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Januar 1915
Heute steht in der Zeitung, es sei durch einen Armeebefehl das »Fraternisieren« mit den feindlichen Schützengräben verboten. Gleichzeitig wird erzählt, wie sich in einem Schützengraben in Arras Engländer und Deutsche am 25. Dezember besucht und Geschenke getauscht haben – eines von diesen vielen kleinen Beispielen außer Kraft gesetzter Feindschaft, die in den letzten Wochen Feldpostbriefe und Zeitungen füllten.
Eine andere Geschichte fällt mir ein: ein junger deutscher Professor, jetzt Ortskommandant in einem französischen Dorf, erzählt, wie ihn ein kleiner französischer Bub, den er beschützt hat, an der Hand nahm und zu seiner Mutter führte, und wie sie die Soldaten bei sich bewirtete, nicht aus Berechnung, wie manche andere, sondern weil ihre Kinder ein Herz zu dem Ortskommandanten gefaßt hatten.
Ein ganzer Zug von solchen Begebenheiten, eine die andere nach sich ziehend, hebt sich über die Schwelle der Erinnerung, und gleitet licht und wehmütig schön durch die Bilder von Rauch und Blut und Tod, die die Seele erfüllen.
Ja, gestehe es dir, arme Seele, daß du diese kleinen Beweise von der Überwindbarkeit der Feindschaft sammeltest mit der seligen Begier, mit der du als Kind auf dem winterdürren Rasen knietest und die ersten kurzstengeligen, kaum sichtbaren Schneeglöckchen hervorklaubtest. Gestehe, daß jede neue Blüte, die der steinharte Boden dir schenkt, eine Stunde deines Tages freundlich durchsonnt. Gestehe dir, wie hart du trägst an der schweren, schweren Last des Hasses!
Vielleicht bin ich zu klein und zu schwach für diese gewaltige Zeit? Hundertmal habe ich mir selbst unrecht gegeben: rührselig, sentimental, weichlich. Der Herr kommt im Sturm – kannst du die Herrlichkeit und Leidenschaft des Sturmes nicht fassen?
Aber die Seele hat ihre Gegenrede: Es ist ja nicht der Kampf und der Tod, der auf mir lastet.
Die Heldentaten unseres Heeres, die Strategie der Führer, die kühnen Listen unserer Unterseeboote – da ist nichts in meinem Gefühl, was mir den Stolz, die Siegesfreude verböte, und meine Seele fühlt sich frei und rein dabei. Wir messen uns, Volk gegen Volk, Faust gegen Faust, Intelligenz gegen Intelligenz, Leben gegen Leben, jeder mit dem gleichen Einsatz, jeder um den gleichen Preis. Da ist nichts, was das Gefühl beleidigt und verwundet. Im Gegenteil: es erlebt stolz und ehrfürchtig die Größe des Krieges, der das Äußerste an Willen, Hingabe, Selbstüberwindung, an geistiger Kraft und Leistung von unserem Volke erzwingt. Es spannt sich mit in der stählernen Lust dieses unerhörten Wettkampfes. Es ist beglückt, sich dazu rechnen zu dürfen, Partei zu sein, mitzuhelfen, innerlich und äußerlich, zu dem einen klaren, handgreiflichen Ziel: Sieg.
Aber etwas kriecht wie ein Gift in diesen freudigen, quellklaren Stolz. Etwas hängt sich wie Blei an die Schritte, macht sie müde und trostlos. Etwas dringt in die Seele und macht sie bluten wie von dem Speer des Amfortas: der Haß – oder nein, vielleicht ist das ein zu hohes Wort für ein niedriges Gefühl: die Gehässigkeit. Trifft sie um so tiefer, weil wir in einer Welt hoher starker Gefühle leben, weil alles um uns und in uns größer, heiliger ist als sonst? Wir möchten die Liebe und den Glauben festhalten, die uns durch diese Zeit voll Blut und Tränen tragen, und fühlen dies kostbarste Besitztum unserer Seele erstarren unter dem Gifthauch dieses Hasses.
Denn gestehe dir auch dies – du wirst getroffen durch diese Pfeile der Entstellung und Verleumdung, durch diese schonungslose, listige Herabsetzung. Ich habe versucht, ihnen standzuhalten, mich »abzuhärten«. Ich habe französische und englische Zeitungen gelesen, die Schrift der Oxforder Professoren und das Journal de Genève. Ich wollte nicht feige die Augen zumachen, ich wollte lernen, gleichmütig zu werden. Das gehört nun einmal dazu. Laß sie uns schmähen – roh und leidenschaftlich oder unter der glatten Maske einer niederträchtigen »Vornehmheit« – einmal, wenn dies alles Geschichte geworden ist, wird der giftige Dunst über Höhen und Tiefen sich verzehren und das Große wird doch groß sein.
Aber ich werde nicht hart und unempfindlich gegen dies Verwunden wollen. Ich fühle diesen bösen, feindseligen Willen wie einen dunklen, peinlichen Schatten in der klaren Luft, unter der auch ein Völkerkampf gekämpft werden könnte – mit fleckenlosem Schwert, von Held zu Held.
Ich habe es auch anders versucht. In guter, geistvoller Gesellschaft gleiches mit gleichem erwidert. Wenn die Witzworte blitzten und sprühten und man in triumphierender Überlegenheit seines Geistes Schärfe an den Schwächen des Gegners übte, war das nicht eine Genugtuung, eine Erlösung – ein fröhliches Abschütteln aller drückenden und bohrenden Kränkung?
Aber dann zuckt es plötzlich durch die kecke Gehobenheit solcher streitbaren Stunden: Das Wissen um Größe und Güte auch drüben – das Wissen um die Kraft, Hingabe, Arbeit, die Leiden und Siege, die den schweren, langen Weg aller Völker zu ihrer Kultur bezeichnen. Erinnerungen steigen auf an Stunden, in denen uns Geister unseres Feindeslandes schenkend und beglückend nahe kamen, und an unserem Himmel erscheinen die Sterne, die, ob sie gleich in einem Volke aufgingen, doch der ganzen Welt leuchteten, auch mir und Tausenden meines Volkes. Jahrhundert um Jahrhundert hat eine Kette gemeinsamen geistigen Lebens um die Völker geschlungen. Wir können sie nicht zerreißen. Wir können aus unserm Wesen nicht fortschieben, was wir den Großen der anderen, unserer Feinde, schuldig geworden sind. Es ist da; es läßt sich nicht zum Schweigen bringen; es ist ein schmerzlich bohrendes »Aber« in allem, was wir jetzt an Feindschaft, Bitterkeit, Kampflust und Zorn fühlen. Zu sehr haben wir teilgenommen – haben wir Deutschen es mehr getan als andere? – an den Wegen, auf denen die anderen Völker sich ihre Höhen erkämpften, um hinwegsehen zu können über das, was ihre Tüchtigkeit errungen hat, und um nicht mit Widerwillen jenen zuzuhören, die ihre Genugtuung aus der Entstellung und Herabsetzung der anderen speisen.
Und so steht dies beides nebeneinander in meiner Seele: sie ist Partei, sie war es nie so glühend, nie so unbedingt für irgendeine Sache als für Deutschland in diesem Kriege. Sie hat gar nicht gewußt, wie man Partei sein kann, wie ohne Grenzen alle ihre Kräfte aufzugehen vermögen in einem großen Willen. Aber zugleich ist da ein Schmerz, eine Kälte, ein tiefes Widerstreben, wie wenn sie hineingerissen würde in einen trüben Strom von Niedrigkeit, Lüge und Häßlichkeit – von Gefühlen aus einer anderen Welt als der großen und erhabenen, in der sie ihre Kraft findet für das, was die Zeit fordert.
Manchmal aber scheint es mir, als höbe sich ein Vorhang über den Zweifeln und Fragen, als enthüllte er den Sinn auch dieses Zwiespalts. Ich ahne eine strenge Wahrheit, die nicht vom Himmel ist, sondern von der Erde, die nicht aus Geist, sondern aus Fleisch und Blut kommt. Das Vaterland ist keine »Idee«, in deren Bereich alle Gegensätze sich harmonisch lösen und klären, die Liebe zu ihm ist etwas Wesensandres als der klare Amor Dei intellectualis, sie ist Blutliebe, irdische Liebe, Liebe deines Leibes und deiner Sinne zu etwas Leiblichem und Sinnlichem: zu dem Blut deiner Väter, der Erde, die du fühlst, der Luft, die du atmest. Sie ist ein Stück Natur, wild und »jenseits von Gut und Böse«, ein Stück elementarer Selbstverständlichkeit. Ihr Recht kommt ihr nicht aus den abstrakten Zonen, vor denen du gewohnt bist, dich zu verantworten. Ihr Recht ist »Naturrecht« im einfachsten Sinne des Wortes. Vaterlandliebe ist ein dunkler, heißer, reißender Strom, mit allem Urmenschlichen gefüllt, aller unerlösten Leidenschaft, aller irrationalen Glut, allem naturhaften Lebenswillen.
Du sollst ihren ewigen Widerspruch zu den »Menschheitsideen« fühlen und tragen. Aber du sollst dich vor diesem Zwiespalt und den Leiden, in die er dich stürzt, nicht fürchten. Du sollst dich zu deinem Fleisch und Blut bekennen, deiner Luft und deiner Erde getreu sein und die dunklen Lasten mittragen, die allen Erdgebundenen auferlegt sind.