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Sommer 1915
Das Buch von Max Scheler »Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg« (Verlag der Weißen Bücher, Leipzig) wird im Ausland etwa in derselben Weise mißverstanden werden wie Nietzsche. Vielleicht sogar noch mehr, weil seine Paradoxie noch undurchsichtiger ist und weil seine innersten Voraussetzungen dem Verständnis unserer neutralen und kriegführenden Gegner noch ferner liegen. Schutz gegen diese Art der Ausbeutung bietet ihm allerdings die ungewöhnliche Schwierigkeit seines Stils; was freilich nicht hindert, daß einzelne Sätze – aus dem Zusammenhange herausgerissen – auf die Pharisäer jenseits unserer Grenzen als Ungeheuerlichkeiten wirken und sie im Glauben an die deutsche Kriegsbegier bestärken werden.
Man denkt jetzt unwillkürlich so taktisch, daß sich einem jedes Wort als eine die Gemüter bewegende Macht, als Waffe darstellt, zum Nützlichen oder Schädlichen. Und doch muß dieser Gedanke im Hintergrunde bleiben bei Zeugnissen der Zeit, denen ein Stück innerer Notwendigkeit anhaftet.
Das aber darf von diesem Buch gesagt werden, und zwar sowohl von seinem ersten Teil, der eine Philosophie des Krieges enthält, wie von dem zweiten, der von dem Wesen und den Zielen dieses Krieges handelt. Es hat innere Notwendigkeit, ohne allerdings ein warmes und hinreißendes Buch zu sein. Seine Eigentümlichkeit besteht darin, daß es von einfachen, elementaren, heißen Dingen, von Heldentum, Heimat und Liebe, auf eine intellektualistisch umständliche Art Zeugnis ablegt und Tiefgefühltes mit viel Geist, aber ohne Unmittelbarkeit ausspricht. Eine Philosophie des Gemüts und der Leidenschaft im faltenreichen Gewande eines vielwissenden, ungeheuer beziehungsreichen Intellekts.
Mit steigender Deutlichkeit hat sich vor dem Kriege eine neue Entwicklung deutscher Geistesentwicklung als die obsiegende und entscheidende markiert: ein Idealismus, dessen Zentralbegriffe nicht wie die des Idealismus von 1800 Vernunft, Humanität, Gesetz, sondern Leben, Liebe, Kraft sind. In diese Linie gehört Scheler hinein.
Dieser Idealismus empfindet sich selbst als in besonderem Sinne »deutsch«. Denn er entstand neben dem Naturalismus der französischenglischen Philosophie als sein Gegensatz und seine Überwindung – ein bewußt Größers, Freieres, Geistigeres. Er entstand, als der Glaube und das mutige Bekenntnis, daß nicht der Verstand, der das Leben in eine Kette von Ursache und Wirkung zerlegt, seine tiefsten Antriebe entdeckt, sondern daß diese Antriebe im Gemüt leben, mechanistischer Betrachtungsweise ewig entzogen. Der Glaube besitzt höhere Wahrheit als das Wissen, denn er ist das Bewußtsein quellender Kraft, die Unberechenbares schafft und gestaltet. In Religion, Philosophie und Kunst ist vollere Weisheit als in den Erfahrungswissenschaften, denn alle drei sind Gebilde und Formungen aus der Mitte des Lebens selbst, nicht Erkenntnisse auf der Oberfläche seiner Erscheinungen und ihrer sachlichen Zusammenhänge.
Dieser neue Idealismus ist in mannigfachen Formen hier und da hervorgetreten, an Namen aus verschiedensten geistigen Kreisen geknüpft: Stefan George – obgleich er den Namen »Idealismus« ablehnen würde – gehört ebenso hierher wie Rickert oder Dilthey und ihre Schüler. Er hat seinen romanischen Vertreter in Bergson, dessen Intuition aber die Zucht der Formung fehlt. In seiner einheitlichen Richtung greifbarer noch als bei diesen ausgeprägten Einzelerscheinungen, erfüllt dieser Idealismus die Jugend. Sie kehrt sich in ihren jüngsten Scharen immer entschiedener ab von dem Zweckmechanismus der Zivilisation, von den Zielen einer kaufmännisch-industriellen, praktisch-klugen Beherrschung der Welt durch Naturwissenschaft und Technik – sofern diesem Ziel als dem Ein und Alles das Höhere geopfert werden soll. Sie drängt zurück zu klarerem Bewußtsein der inneren Lebensmächte als der entscheidenden – der Mächte, die jenseits aller »Nützlichkeit« Wert und Unwert des Daseins unmittelbar bestimmen.
Aus solcher Betrachtungsweise heraus sucht Scheler eine Stellungnahme zum Krieg. Der Krieg ist nicht – biologisch-positivistisch – Kampf ums Dasein, sondern Kampf um ein Höheres als das bloße Dasein: um die Macht. Macht ist der Lebenswille der geistig-vitalen unteilbaren Einheit der Nation. Aller rationalen Betrachtung unfaßbar, daher auch von ihr nie verstanden (Kant!), ist das Wesen des Staates als einer Willenspersönlichkeit, eines Lebendig-Einen, das den einzelnen Bürger nicht nur umschließt wie ein Rahmen, sondern durchdringt, verwandelt, einsaugt. Der trockene biologisch-positivistische Sinn Spencers meint, daß die Gesellschaft keine Seele habe wie der einzelne. Das ist kurzsichtig naturwissenschaftlich gedacht. Über alle Zweifel hinaus und der Nachweisbarkeit nicht mehr bedürftig, hat das Erlebnis dieses Krieges uns diese Gesamtseele offenbart, in der unser Einzeldasein lebt und webt. Und dies Erlebnis hilft uns allen noch besser und inniger verstehen, daß der Staat nicht eine Summe mehr oder weniger geschickt verzahnter Einzelexistenzen, sondern daß er eine Gemeinschaft ist, in der das Leben dieser einzelnen ein neues, allen gleichermaßen zugehöriges Dasein aus sich herausgetrieben hat, das sich nun wiederum dem einzelnen mitteilt. In dieser tieferen und vollständigeren Erfassung der lebendigen Einheit und alleinen Lebendigkeit des Staates beruht die Überzeugung Schelers, daß alle Kultur an der Freiheit, Kraft, Gesundheit und Entfaltungsmöglichkeit des Staates haftet. Jede Kulturschöpfung geht letztlich hervor aus einer feurigen, opfervollen und streitbaren (nicht streit»süchtigen«!) Staatsgesinnung. Mögen auch ihre äußeren Erscheinungen in Dichtung, Gedankensystem oder bildender Kunst in der Ruhe des Friedens reifen, die Konzeptionen dieser Werke liegen in einem »kriegerischen« Zustand des Geistes, das heißt in einem zu Entfaltung und Widerstand gestimmten Gesamtwillen.
Ist das richtig?
Es scheint, daß die Geschichte Beweise des Gegenteils gibt, die man arg verbiegen muß, damit sie Zeugnisse dieser Auffassung werden. Goethe! Aber man muß sich, um die Zusammenhänge von politischer Freiheit und Größe mit geistiger Kultur zu erfassen, nicht so sehr an das – mehr oder weniger zufallsbestimmte! – zeitliche Zusammentreffen halten. Man kann sicher behaupten, daß jede wahre Kulturkraft staatsbildend ist und ihre letzte natürliche Auswirkung verfehlt, wenn die Geschichte ihr den Stoff eines gestaltungsfähigen Staatslebens versagt. Niemand hat das klarer gefühlt als Plato. Im »Staat« schildert er in einem Bilde schwermütigen Verzichts den Philosophen, der das Gestaltwerden seiner Gedanken nicht erzwingen kann. »Dieses alles bei sich erwägend, Ruhe haltend und seine eigene Sache betreibend, wird er, wie einer im Winter bei Staubwirbel, Regen und Unwetter an eine Mauer untertritt, indem er die anderen mit Ungesetzlichkeit erfüllt sieht, froh sein, wenn er nur selbst rein von Unrecht und unheiligen Werken hier sein Leben lebt und beim Abschiede davon mit schöner Hoffnung heiter und wohlgesonnen abscheidet«. – »Und gewiß hat er nichts Geringes getan, wenn er dann abscheidet«, wird ihm erwidert. – Und Plato sagt: » Aber auch nicht das Größte; er fand ja nicht den ihm gemäßen Staat, denn in einem solchen wird er selbst noch mehr wachsen und mit dem Eigenen auch das Gemeinsame erretten.«
Wenn der Staat Bedingung aller Kultur und aller gesunden und vollkommenen Entfaltung geistigen Lebens ist, so ist auch der Krieg letzten Endes Kulturbedingung. Der Krieg, sofern er der im höchsten Sinne weltgeschichtlicher Verantwortung berechtigten Machtsteigerung der »edleren und höher gearteten menschlichen Gruppen dient«. Diese Machtsteigerung ist höchste Gerechtigkeit vor dem Gerichtshof des Lebens, der ein anderer ist als das Haager Schiedsgericht. Der Krieg ist ein Gottesgericht, durch welches der wertvollere Staat dem wertloseren seinen Wirkungsspielraum abringt. Scheler ist fest davon überzeugt, daß der Erfolg im Kriege so durchaus und ausschließlich von den eigentlichsten politischen (und damit kulturellen!) Kräften eines Volkes abhängt, daß er dem Spruch weltgeschichtlicher Gerechtigkeit gleich ist.
So faßt er den Krieg als moralische Macht ersten Ranges – d. h. nur den Krieg, der geschichtliche Notwendigkeit in sich birgt, weil er aus dem Zusammenstoß der zentralen Wachstumskräfte der Völker entsteht. Diese Bedeutung hat nach Schelers Meinung in vollem Maße der Gegensatz Deutschland-Rußland, in immer noch ausreichendem der Gegensatz Deutschland-England. Für Völker, die in diesem schicksalhaften Sinne um ihren Staat und seine Freiheit ringen – Freiheit in dem Fichteschen Sinne eines Rechtes, »in dem angehobenen Gange aus sich selber sich fortzuentwickeln« – ist der Krieg der Schmied zu Härtung und edelster Formung der Energien. Er schafft höchste Maßstäbe für die Leistung und treibt damit das Können von Millionen Menschen über die Grenzen hinaus, in denen es sonst befangen geblieben wäre. Er ist Einheitsbildner, indem er den gemeinsamen Besitz am Vaterland über alle Einzelinteressen hinaus in einer Weise ins Bewußtsein hebt, wie es schlechthin durch keine andere Lage geschehen könnte. Er steigert dadurch – indem er die Völker in den Dienst der Feindschaft zwingt – tatsächlich die Liebe in der Welt.
Hier liegt die Paradoxie des Schelerschen Buches. Es meint Kriegsmoral und Liebesmoral vereinigen, ja die Kriegsmoral als Vorstufe der Liebesmoral erfassen zu können. Die Synthese von Nietzsche und dem Christentum – von manchem Modernen gesucht – erscheint hier in einer neuen Form. »Der Krieg birgt ebensowohl die Kraft in sich, die Gemüter innerlich zu einen, als er die große Kraft ist, die Menschen äußerlich zu trennen und zu scheiden; wogegen der Friedenszustand die Menschen ebenso äußerlich eint, als er sie innerlich atomisiert und trennt.« Wenn auch der Anlaß zu dieser Einigung gemeinsame Not, gemeinsame Existenzgefahr und gemeinsame Feindschaft ist, die durch solche Motive einmal ausgelöste Gemeinschaftskraft wirkt und sammelt weiter. »Daß es überhaupt erst solcher »Motive«, daß es des Krieges auch nur zum Geburtshelfer der echte Gemeinschaft bildenden Liebeskraft überhaupt bedarf – darin, aber auch nur darin sah die christliche Lehre mit Recht eine Folge der menschlichen Sündhaftigkeit, die sie auf Sündenfall und Erbfeinde zurückführte. Gleichwohl bleibt der Krieg, indem er diese Auslösung vollzieht, hierdurch ein positiver Wesensbestandteil der göttlichen Erlösungsordnung. Und wie hart, rauh gewunden und dornig dieser Weg immer sei, so ist er doch noch ein geraderer und sanfterer Weg zu dem überschwenglichen Ziele des Reiches Gottes, als ein ewiger Friede wäre, der durch bloße steigende Interessensolidarität der Völker und vollkommene Ausdehnung der Vertrags- und Rechtsidee über die Staatenwelt sich anbahnte.«
Ist dies eine mögliche Gedankenreihe? Wenn sie nur sagen will, daß der Krieg, als Anlaß, durch die Not die Liebe herausgefordert – »mobil gemacht« – hat, ja! Aber, wenn sie mehr sagen will, wenn sie den Krieg gewissermaßen als Schöpfer der Liebe ansieht, so leugnet sie die Ursprünglichkeit der Liebe, indem sie die der Feindschaft behauptet. Ein Gemeinschaftsgeist, der erst in der Notwendigkeit der Gegenwehr entsteht, der den Frieden, d. h. die ihm an sich gemäße äußere Erscheinung der Liebesgesinnung, nicht erträgt – ist der noch eine eigene wesentliche Kraft? Eine Liebe, die des Anreizes der Feindschaft bedarf, um da zu sein, ist sie nicht der mit Recht niedrig eingeschätzten bloßen »Solidarität der Interessen« mindestens ebenso nahe – wenn auch auf andere Weise – als das Ideal des durch Verträge gesicherten ewigen Friedens? Gewiß ist es richtig, daß die Liebe angesichts der größeren Aufgabe eine größere »Wirklichkeit« gewinnt, wärmer, stärker, gespannter, hingegebener wird. Aber von dieser Tatsache aus den Krieg als normbildend für den Frieden ansehen, heißt mindestens doch alles das unterschätzen, was der Krieg an Liebe zerstört. Der Mensch ist eine Einheit, und er kann überhaupt nicht hassen und vernichten, kann sich nicht unter das Gesetz des Auge um Auge stellen, ohne daß sein ganzes Wesen dadurch berührt und beeinflußt wird. Nur die besten, stärksten, beherrschtesten Menschen – wir sehen es! – bleiben rein in dieser gefährlichen Luft. Gewiß, bei diesen moralisch Kraftvollsten wird diese Erhöhung der Normen durch den Krieg eintreten, aber dies als allgemeine notwendige und durchschlagende Folge ansehen, heißt doch wohl in idealistischer Dogmatik die tatsächliche sittliche Leistungsfähigkeit der Menschen überschätzen.
Vollends scheinen mir sittliche Wertfragen viel zu sehr mit allzumenschlichen Emotionsbedürfnissen und ihrer naturalistischen Gesetzmäßigkeit verquickt zu werden, wenn der Krieg noch darüber hinaus als notwendige Ablösung des Friedenszustandes aufgefaßt wird, damit alle die im »faulen« Frieden entstehenden »gelben Gefühle« des Neides, der Eifersucht, des Ärgers sich einmal gründlich »abreagieren«. Das mag in jedem einzelnen Fall menschlich wahr sein, gewährt aber darum noch nicht dem Kriege einen positiven Wert.
Diese Bedenken werden nicht vom Standpunkt eines grundsätzlichen Pazifismus erhoben. Vielmehr von der Überzeugung aus, daß im historischen Wachstum der Völker Machtkonflikte unvermeidlich sind und ihr Austrag durch grundsätzliche Daransetzung des Lebens von beiden Seiten keine »Barbarei«, sondern ein Ausdruck für die Erhabenheit des Staatsgebildes und für die Ehrfurcht vor dem höchsten Recht des lebendigen Wachstums der Nationen ist. Aber etwas anderes ist es, solche Machtkonflikte als tragische Möglichkeit zugeben, und etwas anderes, den Kriegszustand als solchen und um seiner selbst willen positiv bewerten. Wir haben es erlebt, daß der Krieg in ungeahntem Reichtum Liebe entzündet und Gemeinschaftsgefühle zu Blüte und Frucht gebracht hat, aber doch als heilende und überwindende Kräfte, die ihrem Wesen nach nicht auf Kampf und Zerstörung, sondern auf Erhaltung und Blüte des Lebens gerichtet sind. Es scheint nicht ohne Zwang möglich, den Krieg selbst unter das Gesetz der Liebe zu stellen; er steht unter anderem Gebot: der Selbstbehauptung, die in einer durch Raum und Zeit gebundenen Welt den Kampf erfordert. »Der alte Urstand der Natur kehrt wieder …« dies Schillersche Wort vom Krieg bezeugt, daß der Krieg die irdisch-realen Bedingungen für das Dasein der geistigen Gebilde »Staat« bloßlegt; in der schicksalvollen Bindung der »Macht« an territoriale Ausbreitung, Seebeherrschung, Wirtschaftsgüter, Verkehrswege und was auch immer, liegt die Notwendigkeit des Kampfes begründet, in dem natürlich mit der realen Bedingung zugleich um alle die geistigen Güter gerungen wird, die der Begriff des Staates, des Vaterlandes umschließt. Die Wehrkraft ist damit zugleich Beweis für die Liebe zu der im Staat verkörperten und gehüteten Kultur – aber die Wehrkraft ist nicht Liebe, ihre Taten stehen unter einem anderen Gesetz, dem wir nicht entrinnen können, dem wir verschrieben sind mit allen Tugenden des heldischen Willens, der Tapferkeit, der Tatkraft – das aber ein anderes ist und bleibt als das der Bergpredigt.
Was in dem Buch Schelers nicht Philosophie, sondern Politik und Geschichtsbild ist, ist in zwei Motiven zusammengefaßt: »Der deutsche Krieg« – »Europa«. Der deutsche Krieg ist dieser Krieg in dem Sinne, daß das gemeinsame Kriegsziel der Gegner ist, die wachsende Macht Deutschlands zu zerbrechen, während anderseits wir eben deshalb kein unzweifelhaftes einzelnes Kriegsziel haben, weil wir, beneidet und angegriffen, um unser ganzes Dasein zu kämpfen gezwungen waren, weil wir nicht unserseits eine bestimmte Machterweiterung im Auge hatten, wie Rußland den Ausgang ins Mittelmeer, sondern versuchen müssen, der drohenden Einschnürung durch die Entwicklungsrichtung der anderen Mächte Trotz zu bieten.
Dieser unser Kampf aber um unser ganzes Sein ist zugleich der Kampf um »Europa«, d. h. um »Tod oder Sieg des lebendigen Kulturodems, der seit den klassischen Griechen alle westliche Geschichte und Leistung, allen Staat, alles Recht bis auf deren religiös-metaphysische Wurzeln im westlichen Christentum aus seiner Tiefe ausgehaucht hat«. Der Hort dieser westlichen Kultur gegen die ostwestliche Bewegung kann nach Schelers Überzeugung nur Deutschland mit seinem Bundesgenossen sein. Politisch-geographisch als Bollwerk, das selbst die englische Kultur noch schützt, wenn über Nordsee und Ostsee hin England den Osten gegen uns stärkt. Aber vor allem auch geistig.
Der größte Reiz und die eigentliche Stärke des Schelerschen Buches liegt in der kulturpsychologischen Deutung des Begriffs »Europa«. Wissenschaft und überhaupt Geistesausbreitung der letzten Jahrzehnte hat uns das Wesen des europäischen Geistes in seiner ewig unüberbrückbaren Verschiedenheit von anderen Kulturen immer klarer erkennen lassen. Kunst, Musik, Sittlichkeit, Religion in Asien und bei uns sind nicht nur verschieden im Sinne von Abweichungen des Ausdrucks für ein im letzten Grunde Gemeinsames der Empfindung; sie sind einander unverschmelzbar wesensfremd, so daß wir in der Auffassung japanischer Kunst oder siamesischer Musik oder indischer Religion immer nur zu einem Ahnen eines fundamental anderen, nie aber zu einem Verstehen, Aneignen, Zusammenwachsen kommen können. Dieses Anderssein wird uns in dem Maße deutlich, als unsere Weltkenntnis sich erweitert und vertieft. In gleichem Maße aber wächst uns das Bewußtsein des »Europäers«. In der verschiedenartigen Ausprägung seiner romanischen und germanischen Typen verkörpert er doch zugleich eine zusammenhängende, vielfach verflochtene Geistesgeschichte, ein über Zeiten und Völker sich erstreckendes Wesenhaftes, in dem Mannigfaltiges verschmolzen und verwachsen ist zu einem neuen Leben. Das Werden dieses geistesgeschichtlichen Europäertums ist im wesentlichen ein Werk deutschen Geistes. Frankreich hat einst die Welt durch seine Kultur zu überziehen vermocht, der französische Geist ist aber niemals Vermittler und Bindeglied anderer Kulturen gewesen, sondern hat nur die eigene Form zur höchsten Feinheit und Klarheit bringen können. Dem englischen Geist vollends – von Scheler mit leidenschaftlicher Einseitigkeit, aber in diesem Sinne richtig, beurteilt – fehlt überhaupt die fruchtbare Tiefe, die das Fremde einsaugt, um es zu verwandeln. Der englische Geist, zum Sachlichen, zur Naturwissenschaft und Politik bestimmt, hat dem Europäertum praktische Lebensformen, technische Erfindungen und ein gewisses Maß Erziehung zur Sachlichkeit hinzugefügt – den Geist des Kapitalismus –, England hat durch seinen Verstand, aber nicht durch Herz, Sinne, Leidenschaft am Europäer gearbeitet, es ist an der Gestaltung äußeren Lebenszuschnittes, nicht aber an der Geburt des europäischen Menschen beteiligt. Nach Schelers Meinung bedeutet England sogar ein starkes Negativum, eine große Verführung des europäischen Geistes in die Blöße, Dürftigkeit und kalte Selbstherrlichkeit des Merkantilen.
Man braucht den Anklagen des Buches in dieser Richtung, nach Inhalt und Form, nicht unbedingt zu folgen, um doch darin mit ihm einer Meinung zu sein, daß im Wesen des deutschen Geistes die stärksten und fruchtbarsten Vorbedingungen zur Geburt des Europäers liegen. Gegen die Enge der Alldeutschen gewendet, betont Scheler mit Recht, daß der deutsche Geist in seiner höchsten Blüte kosmopolitisch war. Das heißt nicht »international«, sondern das eigene Sein und die eigene Aufgabe im Zusammenhang einer Weltbestimmung erfassend. Das heißt nicht farblos, sondern die eigene Art neben der der anderen als Stimme in einer Sinfonie fühlend. Diese Sinfonie heißt aber nicht: die Menschheit;es war ein Mißverständnis aus Unkenntnis, von der Möglichkeit einer Weltsinfonie der Kultur zu träumen. Sie heißt und kann nur heißen: Europa. Die Schwächung deutschen Geistes würde eine Wunde – vielleicht eine tödliche Wunde – im Kulturleib »Europa« sein. Darum geht es in diesem Krieg um Europa, nicht um Deutschland und Österreich.
So aber muß auch von uns, von den Deutschen, die geschichtliche Bedeutung des Krieges verstanden werden. Schelers Buch ist – im Herbst 1914 – vor den großen Erfolgen im Osten geschrieben. Er rechnet deshalb damit, daß ein Austrag unseres Gegensatzes zu Rußland von diesem Krieg nicht zu erwarten sei, er rechnet noch mit den größeren Erfolgen in Frankreich. Aber sein grundsätzlicher Standpunkt wird durch die Ereignisse nicht verschoben: daß aus diesem Krieg nicht eine Zersplitterung, sondern eine Festigung Westeuropas hervorgehen muß. Bedingung dazu ist für ihn das Zerbrechen der Allseegeltung Englands. Denn diese Seegeltung des Inselvolkes, das, aus den Interessen der eigenen Weltmacht heraus, dem europäischen Kontinent nur mit der kühlen »Gleichgewichts«-Forderung gegenübersteht, kreuzt die im höchsten geschichtlichen Sinne notwendige Einheit Europas beständig durch die Ränke seines egoistischen Imperialismus, dem Europa und seine Kultur, dem die östliche Gefahr einfach »Hekuba« ist.
Das wird richtig sein. Aber es bleibt die Frage offen, wie es praktisch möglich sein soll, die Einheit Westeuropas gegen ostwestliches Vorwärtsdrängen zustande zu bringen durch schärfsten Austrag des Gegensatzes: Deutschland – England.
Schelers Buch ist das eines Kulturpsychologen, nicht das eines praktischen Politikers. Es bringt durch großen Gedankenreichtum einen Teil der inneren Entscheidungen zum Bewußtsein, um die dieser Krieg ausgekämpft wird. Bringt sie mit bewußt einseitiger Parteinahme: antiprotestantisch, antiliberal, mit der Einsetzung mystisch-religiöser Werte, wie des oft etwas gezwungen wirkenden Begriffs der »Liebe«, in die Politik, die mitzumachen eine Gefühlssache, nicht eine Frage der Einsicht ist. Das Buch ist keineswegs ein letztes Wort der Reife und Klarheit. Es ist durchzogen von ungebundener Erregung; seine Fülle ist nicht immer beherrscht und seine Form nicht immer maßvoll. Aber in seinem Wesen – ohne Gefüge, doch inhaltreich – ist es die Stimme eines Mitkämpfers, dem eine seltene Fülle des Geistes vieles bewußt sein läßt, was andere nicht sehen.