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Lehren und Ausblicke


Der Patriotismus im Wirtschaftsleben

Winter 1914/15

In den ersten Tagen des Krieges legte man in manchen Gastwirtschaften, Läden, Tingeltangels eine Leiter an die Eingangstür, stieg hinauf und nahm Schilder wie »Restaurant Boncourt«, »Salon Perl«, »Cabaret Chat noir« usw. unter dem Beifall des Publikums herunter. Vielleicht hat mancher Nachdenklichere in diesen Beifall nicht ganz so siegesgewiß und starkgeistig einstimmen können. Weil man sich nämlich schämen mußte, daß wir uns jetzt mit breitem Selbstgefühl und voll patriotischer Gehobenheit dieser Dinge entledigen, deren Dasein, ja deren zweifellose Anziehungskraft wir jahrelang unter uns erlebt haben, ohne einen durchgreifenden Willen, sie zu beseitigen. Sind sie jetzt unser nicht würdig, so waren sie es niemals, und daß wir sie jetzt herunterholen, ist wahrlich kein Anlaß zu breiter Selbstgefälligkeit, sondern eher zu nachträglicher peinlicher Scham.

Immerhin sind diese kleinen Symptome gleichgültig gegenüber größeren wirtschaftlichen Fragen, deren sich seit Kriegsbeginn die öffentliche Meinung unter dem Gesichtspunkt eines kräftigeren Vaterlandsgefühls bemächtigt hat. Die Befreiung vom Ausland wurde zur Parole: Stärkung der deutschen Industrie durch Verpönen aller ausländischen Erzeugnisse, bessere Ausprägung unserer eigenen Art durch Ablehnung des Fremden, kräftigere Betonung der nationalen Zusammengehörigkeit dadurch, daß wir vom Scheitel bis zur Sohle, von der Seife bis zum Theaterstück »deutsch« sind.

Richtiges und Verkehrtes, Gutes und sehr Törichtes, berechtigter Stolz und bedauerliche Unwissenheit haben sich in dieser Parole zusammengefunden.

Ihre Berechtigung liegt in zwei Gedanken. Erstens: dieser Krieg ist zugleich ein Handelskrieg. Unsre Feinde führen ihn gegen den deutschen Handel, und wir führen ihn in eben dem Maße für unsre Handelsinteressen. Zweitens: wir müssen wünschen, daß wir Deutschen durch das mächtige Erlebnis dieses Krieges auf dem Wege selbständiger Formkultur in jeder Hinsicht ein entscheidendes Stück weiter kommen.

Bedenklich aber wird der wirtschaftliche Patriotismus da, wo er die Verflechtung Deutschlands in den Welthandel verkennt und das Ideal einer vom Ausland sich abschließenden Eigenbrödelei aufstellt. Daß eine Stimmung, die auf so etwas hinausging, überhaupt eine gewisse Breite gewinnen konnte, zeigt nur, daß viele unter uns von dem Wesen des neuen Deutschland noch sehr wenig innerlich durchdrungen sind.

Es wäre daher sehr notwendig, daß auch der Laie sich die folgenden volkswirtschaftlichen Tatsachen in Fleisch und Blut übergehen ließe.

Deutschland hat im Jahre 1913 eine Jahreseinfuhr von etwa 10 Milliarden Mark Wert gehabt und eine Ausfuhr von etwa der gleichen Höhe.

Die Einfuhr bestand im wesentlichen in Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Die Ausfuhr besteht im wesentlichen (6¾ Milliarden) in Fertigfabrikaten – in Dingen also, die von der deutschen Industrie für den Gebrauch fremder Nationen hergestellt sind.

Wir geben dem Ausland also weit mehr deutsche Fabrikate, als wir ausländische gebrauchen. Wir sollten deshalb vorsichtig sein mit jener Übertreibung des patriotischen Wirtschaftsgedankens, bei der es für eine nationale Kardinaltugend erklärt wird, nur einheimische Fabrikate zu benutzen, und für Landesverrat, etwas nicht im Lande Gewachsenes und Geschaffenes zu kaufen. Wenn die anderen Völker nach diesem Satze handelten, hätten wir sehr wenig Grund, uns ihrer Gesinnungstreue zu freuen. Und es macht sich nicht besonders gut, wenn wir in einem Atem deutsche Erzeugnisse im Auslande anbieten und den Gebrauch eingeführter Waren grundsätzlich für unvereinbar mit allem Patriotismus erklären.

Deutschlands Anteil am Welthandel beruht auf seinen Fertigfabrikaten. Deutschland muß wünschen, daß der Grundsatz, man dürfe nur »Selbstgemachtes« brauchen, bei den Kulturvölkern nicht Platz greift.

Bei den Kulturvölkern. Denn die deutsche Industrie liefert den größeren Teil ihrer Waren an die europäischen Staaten, also an Völker ebenbürtiger Kultur, nicht etwa an solche, die das überlegene Erzeugnis annehmen müssen, weil sie selbst weit davon entfernt sind, ähnliches Herzustellen. 75 Prozent der deutschen Ausfuhr bleibt in Europa.

Zu diesen Tatsachen gehören, um sie voll zu würdigen, noch ein Stück Entwicklung und ein paar Vergleiche. Ein Stück Entwicklung. Die Höhe der deutschen Ausfuhr stieg erst in den letzten fünf Jahren von 6½ Milliarden auf 10 Milliarden. Dieses rasche Steigen ist der entscheidende Wesenszug unserer deutschen Wirtschaftsentwicklung, in ihm erfassen wir unsere Macht und Größe, in ihm letzten Endes einen entscheidenden Grund und den eigentlichen Zweck dieses Krieges. Das zeigt uns der folgende Vergleich. Die vier großen Handelsstaaten der Welt sind: Großbritannien, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Frankreich. Am gesamten Welthandel besitzen:

Großbritannien 16,6 %
Deutschland 12,9 %
Vereinigte Staaten 9,9 %
Frankreich 9,0 %

Deutschland stieg seit 1904 von 11,7% auf seinen jetzigen Anteil. England fiel seit 1904 von 18% auf seinen jetzigen Anteil. Frankreich und die Vereinigten Staaten hielten in dieser Zeit ziemlich ihren Stand. Die entscheidende Veränderung auf dem Weltmarkt ist das Steigen des deutschen und das Fallen des englischen Anteils.

Diese Tatsache muß dem deutschen Patrioten heute fester Besitz sein, ein Besitz seiner Einsicht, die sich in Willen und Gefühl umsetzt: das richtige patriotische Gefühl und den richtigen Willen, der nun und nimmer bestehen kann in dem Wunsch nach »Befreiung vom Ausland«.

 

Der Krieg ist ein Handelskrieg, aber er steht nicht etwa unter der Parole des Abbruchs unserer Verbindungen mit dem Ausland, sondern im Gegenteil ihrer Erweiterung, der Verdrängung unserer wirtschaftlichen Gegner vom Weltmarkt – oder sagen wir zurückhaltender ihrer Einengung auf dem Weltmarkt. Der Schauplatz unserer deutschen wirtschaftlichen Erfolge liegt nicht in der Hauptsache bei uns im Inlande, sondern er liegt in der Hauptsache draußen auf dem Weltmarkt.

Gleich bei Kriegsbeginn haben sich sowohl in Frankreich wie in England Zusammenschlüsse vollzogen mit dem Zweck, die deutschen Erzeugnisse vom französischen und englischen Markt zu verdrängen. England hat im Augenblick infolge der Kriegslage und des vollständigen Abschlusses unserer eigenen Handelsschiffahrt vom Weltmarkt zugleich Möglichkeiten genug, uns auch draußen zu schädigen. Die englische Regierung hat, wie uns unsere erfahrenen Industriellen versichern, mit großer Umsicht den wirtschaftlichen Kampf gegen Deutschland ausgenommen. Es ist in London eine Musterausstellung der aus Deutschland eingeführten Waren veranstaltet zu dem Zwecks die englische Industrie anzuleiten, diese Waren selbst herzustellen. Die Patente auf deutsche Erzeugnisse werden englischen Herstellern angeboten. Daß jedoch alle diese Pläne in ihrer Durchführung sehr erheblichen Hemmungen begegnen, zeige ein einziges Beispiel: das der chemischen Industrie. Vor einiger Zeit fand eine Versammlung der englischen Pharmazeuten statt, die sich mit der Frage der Ausschaltung deutscher Erzeugnisse beschäftigte. Übereinstimmend waren sich diese Fachleute darüber klar, daß es vollkommen ausgeschlossen sei, in ein paar Kriegsmonaten den gewaltigen Vorsprung der deutschen chemischen Industrie einzuholen. Die Leistungsfähigkeit der chemischen Industrie beruhe auf einem System, das wissenschaftlich unterbaut, in zwei Jahrzehnten der Praxis ausgestaltet sei. Das Ineinandergreifen der Einrichtungen eines Betriebes zur Verwertung aller Nebenprodukte sei das Ergebnis so komplizierter Durcharbeitung, Erfindung und Erfahrung, daß sich das unmöglich im Handumdrehen nachahmen lasse. Sogar von der Aufhebung der deutschen Patente zu englischen Gunsten wollten diese Fachleute ziemlich wenig wissen. Es würden dadurch nur späterhin Verwirrungen und endlose Prozesse und Schwierigkeiten geschaffen werden. Ergebnis: die deutschen Farben und Apothekerwaren und das Jenaer Glas in seiner vielfachen Verwendung sind international unentbehrlich.

Dieses Beispiel ist in mancher Hinsicht lehrreich. Der Hochstand gewisser industrieller Erzeugnisse ist das Ergebnis gemeinsamer Arbeit der Kulturvölker, von denen das eine kraft seiner Bodenschätze und Begabung diese und das andere jene Fabrikate zu einer sonst nicht erreichbaren Vollkommenheit bringen konnte. Es wäre ein sinnloser Verzicht auf solche Vollkommenheit, wenn jedes Volk seine Kunst und Kraft nur für den eigenen Markt reservieren wollte. Und umgekehrt: gerade durch den internationalen Wettstreit des Könnens treibt die Produktion eines Landes ihre Kräfte zu den äußersten Leistungen hinauf. Die Entscheidung in einem solchen Kampf durch einen künstlichen Abschluß der Grenzen (abgesehen von dem notwendigsten Schutzzoll) statt durch die Überlegenheit der Fähigkeit treffen lassen zu wollen, wäre grundsätzlich falsch. Wäre auch am wenigsten im deutschen Interesse. Denn in dem Maße, als die Produktion vergeistigt und wissenschaftlich unterbaut wird, wächst unsere Aussicht, bei freiem Wettbewerb den internationalen Sieg davonzutragen.

Nach dieser Richtung müssen denn auch die deutschen Bemühungen in diesem wirtschaftlichen Krieg gehen und gehen sie tatsächlich. Bis jetzt ist London die unbestrittene Zentrale des Weltmarktes, an der eine große Zahl der wichtigsten und massenhaftesten Weltmarktswaren ihre Einschätzung und Vermittlung erfahren. Die deutschen Bemühungen gehen dahin, an die Stelle dieser englischen Zentrale möglichst deutsche Durchgangsstationen zu setzen. So arbeitet ein Konzern von Hamburger Kaffeefirmen seit längerer Zeit schon daran, London als Durchgangsstation des internationalen Kaffeehandels auszuschalten. Die Bremer Baumwollenbörse hat in der letzten Zeit (vor dem Kriege) an Bedeutung immer mehr gewonnen. Für die verschiedensten Artikel bemühen wir uns, das Kommissionsgeschäft nach Deutschland selbst zu ziehen. Es sind z. B. vielfach deutsche Waren, z. B. Krefelder Seide, Plauensche Spitzen in Paris gehandelt worden, so daß die ausländischen Einkäufer, um sie zu erhalten, nicht nach Deutschland kamen, sondern ein Pariser Kommissionsgeschäft benutzten. In all solchen und ähnlichen Fällen wird es sich also darum handeln, deutsche Zentralen einzuschieben. Das ist aber nur möglich durch jede Art von Entgegenkommen an das Ausland. Es ist einmal gesagt worden, daß die Erfolge Deutschlands auf dem Weltmarkt gegenüber dem englischen Konkurrenten auf der Gewandtheit und Anpassungsfähigkeit des deutschen » Commis voyageur« beruhen. Der englische Kaufmann, so hat man gesagt, verkauft seinen Kunden, was er hat, der deutsche sucht herauszubekommen, was der Kunde sich wünscht, und seine eigenen Wünsche zu befriedigen. Auf diesem Unterschied beruhe die Überlegenheit des deutschen Handels.

Vielleicht läßt sich dieser Gedanke noch wirtschaftsgeschichtlich vertiefen. Solange England Handel trieb mit Völkern, denen es industriell weit voraus und wirtschaftlich unbedingt überlegen war, konnte seine Praxis Erfolg haben. Sie wird immer noch Erfolg haben gegenüber Halbbarbaren, die unbesehen das aufnehmen, was ihnen mit einem gewissen Selbstbewußtem und einer unerschütterlichen Sicherheit aufgedrängt wird. Sie wird aber versagen Völkern gegenüber mit eigenem Geschmack, eigenen differenzierten Bedürfnissen, eigener und ihrer selbst bewußter Kultur. Hier liegen die Aussichten der deutschen Praxis, vorausgesetzt, daß sie sich als solche erhöht und entwickelt.

Und auch von hier aus fällt ein besonderes Licht auf die Forderung, daß wir uns in unserer Eigenart noch stärker befestigen und in all unseren Erzeugnissen das, was uns von anderen Völkern trennt und unterscheidet, schärfer ausprägen sollen. Halten wir daran fest, daß die deutsche Industrie (kraft der besonderen Fähigkeiten des deutschen Geistes zu der wissenschaftlichen Durchdringung der Produktion, auf der mehr und mehr alle Erfolge beruhen) berufen sein soll, in allen Erzeugnissen, bei denen es auf diese Fähigkeit ankommt, den Weltmarkt zu erobern, so müssen wir uns zugleich sagen, daß die Bedingung dieser Eroberung die Anpassungsfähigkeit und das Verständnis für die besonderen Verhältnisse und Eigentümlichkeiten des Auslandes ist, das wir versorgen sollen. Wenn Deutschland unverarbeitete Rohstoffe ausführte, so brauchte es sich um die Kultur der Völker, mit denen es handelt, nicht zu kümmern. Wenn aber sein Handel auf Fertigfabrikaten beruht, so bedürfen diese Fertigfabrikate, weil sie ein Stück geistiger Leistung in sich umfassen, des Mitwirkens einer gewissen Einsicht und Fühlung für den Geist des Landes, für das sie bestimmt sind. Das gilt in besonderem Maße für alle Gegenstände, bei denen ästhetische Werte irgendwie mitsprechen.

Die Konsequenz, zu der diese Gedankenreihe kommen muß, ist ohne weiteres klar: wollen wir deutsch sein in jenem engen und ausschließliches Sinn, in dem ein sich selbst mißverstehender Patriotismus das heute verlangt, so entstünde die Gefahr einer starken Einbuße unserer Anpassungsfähigkeit an den Weltmarkt und seine Bedürfnisse.

Das sieht nun so aus, als wenn wir gezwungen sein sollten, um der Handelsvorteile willen auf unsere Gesinnung und unser Wesen zu verzichten. Diese Selbstverleugnung stände wahrlich einem Volk von Kraft und Selbstbewußtsein schlecht an. Sie soll aber auch nicht verlangt werden. Die Frage liegt anders. Es ist eine Tatsache, die wir auch in dieser Zeit hochgespannten Nationalgefühls nicht übersehen dürfen, daß die Kultur in wachsendem Maße »europäisch« geworden ist. Je reicher der Austausch und je vielfältiger die Beziehungen zwischen führenden Kulturvölkern geworden sind, um so mehr hat sich eine gewisse Gemeinsamkeit des Geschmacks und der eigentlichen Kulturbedürfnisse herausgebildet. Nehmen wir etwa die Kleidung. Sie ist in ihren wesentlichen Zügen Gemeinbesitz der Kulturmenschheit, nicht aus dem zufälligen Grunde, daß es einer Mode gelungen ist, einen rein wirtschaftlichen Sieg über die Welt davonzutragen, sondern aus einer gewissen Gleichheit der Lebensweise, des Geschmacks, der Arbeit, der Geselligkeit, der geistigen Bedürfnisse überhaupt. Es ist an sich undenkbar, eine »deutsche Tracht« zur Geltung bringen zu wollen, die auf dem Grundsatz der Unterscheidung vom Ausland beruht. Wir sind einfach nicht nur Deutsche in dem Sinne, daß wir unsere Lebensformen ganz für uns allein hätten. Immer wird sich auf Grund gemeinsamer Kultur auch eine gleichartige oder verwandte Gestalt der Umgebung herausstellen. Eine nationale Ausdruckskultur, die auf dem Grundsatz der Isolierung aufbaute, wäre unnatürlich und unorganisch und würde sehr bald ihrer selbst überdrüssig werden. Wir sollten solche kindlichen und sentimentalen Versuche nicht machen, gar nicht nur aus äußeren, sondern mehr noch aus inneren Gründen, aus weltpolitischem Sinn und Takt, aus dem Gefühl für den Stil des 20. Jahrhunderts.

Wir sollten uns vielmehr unserer deutschen Art in ganz anderer Weise bewußt werden, nämlich so, daß wir unsere Fehler in Tugenden umwandelten. Wir sind eine Nation synthetischen Geistes, besonders begabt, das Fremde zu kennen, zu verstehen, in uns aufzunehmen – besonders dazu geartet, jenen Verschmelzungsvorgang zu vollziehen und zu fördern, in dem die von einem Volk erzeugten kulturellen Werte mit denen anderer zu neuer Wesensart und Ausdrucksform vereinigt werden. Es wäre sehr banausisch, wenn man die Tatsache leugnen wollte, daß die Höhe unserer deutschen klassischen Kultur durch solche Verschmelzungsvorgänge mit bedingt und geschaffen worden ist. Daß am Anfang der glänzendsten Periode deutschen Geistes Herders »Stimmen der Völker« stehen, ist kein Zufall, sondern eine deutsche Notwendigkeit. Nehmen wir doch diese unsere Kraft zur Kultursynthese als eine Kraft und nicht nur als Schwäche. Gewiß, sie äußerte sich nicht selten als Schwäche. Unser Offensein für alle fremden Einflüsse, unsere Kraft, sie aufzunehmen und in uns zu beherbergen, nahm uns oft genug die Sicherheit des eigenen Wesens, lieferte uns, solange Deutschland keinen politischen Halt für sein Selbstbewußtsein hatte, dem Fremden allzu nachgiebig aus. Wir würden uns aber selbst in verhängnisvoller und ganz überflüssiger Weise herabsetzen, wenn wir diese Fähigkeit nur als Schwäche beurteilten. Sie ist tatsächlich eine Begabung und eine Kraft. Und sie bestimmt uns nun wieder unseren Platz in der gemeinsamen Arbeit der Menschheit. Wirtschaftliche Mission und innere Anlage kommen zusammen. Wenn wir, ein Land arm an Bodenschätzen, unsere Leistung für den Austausch der Völker durch das Stück geistiger Verarbeitung darbringen, das wir dem Stoff angedeihen lassen, so ist uns damit im wachsenden Austausch die Aufgabe gestellt, dem Geist zu dienen, ihn mitzuschaffen, der als das Gemeinsame neuzeitlicher Weltkultur sich aus diesem Austausch als ihre organische Frucht herausbildet. Also nicht Einschränkung unserer Fähigkeit, die Feinheiten französischer Form, die Eigenart japanischer Kunst oder nordischen Lebensausdrucks zu verstehen, sondern unbekümmerte Pflege dieser besonderen Kraft eines Volkes, das nicht umsonst in der Mitte Europas einen Boden bewohnt, auf dem in Krieg und Frieden die europäischen Nationen einander oft begegnet sind.

 

So hätten also alle die Bestrebungen, die, stimmungsmäßig jetzt stärker als je, auf deutsche Kunst, deutsche Form, deutsche Erzeugnisse hinausgehen, unrecht? Keineswegs. Und von diesem Gegengewicht der angeborenen deutschen Urbanität wäre nun noch zu reden. Es ist auch wieder gar nicht zu bestreiten, daß es der deutschen Arbeit an eigenem Rückgrat und Selbstbewußtsein gefehlt hat. Aber das lag doch sehr viel weniger an einer gesinnungsmäßigen Verleugnung des Deutschtums, als an einer tatsächlichen künstlerischen oder wirtschaftlichen Schwäche. Der deutsche Werkbund hat keineswegs etwa sein Werk mit der Parole begonnen, wir wollen eine deutsche Werkkunst. Er hat ganz einfach in Deutschland die Werkkunst beleben und fördern wollen. Das heißt, er hat das große Feld der Bauten, Geräte, Kleider, Schmuckgegenstände usw. überhaupt erst wieder für die Kunst gewinnen und erobern wollen. Er hat sich nicht die Aufgabe gestellt, fremde Kunstformen zu bekämpfen (wie etwa in der Mitte des Jahrhunderts die sogenannte »Lebkuchengotik« anderen gesinnungsmäßigen Deutschtümeleien parallel ging, und wie wir nach 1870/71 die Luthertische und altdeutschen Trinkstuben belebten), sondern er hat Formen suchen wollen für Dinge, die überhaupt noch keine eigene Form hatten, für Fabriken und Schiffsausstattungen, für Hotels und Bahnhofshallen. Und diese Tatsache weist den Weg, auf dem überhaupt nur »deutsche Form« entstehen kann. Wenn die Aufgabe so gestellt wird, daß dem Ungeformten eine Form geschaffen wird, so wird diese Form um so sicherer Wesensausdruck ihres Urhebers sein, je weniger sie durch gesinnungsmäßige Rücksichten verwirrt wird, die nicht in die Kunst hineingehören. Ist der deutsche Geist kräftig genug, um dem modernen Leben seine eigene Gestalt in Bauten, Geräten und Kleidung zu geben, so wird diese seine Leistung ganz von selbst und ohne besondere Mühe sowohl deutsch sein wie europäisch. So wird sie, indem sie eigene Art zum Ausdruck bringt, zugleich Werke schaffen, die auch der Weltmarkt brauchen kann. Die Frage der deutschen Form, der deutschen Werkkunst ist überhaupt keine Frage des Programms, sondern eine Frage der Leistung. Es scheint, als ob der reichere Boden des modernen Deutschland einen kräftigeren und kühneren Willen erzeugt hat zu eigener Gestaltung ungestalteter Dinge, zum Hinüberziehen von Gebieten, die bisher der geistigen Formung zu widerstreben schienen, in das Reich gebildeten Lebens. Auf diesem Wege werden solche Eroberungen, solche Befreiungen errungen. Von der Imitation und Abhängigkeit kommt man nicht los, indem man sich aus der Befreiung eine moralische Pflicht macht. Das reicht nicht, und man verfällt, wenn weiter nichts als dieser gute Wille einen regiert, in neue Abhängigkeiten oder vollständige Formlosigkeit. Unabhängig macht nur die schöpferische Kraft, nicht das Programm. Es sind Anzeichen dafür da, daß wir solche schöpferischen Kräfte unter uns haben. Verlassen wir uns auf sie, ohne sie durch Maßstäbe zu beirren, die aus anderen seelischen Gebieten genommen sind als dem der Kunst. Das andere, was dann noch zu geschehen hat und worin ja die zweite Hauptaufgabe des Werkbundes lag: jenen schöpferischen Kräften den Rückhalt einer gesunden großartigen wirtschaftlichen Organisation zu geben, dem Erzeugnis deutschen Schaffens die Wege in die Welt hinaus zu ebnen – dieses andere wird ohne Zweifel nach dem Krieg in größerem Maßstab und in kühnerer Form als bisher in Angriff genommen werden können. Beides aber könnte durch kleinbürgerliche Sentimentalitäten und durch eine gutgemeinte, aber zurückgebliebene und altmodische Form von wirtschaftlichem Patriotismus nur beträchtlich erschwert werden.


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