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10. Der Blinde beim Kreuze.

Nur in dieser offenbar unvollständigen Gestalt in einem fliegenden Blatt aus dem achtzehnten Jahrhundert aufbewahrt.

Ich hörte singen ein Liedelein,
Die Gnade will's uns bescheiden,
Vom Herrn Jesum Christ und der Jungfrau Marie,
Das Liedlein gilt ihnen beiden.
– Gelobt sei Gott für seine Gnade! –

Der Sohn sitzt auf der Mutter Schoß
Und erzählt von seinen Träumen:
»Mir träumte die Nacht, daß die Juden mich
Aus dem Wege wollten räumen.« – –

Dann führten sie Jesum die Gassen hindurch,
Zur Schau ihn stellend mit Hohne;
Dann huben sie auf beides, Distel und Dorn,
Machten ihm daraus eine Krone.

Dann führten sie Jesum zum Kreuze hin,
Sie peitschten ihn wund mit Ruten:
»Nun soll ich erleiden den harten Tod
Für die Bösen wie für die Guten!«

Dann hingen sie Jesum am Kreuze auf,
Annagelnd ihn ohn' Erbarmen:
»Nun soll ich erleiden den harten Tod
Für die Reichen wie für die Armen!«

Drauf führten sie her den blinden Mann,
In die Hand ihm drückend den Spieß;
Daß das heilige Blut aussickerte,
In die Seit' er Jesum ihn stieß.

Nun nahmen sie von dem heiligen Blut,
Strichens wohl auf die Augen des Blinden,
Da ward er wieder sehend und sah
In Qualen Jesum sich winden.

»Ach, Herre Gott, Gnade mir armem Mann
Für die schlimmste der Thaten!« so bat er,
»Nun muß ich in die Fremde hindann,
Von Mutter fort und Vater!

Ach, Herre Gott, Gnade mir armem Mann
Für das, was ich begangen!
Nun muß ich in die Fremde hindann,
Von Freunden wie von Bekannten!«
– Gelobt sei Gott für seine Gnade!


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