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12. Die Seele des reichen Mannes.

Ein fliegendes Blatt des achtzehnten Jahrhunderts.

Mit dem Goldkreuz der reiche Mann sich behängt,
Doch an Jesum Christ nur wenig er denkt.
– Die Zunge mag reden, doch die Seele muß dem Richterspruch stehn.

Es ging zu reichen Manns Hofe der Tod:
»Du mußt mir folgen vorm Morgenrot!«

– »O Tod, o Tod, o laß mich doch leben:
Mein rotes Gold will ich dir geben!«

– »Dein rotes Gold verschmerz' ich leicht;
Du folgst mir, eh' noch die Sonne steigt!«

Da ging zur Beichte der reiche Mann,
Trank Jesum zu aus dem Goldbecher dann.

Des Morgens früh, vor der Sonne schon,
Lag tot der Körper, die Seel' war entflohn.

Die Seele setzt' sich auf des Reichen Mund,
Da verwünschte den Leib sie in selbiger Stund'.

Sie setzt' auf des Reichen Brust sich dann:
»Rat' mir, Gott Vater, wo ich Trost finden kann!«

Sie führten die Seele durchs dunkele Holz,
Wo genug war des Gutes, genug auch des Golds.

Sie setzten zum Wägen sie dann auf die Wage:
»Genug ist gesündigt nun, wie ich dir sage!«

Der Teufel mit mächtiger Stimme spricht:
»Genug nun der Sünden! Trost findest du nicht!

Hast Arme beraubt und thätst Wittibe plündern;
Schießt nieder die Seele! So geh's solchen Sündern!«

Die Seele sich wandte zu des Himmelreichs Thor:
»Hilf mir, Herr Jesus, wie so vielen zuvor!«

Die Jungfrau Marie vor den Richterstuhl trat:
»Lieber Herr Jesus! sei zu streng nicht!« sie bat.

»Laß diese Seele des Blutes empfangen,
Dann kann sie leben ohne Zagen und Bangen!«

Auf die Wage da fielen der Blutstropfen drei,
Allen Geistern der Hölle kam ein Grauen dabei.

Und als nun die Seele gebeichtet auch dorten,
Da schlüpfte sie doch durch des Himmelreichs Pforten.
– Die Zunge mag reden, doch die Seele muß dem Richterspruch stehn.


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