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Unsere unsichtbare Heerstraße

Weihnachten 1915

Auf unsichtbarer Heerstraße geht alle Tage und Nächte eine Millionenfahrt nach Osten und Westen, nach Nord und Süd, in verschneite Ebenen, über Berge und hinaus auf das Meer: die stumme Millionenfahrt der deutschen Herzen zu den Männern an der Front. Wer sie doch einmal sichtbar machen könnte, diese Flut von Sehnsucht und Stolz, von allem kostbarsten Seelengut der Heimat! Wenn sich doch wie über den Hirten auf dem Felde, über den Gräben und Unterständen die unsichtbare Welt auftun und ihnen alle Liebe, die ihnen gehört und heiß und verschwiegen zu ihnen drängt, als eine sichtbare strahlende Herrlichkeit zeigen könnte!

Denn es ist ja so wenig von allem Herzensleben den Menschen gegeben in Worte zu fassen und wieder aus Worten zu erraten! Das Volkslied singt:

Hätt' ich einen Schlüssel von rotem Gold,
Mein Herz ich dir aufschließen wollt'!

Aber wo ist der goldene Schlüssel, der alle Frauenherzen der Heimat aufzuschließen vermag, daß sie ihre Schätze wirklich zeigen können! Die geschriebenen Worte der Briefe und die Weihnachtsgaben können ja nur ein ganz klein wenig von aller schweren heißen Liebe über den Abgrund der Ferne tragen. Sie ist viel größer als alle Worte und Zeichen.

Sagen Worte etwas von der Dankbarkeit, die allen Frauen in der Heimat, den Geschützten und Geschonten, wie Atem und Pulsschlag geworden ist, ein selbstverständliches immer waches Gefühl, das jede Stunde durchzieht, in jedem Gedanken mitlebt, bei jeder Nachricht von Gefahr und Sieg neu aufflammt?

Sagen Worte genug von der sehnsüchtigen Mühe jeder Stunde, sich das Leben draußen vorzustellen, sich ein rechtes Bild zu machen von dem, was geleistet und erduldet werden muß, um aus dieser Vorstellung heraus das Rechte zu treffen im Ausdruck der heißen Anteilnahme?

Lassen sie sich aussprechen, alle diese heimlichen Sorgen, ob da draußen nicht alle die kleinen vertrauten Dinge des häuslichen Miteinanderseins wesenlos werden und ob Briefe die Macht haben, so unvorstellbar gewaltigen Eindrücken gegenüber das liebe zarte Bild der Heimat mit all ihrem traulichen, schlichten und doch so vielbedeutenden Kleinkram lebendig zu erhalten?

Kann man es beschreiben, dies merkwürdige Auferstehen des Abwesenden aus dem Entbehren? Wie jede Stunde, die er nicht teilt, sein Bild zeichnet, jedes Erlebnis, bei dem er fehlt, sein Wesen lebendig werden läßt, wie die Sehnsucht ihn sich neu zu eigen macht, Zug um Zug, aus allen Lücken, die sie schmerzlich empfindet, ihn wieder erwirbt, alles Unbeachtete und lange nicht mehr Gefühlte wie ein neues kostbares Gut?

Und wie kann es ausgesprochen werden, dies Herzklopfen des Wiedersehens und diese merkwürdige Reue der neuen Trennung, daß man nach so viel Sehnsucht und Sorge doch nicht genug einander gesagt und gezeigt und den kostbaren Schatz dieser Tage nicht heilig genug gehalten habe?

Auf unsichtbarer Heerstraße wandern Tag und Nacht unzählbare Seelen aus der Heimat. Eine unsichtbare Heerstraße verbindet Heimat und Fronten. Die Millionen, die auf ihr gehen, tragen alle die gleiche Uniform der Dankbarkeit, der Sehnsucht, des Stolzes. Gewiß, viele von ihnen deckt der Staub der Alltäglichkeit und mancher menschlichen Bürde. Die Zeit liegt schwer auf manchen schwachen Schultern. Und doch: wenn die heilige Nacht uns die Kraft schenkte, diesen unabsehbaren Zug zu schauen, er wäre die strahlende Offenbarung einer Liebe, die nie so tief und wach war als in dieser Zeit gemeinsamer großer Pflicht.


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