Sagen aus Niedersachsen
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Die 'Waldridersken'

Bisweilen kommt zu den schlafenden Menschen ein geisterhaftes Wesen, der Alb, legt sich den Schläfern auf die Brust und drückt sie so sehr, daß sie sich nicht regen und kaum noch atmen können. Man nennt diese Wesen in Ostfriesland und Nordoldenburg »Walriderske«, anderswo »Nachtmär«.

Wenn der Mensch vor dem Druck der Walridersken sicher sein will, darf er sich beim Schlafen nicht auf die linke Seite, den Bauch oder den Rücken legen. Ferner muß man das Schlüsselloch mit einem Pfropfen verschließen. Auch kann man sich dieser unholden Wesen erwehren, wenn man die Schuhe beim Zubettgehen so hinstellt, daß die Absätze an der Bettkante stehen. Die Walriderske muß nämlich in die Schuhe des Schläfers steigen, bevor sie ihn vom Fußende des Bettes her anfällt. Wenn aber die Schuhe verkehrt stehen, kann der Geist ihm nichts anhaben und muß den Raum durchs Schlüsselloch wieder verlassen, weil Nachtgeister nichts drehen und umwenden können. Wem es gelingen sollte, das Schlüsselloch zu verstopfen, während die Walriderske in der Kammer ist, der hat sie gefangen.

Einmal lag ein kleineres Schiff, das man dort eine »Schnigg« nennt, an der jeverschen Küste vorm Friederikensiel. Bevor der Schiffer mit seinen Leuten zu Bett ging, war er so klug und stellte seine Schuhe verkehrt vor die Koje, damit die Walriderske nicht hineinschlüpfen und ihm nichts anhaben könne. Kaum hatte sich die Schiffsbemannung zur Ruhe begeben, da kam sie auch schon auf einem Besenstiel übers Wasser geritten, polterte von oben in die Kajüte hinein und wollte sich auf dem Schiffer niederlegen. Aber sie wußte nicht, daß er Macht über sie hatte, da seine Schuhe verkehrt vor der Koje standen, und so konnte er sie bei den Haaren ergreifen. Da rief sie:

»Lat mi los min Heer (Haar),
Und fatt mi in min Kleer (Kleider).«

Der Schiffer war dumm genug, ihr Haar loszulassen und sie bei ihren Kleidern zu packen; damit hatte er die Macht über sie verloren, und sie machte sich los. »Hu hu!« schrie die Walriderske und ritt auf ihrem Besenstiel übers Wasser davon. Als der Schiffer und sein Volk morgens aufstanden, konnte man Blutflecken auf dem Schiffe feststellen.

Ein junger Mann hatte viel von den Walridersken zu leiden. Eines Nachts spürte er wieder, wie etwas über seine Füße heraufkroch und ihn drücken wollte. Er ermannte sich, griff zu und erhaschte gerade noch einen Arm, konnte ihn aber nicht festhalten. Die Gestalt verschwand durch das Schlüsselloch in der Tür, von wo sie gekommen war. In der nächsten Nacht nahm er das Ende eines Türriemens in die Hand und wartete, bis die Walriderske kam. Als er sie wieder heranschleichen hörte, zog er den Riemen an, und damit war die Tür versperrt, so daß die Walriderske gefangen war. Als es Tag wurde und Licht in seine Kajüte fiel, sah er auf einem Stuhl ein schönes Mädchen sitzen. Da er noch unverheiratet war, nahm er sie zur Frau, lebte mit ihr mehrere Jahre friedlich und still, und die Ehe war auch mit Kindern gesegnet. Sein Hauswesen führte die Frau zu seiner größten Zufriedenheit, und er fühlte sich recht glücklich bei ihr. Oft bat sie ihren Mann, er möge das Schlüsselloch in der Tür öffnen, oder den Riemen an der Tür nicht mehr festziehen, aber er hütete sich wohl davor. Endlich brachte die Frau ihre herangewachsenen Kinder dazu, daß sie um Mitternacht Schlüsselloch und Riemen frei machten. Doch kaum war dies geschehen, so rief sie

»Wat klingen de Glocken,
Wat stuvt de Sand, In Engelland«

Nun sah der Mann sein Weib, seine Walriderske, nie wieder. Aber solange er lebte, spürte er ihre Nähe und ihr liebreiches Walten. Unsichtbare Hände hielten das ganze Haus in Ordnung, und jeden Sonnabend fand er seine Kleider und die Wäsche der Kinder gereinigt und geplättet auf den Betten liegen.

 


 


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