiede dienen. Das Modehaus ist also im Geldspielraum höchstens nach unten hin beschränkt, nach oben hin kaum.
Darum ist es interessiert an raschem Modewechsel. Es ist sicher, daß seine Kunden jede Beschleunigung des Tempos mitmachen, ohne die Kosten des rascheren Wechsels durch verminderte Qualität ausgleichen zu müssen. Jede Steigerung der Veränderungsansprüche kann ihm nur lieb sein; die Damen, die dort kaufen, werden darum nicht billigere Kleider tragen.
Ganz anders ist es bei der Schneiderin, die als Handwerkerin für ihre Kunden arbeitet. Als kürzlich der Reichsverband der Schneiderinnen sich mit der Frage der Deutschen Mode befaßte, traten auch die Handwerkerinnen für den schnellen Wechsel ein, weil sie meinten, daß darin für sie die Aussichten auf viel Arbeit und guten Verdienst lägen. Nur die Rücksicht auf die Mode, so meinen sie, veranlasse ihre Kundinnen, sich jährlich ein neues Kleid zu bestellen, sonst würden sie zwei Jahre das gleiche tragen.
Diese Argumentation, so einleuchtend sie scheint, wird doch nicht Stich halten. In den Schichten, um die es sich hier handelt, muß der raschere Modewechsel auf Kosten der Qualität gehen. Man kann bei begrenzten Mitteln nur in einem auf der Höhe bleiben: entweder im Wechsel oder in der Qualität. Will man mehr Kleider haben, so muß das einzelne billiger werden. Darum wird der raschere Modewechsel der Schneiderin – als Handwerkerin – letzten Endes nicht vorwärts helfen. Wenn die Frau des Beamten oder des Offiziers gezwungen ist, noch öfter etwas Neues zu tragen, so wird sie sich mehr an die Massenartikel der Konfektion halten, oder sie muß Schneiderinnen suchen, die billig arbeiten. Der Schneiderin ist besser geholfen, wenn wenige gute Arbeit verlangt und bezahlt wird, als wenn viele Bestellungen auf billige Sachen gemacht werden. Wo Qualität und Wechsel sich gegenseitig begrenzen – und das ist ohne Zweifel bei all den Frauen der Fall, die bei der Schneiderin arbeiten lassen – sollte Qualität vor Wechsel gehen.
In dieser Gefährdung der Qualität liegt die große Gefahr des raschen Wechsels sowohl vom Gediegenheits- wie vom Schönheitsstandpunkt. Gewiß, es ist im Wesen der modernen Lebensformen und des dementsprechenden Lebensgefühls begründet, daß wir den äußeren Menschen öfter wechseln, kurzlebige Stoffe tragen und auch den Stil rascher verändern. Es braucht kein moralischer Niedergang zu sein, daß wir den Begriff »des« seidenen Kleides nicht mehr kennen, das unsere Urgroßmutter in einem heiligen und geschonten Exemplar für die Höhepunkte ihres Lebens besaß; daß wir überhaupt auf die lebenslängliche Haltbarkeit der Stoffe nicht mehr so viel Gewicht legen, wie unsere sorgsamen Altvordern. Und doch gibt es auch heute noch einen Soliditätsbegriff, den zu übergehen Mangel an Kultur und Selbstachtung ist. Theoretisch läßt er sich nicht feststellen. Aber je feiner das Angemessenheitsempfinden, um so deutlicher lehnt es sich auf gegen minderwertiges Material, unordentliche Arbeit und alles, was unter den Begriff »Ramsch« fällt. Vom Schönheitsstandpunkt ist zu sagen, daß zweifellos der rasche Wechsel das Übertriebene, ordinär Aufdringliche stark fördert. Die Ursache wird wieder zur Wirkung. Der rasche Wechsel fördert die Extravaganz, und diese mehr auf das Reizbedürfnis als auf das Schönheitsempfinden eingestellten Formen überleben sich rasch. Das Auge wird ihrer überdrüssig und verlangt nach neuem.
Noch in anderer Beziehung ist der rasche Wechsel eine Beeinträchtigung ästhetischer Werte. Wenn die Frau mit beschränktem Kleiderbudget oft neue Kleider wegen des raschen Modewechsels haben muß, kann sie um so weniger einem anderen Anspruch genügen: der Angemessenheit der Kleidung an die Gelegenheit, da sie getragen wird. Wenn die Mode weniger oft das neue Kleid verlangte, könnte auch die weniger wohlhabende Frau gleichzeitig mehr verschiedene Kleider für verschiedene Zwecke haben und damit einer viel berechtigteren Schönheitsforderung entsprechen als der des Modewechsels. Bei beschränkten Mitteln führt die Sklaverei dem Modewechsel gegenüber zu den »Mädchen-für-alles-Kleidern«, die zugleich für Theater und Sonntagnachmittagsausflüge, für Eisenbahnfahrten und Besuche herhalten müssen. Das ist, ästhetisch angesehen, ein viel unerfreulicherer Behelf als das Tragen eines »unmodernen« Kleides, und doch ist es das weit häufigere. Die Mehrzahl der Frauen fühlt sich viel unglücklicher, wenn sie hinter der Forderung der Mode, als wenn sie hinter der der Angemessenheit ihrer Kleidung zurückbleibt.
Die Erziehung des Stilgefühls, das diese Anpassung der Kleidung an Milieu und Gelegenheit empfindet, ist entschieden durch die Tatsache gefährdet, daß es das Modehaus und sein Kundenkreis ist, von denen allein die Mode für alle Schichten geschaffen wird. Eine Kultur der Kleidung ist nicht denkbar, solange die gesamte Frauenwelt nur irgendwie das Bild der »Mondäne« reproduzieren will, mit geringerem Material und nachlässiger Arbeit. Die Kleiderordnungen hatten ihren guten ästhetischen Sinn. Die weit überwiegende Zahl der Häßlichkeiten, die uns begegnen, geht auf das Konto der stillosen Nachahmung von Formen und Ausschmückungen, die auf kostbares Material berechnet sind und nun in ordinärem ausgeführt werden. Das Aussehen der Frauen ist durch nichts so gestempelt als durch diese Sklaverei vor dem Unerschwinglichen und dem mangelnden Mut zur Einfachheit und Selbstbescheidung.
Die Konfektion kommt dieser Schwäche in weitestem Maße entgegen, ja sie dient ihr auf die methodischste und erfindungsreichste Art. Ihre Technik ist geradezu darauf angelegt, auf erreichbar billigste Art den erreichbar höchsten Grad von Eleganz vorzutäuschen. Das 30- M-Kleid nach einem Modell, das entweder sehr gute Arbeit oder sehr kostbare Stoffe erfordert, ist für sie typisch. Aber in dieser ihrer ästhetisch bedenklichsten Richtung liegen zugleich ihre größten Erfolge.
In dem Zwang der »großen Mode« gehen auch die Möglichkeiten der selbst schneidernden Frau mehr und mehr unter. Die Kleider sind in Form und Schnitt nicht einfach genug, um von der fachlich ungeschulten Frau in zureichender Vollkommenheit hergestellt werden zu können. Wollte man, wie das manche Reformer der Frauenkleidung Vorschlägen und wie es sicher die Kultur der Frauenkleidung in den Mittelschichten in mancher Hinsicht fördern würde, wieder in stärkerem Maße zur Selbstanfertigung der Kleidung kommen, so könnte das nur auf der Grundlage anderer, einfacherer Kleidformen geschehen, die sich nicht dilettantischer Herstellung in dem Maße versagen wie die Künstlichkeit der Modeformen. Nichts kläglicher als die von Liebhaberhand gefertigte »Taille« (ein gräßliches Wort!), deren kunstvoll anschließender Schnitt die Beherrschung von Schneidergeheimnissen fordert, die dem Laien, selbst dem geschickten, undurchdringlich sind. Andererseits hat die künstlerisch gebildete und geschickte Frau doch außerhalb der Mode, in der Freiheit, die ihr die verpönte Reformkleidbewegung schenkte, manches selbst entworfene und selbstgenähte Kleid getragen, das zweifellos viel stilvoller und schöner war, als die von Kräften dritten Ranges imitierten Leistungen der »großen Mode«.
Aus dem allen ergibt sich folgende Grundtatsache für die Betrachtung aller Modefragen: Solange die Mode nur für die oberste Oberschicht gemacht wird und alle anderen darauf angewiesen sind, das nicht für ihre Mittel und Bedürfnisse Gedachte nachzuahmen, wird die Stillosigkeit eine chronische Krankheit der Frauenkleidung sein. Die Erscheinungen dieser Krankheit sind natürlich um so zahlreicher und schärfer, je ferner die »große Mode« nun noch dazu deutschem Wesen an sich steht. Wenn es der großen Weltdame noch gelingt, sich mit allen kostbaren Künsten der Schönheitspflege nach Pariser Muster einigermaßen zu stilisieren, so muß dieser an sich unwürdige Versuch um so mehr mißglücken, je geringer der Aufwand und je hilfloser die Mittel sind, mit denen er ins Werk gesetzt wird. Die Schwierigkeit der Modefrage liegt also auf zwei ganz verschiedenen Gebieten: dem nationalen und dem sozialen. Und damit hängt es zusammen, daß das wirtschaftliche Interesse der Modeindustrie und das kulturelle der angemessenen Frauenkleidung einander scharf durchkreuzen.
Das deutsche Modenhaus nimmt auch den Kampf gegen die französische Mode auf. Aber dieser Kampf will die sozialen Kalamitäten der Mode unangetastet lassen. Das deutsche Modehaus möchte – mit Recht! – neben Paris treten. Es möchte zunächst den Inlandmarkt unbestritten behaupten, dann aber auch an der Weltmode mitarbeiten, um dem Weltmarkt gegenüber ein eigenes Zentrum zu bilden. Es möchte die Einkäufer und Modezeichner des Auslandes auch anziehen können, und die vom Werkbund veranstaltete Modeschau zeigte, daß die Vorbedingungen dazu vorhanden sind. Aber eben deshalb wird die von hier ausgehende Initiative zur Deutschen Mode das in der Mode steckende soziale Problem nicht berühren. Das Modenhaus wird seine Deutsche Mode für die oberen Zehntausend schaffen, wie die französische für diese Schichten geschaffen wird. Diese Deutsche Mode wird ebenso wie die französische auf die Luxusfrau zugeschnitten sein, und da unter diesen Begriff neben der legitimen Gesellschaftsdame auch die illegitime fällt, so wird wahrscheinlich auch in die deutsche »große Mode« ein Element hineinfließen, das wir gerade jetzt ihr nehmen möchten, das aber – alle Verhältnisse realistisch angesehen – unvertretbar sein wird. Ein Element von verantwortungslosem Luxus, von offener und diskreterer Sexualität wird unvermeidlich der großen Mode dieser Herkunft anhaften. Das Mitschwingen dieses Elementes hat manche Frauen, die der Modeschau des Werkbundes zusahen, abgestoßen oder doch befremdet. Es ist in der großen Mode unvermeidbar, auch wenn es aus deutschem Boden nicht so stark hervorzutreten braucht und nicht so sehr hervortreten wird wie auf französischem. Auch die Modelle der Deutschen Modeschau waren »kokett«. Aber – um die Interessen der großen Modeindustrie, der deutschen Weltmode zu fördern, kann dieser bedeutsame Zug der Mode-Konsumenten nicht außer acht gelassen werden.
Was also allen denen unter »Modereform« vorschwebt, die dieses Element zu vertreiben gedenken, wird durch die Schaffung eines Deutschen Weltmode-Zentrums an sich nicht erreicht. Viel stärker als das nationale ist das soziale Problem der Mode. Es ist aber ein ganz andersartiges, ein Problem, das unter der Herrschaft der französischen Mode etwas schwerer wiegt, aber mit ihrer Beseitigung an sich noch nicht gelöst ist.
Es könnte aber die Befreiung von der französischen Mode ein starker Anlaß sein, um auch in der Lösung des anderen Problems weiterzukommen. Ein Wort über die Wichtigkeit der beiden Fragen: die Frage, ob die oberen Zehntausend sich nach Paris oder nach Berlin kleiden, ist selbstverständlich bedeutungsvoll. Sie bestimmen die Art, wie die qualifiziertesten Kräfte arbeiten müssen. Ihre Kleidung bestimmt die deutsche Physiognomie dem Ausland gegenüber. Sie verfügen über die Möglichkeit reichsten und technisch verfeinertsten Ausdruckes für die Kultur der Kleidung.
Aber kulturell bedeutet die Kleidung der breiten Frauenschichten natürlich mehr. Man sagt nicht zu viel, wenn man in dieser Abhängigkeit der Minderbemittelten von der großen Mode den stärksten Krebsschaden der Frauenkultur sieht. Aber man muß hinzufügen, daß es ganz außerordentlich schwer ist, diesem Schaden beizukommen. Die Ansätze zu einer Reform in dieser Hinsicht stehen heute eher vor der Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten als vor der Aussicht auf Erfüllung. Und doch muß an sie heute mit Entschiedenheit erinnert werden.
Vom Schneider-Fachstandpunkt aus werden die »Eigenkleider« mit Mitleid und Geringschätzung angesehen, und die starken weltwirtschaftlichen Interessen, die im Augenblick die Bemühungen um die Deutsche Mode treiben, drängen diese Ansätze naturgemäß zurück. Vom kulturellen Standpunkt aber sind sie die wichtigeren.
Wie steht es denn mit diesen Ansätzen? Ganz abgesehen von allen Fehlschlägen und Mißgeschicken in der Ausführung ist doch eines festzustellen. Diese Kleidungsreform stammt aus Kreisen unserer höchsten geistigen Bildung. Aus solchen Kreisen, die Kultur und Besitz als zweierlei zu empfinden vermochten und gegenüber dem kapitalistischen Zwang, der alle äußere Kultur in eine Geldfrage verwandelt, das Bedürfnis und den Mut haben, die äußere Form ihres Lebens selbständig und frei zu gestalten: in Geselligkeit, Hausrat – und Kleidung. Wir erinnern uns an Häuslichkeiten geistigen Gepräges, in denen die Freiheit der Kultur von der Konvention (auch die Mode ist eine Konvention!) zu eigenem Stil geführt hat. Die Zahl dieser Häuslichkeiten ist klein. Aber man kann sagen: nur in dem Maße, als sie zunimmt, wachsen die Möglichkeiten einer Kultur der Frauenkleidung.
Es gibt zwei Wege, auf denen sich diese Lockerung des Modezwangs vollzogen hat und weiter vollziehen wird. Der eine geht von der Mode selbst aus. Der andere von ihrer grundsätzlichen Ablehnung. Die Mode selbst bietet, ohne daß man grundsätzlich aus ihrem Rahmen heraustritt, der klugen und innerlich unabhängigen Frau die Möglichkeit individueller Anwendung. Indem sie diese Möglichkeit in gesteigerter Form anwendet, kommt sie ohne grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Mode zu der Freiheit eines persönlichen Stils. Sie muß nur ihr höchstes Ziel nicht in die Verwirklichung des Begriffes »chic« setzen, der den letzten Vollkommenheitsgrad des modischen Ausdrucks, aber keineswegs der Schönheit und Kultur der Frauenkleidung bezeichnet. Vielmehr wird es die eigentlich entscheidende Frage sein, ob man in der Kleidung etwas über das Kennzeichen »chic« Hinausliegendes sucht. Wer an ihm haften bleibt, bleibt damit außerhalb der eigentlichen Kulturforderungen der Kleidung. »Chic« ist das Probierfräulein; aber die gebildete Frau stellt höhere Ansprüche an ihr Aussehen, als daß sie dem Modebild möglichst nahe komme. Und in diesem »Mehr« liegt die persönliche Kultur der Kleidung. Aber sie ist, wie gesagt, durchaus erreichbar, ohne grundsätzliche Befreiung von der Mode, als ein Hinauswachsen über sie, das weniger programmatisch und revolutionär als ein Überwinden von innen heraus ist. Man kann vielleicht noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß auf diesem Wege die Erfolge gesicherter und die Entgleisungen weniger wahrscheinlich sind. Andererseits reicht er wohl nicht aus, um den Zwang der Mode gründlich zu brechen. Dazu brauchen wir die Bewegung, die unter den verschiedenen Namen der »Kleiderreform« oder der »künstlerischen Frauenkleidung« auch einen programmatischen Ausdruck gefunden hat. Sie versucht die Kleidung vorurteilslos und ohne Befangenheit in der Modeüberlieferung nach gewissen Grunderfordernissen: gesund, dem Körper angepaßt usw., zu messen. Wenn ich sage messen, so bezeichne ich damit die Grenze des Programmatischen in der Kleidgestaltung. Denn aus diesen bloßen Idealen läßt sich das Kleid nicht konstruieren. Die letzte Frage des Gelingens ist eine künstlerische, d. h. eine Frage des irrationalen Könnens. Und eine gesellschaftliche: nämlich die Frage, ob die neuen Ansprüche an die Kleidung in einer neuen Kultur des häuslichen und geselligen Lebens wirklich verwurzelt sind. Der neuen Kleidung kann die Zeitschrift, der Vortrag, ja selbst das Bild und der Schnitt nur Wegweiser sein, aber nicht Schöpfer und Lebenspender. Sie wird aus einem geistigen Milieu, nicht aus einem Programm entstehen. Und die letzte Frage ist, ob sie dieses Milieu findet.
Es ist, wie gesagt, gegenwärtig noch klein. Seine Verbreiterung ist eine große kulturelle Angelegenheit. In ihrer sozialen Bedeutung ausgedrückt, heißt sie: werden wir eine selbstbewußte, freie, von Snobismus unabhängige Mittelstandskultur bekommen, die alle guten Dinge: Schönheit, Geist, Persönlichkeit, verwirklicht und zur Geltung bringt ohne die Grundlage eines Einkommens von 20 000 M aufwärts?
Wenn dies gelänge (wie es unsere Vorfahren in klassischer Zeit verstanden haben), wenn Beamte, die oft mit ungeheuren Anspannungen des Geldes und der Nerven den Stil des Kapitalismus mitzumachen beflissen sind, den Mut zu ihrem eigenen Stil wiedergewännen, wenn sie damit dem neuen Mittelstand der Privatangestellten ein gutes Vorbild der Selbstachtung gäben, so waren erst die Vorbedingungen einer sozialen Gesundung der Mode gegeben. Vielleicht aber wird diese Zeit in mancher Hinsicht dazu ein Anstoß.