Sagen aus Niedersachsen
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Die Totschlägerin auf der Kreuzfreiheit

Vor vielen, vielen Jahren diente im Wedekindschen Haus am Hildesheimer Altstädter Markt ein schönes, aber jähzorniges Mädchen als Ladenjungfer. Da geschah es eines Tags, daß sein früherer Verlobter, der es einer anderen wegen treulos verlassen hatte, in den Laden trat und so höhnisch etwas zu kaufen verlangte, daß das Mädchen vom Zorn gepackt wurde, ein zufällig dort liegendes Messer ergriff und es dem Treulosen mitten ins Herz stieß, daß er tot umfiel. »Jeses, Marie un Josep! «, rief der herbeieilende Hausherr, »Mäken, wat häst du anrichtet! Mak, dat du wat biste wat haste up de Friheit kummst, süs biste en Kind des Dodes! « Die Jungfer ließ sich das nicht zweimal sagen und lief, was sie laufen konnte, bis sie glücklich die Kreuzfreiheit erreichte; dort flüchtete sie sich in ein Haus, dessen Bewohner sie liebevoll aufnahmen. Sie blieb in dem Hause und erwarb sich durch Arbeitsamkeit und fleißige Hilfe die Gunst ihres neuen Brotherrn so sehr, daß dieser nichts einzuwenden hatte, als sein Sohn sich die Totschlägerin zur Hausfrau erwählte. So wurde sie Frau, Mutter, ja sogar Großmutter, und lebte glücklich und zufrieden; nur durfte sie das Haus niemals verlassen. Da geschah es einst, daß sie eines Sommernachmittags, auf ihrer Hausschwelle sitzend, ihre zwei kleinen Enkelkinder wartete, als plötzlich, während die Kinder in der Mitte der Straße spielten, ein schwerbeladener Wagen daherkam, der das eine Kind zu überfahren drohte. Sie sprang herzu und rettete es vor dem sicheren Tode, aber nun hatte sie die Grenze der Freiheit überschritten, ward ergriffen und mußte ihr Leben auf dem Rabenstein enden.

 


 


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