Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Draußen in einer der kleinen Nebenstraßen zwischen der Frederiksborg Allee und dem alten Kongevej eine solide zweistöckige Villa aus roten Backsteinen. Sie liegt ein wenig tief im Garten versteckt, und an dem Gitter, das diesen von der Straße trennt, wächst eine dichte mannshohe Ligusterhecke.

Es wohnten zwei Familien in der Villa: im Erdgeschoß die Witwe des Besitzers, des Ministerialdirektors Kammerjunker Banner, mit acht Kindern und einer Schwester. Im ersten Stock ein pensionierter Amtsrichter mit Frau und Tochter.

Abends, wenn die Dunkelheit über Land und Stadt brütete, stahl sich oft ein Lichtschimmer zwischen den Gardinen hinaus, die die Fenster im linken Eckzimmer des Parterre bedeckten, und warf lange weißgelbe Streifen über die Blumen und Rasenflächen des Gartens. Und Gunnar pflegte stets draußen auf dem Wege stehenzubleiben und durch eine kleine Öffnung in der Hecke zu lugen, um zu sehen, ob diese Streifen da wären, ehe er in den Garten ging und mit dem Griffe seines Stockes dreimal schnell gegen das nächste Fensterkreuz schlug.

Er hatte diese Art der Anmeldung selbst eingeführt. Er wollte nicht hineingehen und läuten, da er dann riskierte, daß die Frau Kammerjunker, groß, stramm und schwarzgekleidet, selbst hinauskam und öffnete. Er fühlte sich wie ein Verbrecher vor Gott und den Menschen, wenn er ihr steifes und eiskaltes Gesicht sah. Und gleichzeitig überkam ihn eine leise Versuchung, ihr eine Ohrfeige zu geben. Sie mochte nicht, daß diese »wurzellose Existenz« mit ihrem Sohn befreundet war. Sie hielt ihn sicherlich für imstande, ihre Nachkommen bis ins siebente Glied zu verderben. Der junge Banner hatte es Gunnar selbst lachend erzählt, daß die Frau des Hauses ihn für etwas ähnliches hielt wie das große Tier in Johannes Offenbarung.

Aber die beiden Freunde hielten zusammen. Und Gunnar flüchtete stets zu Tage Banner hinaus, wenn »seine Seele betrübt war«. Denn Tage war wie die sorglosen Vögel des Himmels, die singen und zwitschern von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang – eine Lerche, die mit den Flügeln schlägt und ins Blaue hinein jubelt, nur weil sie lebt.

»Das ist Unsinn, du«, hatte er einmal geäußert, als sie tiefsinnig über Tod und Vergänglichkeit philosophierten, »das ist heller Unsinn, das mit dem Sterben. Wir müssen ja gar nicht sterben! Ja, ihr anderen vielleicht; aber ich sterbe ganz bestimmt nicht.«

Der überströmende Lebensmut des Freundes konnte Gunnar zuweilen ärgern; er nannte ihn dann eine leichtfertige Seele, einen kurzsichtigen Ladenschwengel, der nicht über seine eigene Elle hinaussehen könnte – einen Schlächter ohne Nerven und »Blut«.

Aber die Sache war die, daß Tage eine »gesunde Natur« war, wie man es nennt, ein Kind, sonnenfroh und leichtlebig. Und Gunnar war ein ebensolches »krankes«, ein Träumer, ein Zweifler und – erwachsen. Und doch waren sie nur um sechs Jahre auseinander – achtundzwanzig und zweiundzwanzig.

Tage war cand. jur. Aber da er beim Examen nur eine Zwei bekommen hatte, so bereitete er sich von neuem darauf vor. Er wollte eine Eins haben. In der Familie Banner bekam der älteste Sohn stets eine Eins in der Staatsprüfung, und sie waren alle Juristen: der Großvater war sogar Professor an der Universität gewesen; es waren also »Traditionen« vorhanden. Und schon als Student war der junge Banner vermöge des väterlichen Einflusses provisorisch im Ministerium beschäftigt worden. Und er war während der Krankheit des Alten und in der ersten Zeit nach dessen Tode da oben in den Büros fast unentbehrlich geworden, so gut vertraut mit den Geschäften hatte er sich gezeigt. Er hätte sehr bequem gleich nach dem Examen eine feste Anstellung mit der Aussicht auf schnelles Avancement erhalten können. Aber er war ehrgeizig und wollte bis zu den höchsten Posten emporsteigen können, weshalb er sich vorläufig mit der provisorischen Anstellung begnügte und aus Leibeskräften studierte, um sich im Frühjahr wieder zum Examen stellen zu können. Man erzählte sich, daß er mit den Füßen in kaltem Wasser bei der Arbeit säße, um bis spät in der Nacht munter bleiben zu können.

Sieben Geschwister hatte er, vier Brüder und drei Schwestern. Und da er aus einer alten patrizischen Beamtenfamilie war, hielt er sich nach dem Tode des Vaters für das männliche Oberhaupt der Familie. Er hatte die Stube des Alten in Besitz genommen und saß nun da, umgeben von hohen Regalen voll Büchern und in einem bequemen gepolsterten Lehnstuhl vor einem gewaltigen Schreibtisch aus Mahagoni, und erteilte seinem Hausstande Audienz.

Gunnar hatte sich oft daran ergötzt, wenn er ihn daheim in seiner Würde beobachtete, wie er Ratschläge und Ermahnungen und leichte Ohrfeigen an die jüngeren Banners austeilte, die im Hause umherlärmten. Und der Bursche wußte sich in Respekt zu setzen. Aber doch konnte er zuweilen ein paar Worte darüber fallen lassen, daß all diese Familierei ihn ermüde und zerstreut mache. Und jedesmal riet ihm Gunnar, von der ganzen Unruhe fortzuziehen. Dann lachte Tage und sagte:

»Ja, ich werde wirklich mit Mutter darüber sprechen. Ich kann ja sagen, daß du es für das Beste hältst.«

Die Bekanntschaft beider hatte auf einem Treppenflur begonnen und zwar, als Gunnar noch in der Buchhandlung arbeitete. Er bewohnte damals eine Dachstube bei einer Predigerwitwe, Frau Petersen, im alten Kongevej Nr. 98. Und ihm gegenüber auf der anderen Seite der Treppe bei einem Holz- und Kohlenhändler wohnte Tage Banner stud. jur., wie auf der Visitenkarte an der Türe stand.

Anfangs hatte Gunnar sich über diesen feinen, adelig klingenden Namen geärgert. – Und er hatte es sich fest vorgenommen, nichts mit diesem »Wichtigtuer« zu schaffen zu haben. Aber da eines Abends, als er spät vom Repetitor nach Hause kam (er bereitete sich auf das Abiturium vor, während er gleichzeitig seinen Obliegenheiten in der Buchhandlung nachkam), steht vor seiner Tür ein lächelnder blondlockiger und blauäugiger Knabe mit einer Studentenmütze auf dem Kopf und grüßt:

»Habe ich nicht die Ehre, Herr Warberg ...«

»Ja.«

»Mein Name ist Banner.«

»Hm ...«

»Ich war schon bei Ihnen drüben, aber Sie waren nicht zu Hause. Sagen Sie, könnten Sie nicht so gut sein, mir etwas Tabak leihen? Ich erwarte heute Abend ein paar Kameraden, und nun sehe ich, daß ich kein bißchen habe. Und der Zigarrenhändler hat geschlossen. Könnten Sie mir nicht ein wenig leihen? Bloß bis morgen.«

Gunnar sah den Burschen von der Seite an. Er sah gar nicht adelig aus: eine untersetzte, etwas eckige Gestalt, ein rotwangiges frisches Gesicht und große kluge Augen. Nein, keine Spur adelig.

Dann murmelte Gunnar so etwas wie, daß er nachsehen wolle. Und Tage bekam fünf bis sechs Hände voll Tabak aus seinem Beutel.

»Es ist nichts Besonderes, kostet nur eine Krone das Pfund.«

»Und ich rauche ihn für fünfundneunzig!« lachte Banner, »Hören Sie mal, hätten Sie nicht Lust, zu mir hinüberzukommen? – Spielen Sie L'hombre?«

»Nein.«

»Aber Whist?«

»Ich spiele gar nicht Karten.«

»Ja, aber dann kommen Sie eben und trinken einen stillen Grog. Sie können ja wieder gehen, wenn Sie sich langweilen. Ach, kommen Sie, ja? Ich habe so oft zu Ihnen herübergehen und Ihnen guten Tag sagen wollen, aber Sie sehen immer so gefährlich bös aus, wenn man Ihnen begegnet!«

Warberg lächelte:

»So–o?«

»Dann kommen Sie also? Aber Sie müssen sich selbst eine Pfeife mitbringen, denn ich habe nur drei.«

Seht ihr, natürlich war es schon lange Gunnars heimlicher Wunsch gewesen, mit diesen Studenten zusammenzukommen, in deren Kreis einzutreten er beabsichtigte, aber wie alle »verfehlten Existenzen« war er mißtrauisch und hielt auf seine Würde.

Aber als er zu Abend gegessen hatte (Tee und Butterbrot, eigenhändig zubereitet und geschmiert), ging er doch hinüber und trank einen stillen Grog in der Nachbarmansarde.

Er fand ganz besonderes Gefallen an Tage, »verliebte« sich geradezu in ihn infolge seines kecken frischen Gesichtes und seines immer regen Humors. Und es verging bald kein Tag, an dem sie einander nicht besuchten. Auch drüben in Banners Heim, in die Villa, kam er zuweilen. Und er befand sich wohl dabei, wahrscheinlich, weil er hier diesen momentweisen Drang des Zigeuners befriedigen konnte, im Schoße einer Familie zu sitzen. Ach ja, man ist ja schließlich doch kein ganz verlumpter und gefühlloser Kerl.

Aber weshalb wohnte nun Tage Banner nicht zu Hause? Ja, seht ihr, der alte Kammerjunker und Ministerialdirektor war ein vernünftiger Mann, der noch der eigenen Jugend gedachte (ein sehr seltener Fall). Und als der Sohn sein Abiturium gemacht hatte, sagte der Vater zu ihm, nun müsse er sehen, sich in der nächsten Umgegend ein Zimmer zu suchen, da er nun ein erwachsener Mensch sei, der nicht immer beständig Vater und Mutter auf den Fersen sein dürfe. Das Zimmer wollte der Alte schon bezahlen; und um einen Tisch, ein Bett und ein paar Stühle könne er seine Mutter bitten. Die Mahlzeiten solle er zu Hause in der Villa einnehmen, denn das sei das billigste. Aber im übrigen dürfe er singen und Tabak rauchen und L'hombre spielen und Punsch trinken so toll wie er wolle in seiner kleinen Kabuse. Mit dem Studium brauche er sich im ersten Jahre nicht übermäßig anzustrengen, aber er sollte sich in der Staatsprüfung eine Eins holen.

Tage traten jedesmal die Tränen in die Augen, wenn er diese Geschichte von seinem Vater erzählte.

Und er lief herum und sah sich Zimmer an, pfeifend und singend wie ein Star, der sich Starkästen ansieht; und fand zuletzt dieses Dachzimmer bei dem Kohlenhändler. Bekam einige Möbel von zu Hause und zog ein. Und er und Gunnar Warberg wurden dann miteinander bekannt.

Aber nun war der alte Ministerialdirektor vor einem Jahre gestorben, und Tage war in die Villa zurückgezogen, um seine Würde als Familienoberhaupt anzutreten. Sie drückte ihn, das hatte Gunnar lange gemerkt. Er hatte täglich an die vier, fünf Stunden im Ministerium zu arbeiten; und wenn er nach Hause kam, mußte er lernen. Und dann war da ein Schreien und Lärmen, ein Spielen und Zanken von all den herrlichen Kindern Gottes und ein Schwatzen und Plappern und Referieren und um Rat fragen von Mutter und Tante, daß der unglückliche Bursche oft ganz gegen seine Gewohnheit mutlos und niedergeschlagen war.

 


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