Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Aber in der Nacht, als Gunnar auf seinem einsamen Lager ruhte, hatte er wieder einen Traum:

... Binse und er gingen zusammen in einem Walde spazieren ... Sie hatte ihr Kind mitgenommen, ein kleines Mädchen von drei, vier Jahren.

Aber Gunnar war nicht des Kindes Vater.

Und er ging schweigend an ihrer Seite, denn er war ihrer überdrüssig. Da stolperte die Kleine über einen Stein, fiel und schlug sich ein klaffendes Loch in die Stirn, weinte und klagte.

Aber Binse riß sie von der Erde empor, drohte ihr und prügelte sie, bis sie schwieg.

»Willst du schweigen, du scheußliches Mädel!«

Und das Kind schwieg unter stillem, jammerndem Schluchzen.

Aber Gunnar ergriff Binse hart am Arm und machte ihr Vorwürfe wegen ihres Betragens.

»Wer ist der Vater des Kindes?« fragte er.

»Weiß nicht!« sagte Binse und lachte mit ihren leuchtenden Augen und weißen Zähnen. »Aber du kannst die Range gerne haben! – Bitte!«

Und sie legte ihm die Kleine in den Arm und ging fort.

Und ringsum aus den Zweigen der Bäume erklang höhnisches Gelächter, und Frauengesichter lugten schadenfroh, verzerrt und triumphierend hervor ...

Aber er ging weiter durch den Wald, das Kind an sich gedrückt. Er suchte nach Wasser, um es zu waschen, denn das Blut lief ihm aus der Stirnwunde über die Brust.

Da lachte das Kind plötzlich ein gluckerndes Lachen mit seinem breiten Munde, und er sah, daß es seiner Mutter leuchtende, begehrliche Augen und seiner Mutter schwarzes lockiges Haar hatte.

Und er wollte es von sich schleudern, konnte es aber nicht. Es schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm mit der Stimme seiner Mutter unzüchtige Worte ins Ohr.

Und er wurde von nagendem Schmerz ergriffen ... Sie standen in einem großen gewölbten Torweg, gemauert aus blutroten Steinen mit schwarzen Fugen, Gunnar und Binses Tochter.

Und der Torweg war angefüllt mit alten und jungen Frauen und Kindern. Und sie dufteten nach Blumen und Brunst.

Und sie lachten und sangen und umtanzten ihn mit wilden unschönen Tänzen:

... Seht, seht!
Er schleppt sich zu Tode
an des andern Kind!
Hurila, hurila, hei!«

Und sie zerrissen ihre Gewänder, die Frauen, und entblößten Rücken und Brust und Bauch und alles, was Frauen sonst gern verbergen.

Und draußen auf dem offenen Platz hinter dem Torbogen wogte eine dichte Schar von Männern jeden Alters. Sie wüteten gegeneinander und drohten und schrien und schlugen sich um der Frauen Gunst und Gabe, wie die Hunde sich beim Nahen des Frühjahrs auf Straßen und Märkten beißen ...

Und die Bejahrten nahmen am liebsten die Kinder in ihre Arme.

Hurila, hurila, hei! ...

Aus dem Torweg hinaus wurde Gunnar gedrängt, mitten unter sie.

Und er sah, daß in einer Ecke des Platzes ein Altar errichtet war.

Und er sah, daß an die oberste Spitze des Altars, wo ein goldenes Kreuz wie Feuer lohte, Männer und Frauen gefesselt waren, sie hingen Seite an Seite, ein Mann und ein Weib, und waren mit um den Hals gebundenen Stricken an dem Fuß des Kreuzes befestigt. Aber nur an den Gesichtern konnte man ihr Geschlecht erkennen, denn ihre Körper glichen Katzenleibern. Und während sie sich unter Schreien und Jammern paarten, zerfetzten sie einander und suchten sich aus den drückenden Banden zu befreien.

Nackte Satyre und Mänaden umtanzten den Altar im Kreise und sangen:

Seht, seht!
Hurila, hurila, hei!

Gunnar schauderte und drückte das Kind fester an sich, wie um es zu schirmen.

Aber da fühlte er plötzlich, daß es seinen Armen entglitt. Und er sah es als eine große schwarze Katze mit blutunterlaufenen, begehrlichen Augen an seiner Seite entlang gleiten.

Und er wurde von Entsetzen ergriffen und rief: Nach Hause! Nach Hause! und entfloh ...

Und er stand im Garten des väterlichen Gutes, ein geöffnetes Messer in der Hand.

Vor ihm, gegen einen Baum gelehnt, stand sein Vater.

Auch er war mit einem scharfgeschliffenen Messer bewaffnet.

Aber zwischen ihnen, gleich einem Zeichen des Friedens, stand seine Mutter.

Und Gunnar erhob sein Messer und verwundete den Vater ringsum, auch an den Armen und Händen. Aber jedesmal, sobald der Alte auf ihn eindringen wollte, schob die Mutter ihren Körper dazwischen wie eine Schutzwehr.

Plötzlich sank sie kraftlos in die Knie und flehte um Gnade und Gnade!

Aber Vater und Sohn stießen sich gegenseitig ihre Messer in Arme, Brust, Hals und Hände!

Und Gunnar sah das Blut aus seinen Wunden fließen. Er verlor das Messer, wollte um Hilfe schreien, streckte die Arme flehend aus und sank zu Boden.

Und da lag er eine Weile bewußtlos mit geschlossenen Augen.

Aber dann fühlte er plötzlich einen stillen, erquickenden, schmerzlosen Frieden seinen Körper durchziehen.

Es war wohl seine Mutter, die neben ihm kniete und ihre milden Hände auf die Wunden legte, die der Vater geschlagen hatte.

Und er schlang dankbar die Arme um ihren Hals und bot ihr die Lippen zum Kuß.

Aber da sah er zwei leuchtende stahlgraue Augen brennen unter rabenschwarzem Haar. Ein blutroter Mund sog sich an dem seinen fest. Ein Körper, weich und geschmeidig und lind, schmiegte sich an ihn. Und während er sich wollüstig zitternd wand und bog wie unter einer Umarmung, hörte er Binses Stimme dicht an seinem Ohre flüstern:

»Mein herrlicher kleiner Junge, so will ich dich haben!«

Und er fuhr auf, tastete mit den Fingern nach ihrem Halse, um sie zu erwürgen ... und erwachte! Und er hörte einen entschwindenden, weichenden Chor singen:

Lieb' ist des Menschen köstlichste Gabe;
Lieb' ist der Erde holdeste Blüte!
hurila, hurila, hei!

Am nächsten Vormittag um zehn Uhr entführte eine Droschke mit einem buglahmen Pferde Gunnar aus dem Gefängnis.

Es war regnerisch, trübe und neblig. Und ihm gegenüber im Wagen, tief in eine Ecke gebohrt, daß nur der Kopf zu sehen war, saß sein treuer kleiner Freund und unzertrennlicher Begleiter. Er hatte das eine Auge verschmitzt zugekniffen, der Knirps, und die Lippen schief in die Höhe gezogen. Und stoßweise, von seinem eigenen glucksenden Gelächter und dem Rumpeln des Fahrzeuges unterbrochen, sagte er:

»Ja, ... von jetzt ab ... machen wir also ... in ... Schönheit ... Güte ... und Wahrheit ... Gunnar Warberg!«


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