Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Gunnar sockte über den Bürgersteig, an den Ministerialgebäuden entlang. Es war halb acht Uhr morgens, und er mußte zur Schule im Amagerviertel hinaus.

Aber er mochte heute nicht. Er wollte viel lieber einen flinken, kleinen Spaziergang in den Wald machen, um nachzusehen, ob das Laub schon gelb würde. Sollte er – oder sollte er nicht?

Es war ja so schön, daß er die Geschichte mit dem Magen hatte, wenn er eine Entschuldigung für sein Ausbleiben brauchte. Damit hatte er sich früher herausgeholfen, wenn das Bedürfnis nach Extraferien in ihm zu stark geworden war. Und heute erwarteten ihn draußen noch dazu sechs Stunden hintereinander! – Sollte er – oder sollte er nicht?

Er war bis zur Knippelsbrücke gekommen, wo er stehenblieb und ins Wasser hinabblickte: Korken und Fischköpfe und Strohhalme und Papierfetzen und eine alte Haarbürste schwammen eiligst mit dem Strom davon. Auf einem Schiff, das am Bollwerk lag, ging ein Knabe, spülte das Deck und pfiff dabei. Nun gab der Brückenwächter das Signal, und die Ketten wurden über die Brücke gespannt. Eine kleine Jolle sollte ein Schiff hindurchbugsieren. Das konnte ja ewig dauern. Die Wagen, die aus der Stadt hereingerollt kamen, hielten auf ein Zeichen, das sich die Kutscher untereinander gaben, indem sie die Peitschen senkrecht über ihren Köpfen in die Höhe hoben.

Ein einzelner Fußgänger sprang über die Sperrketten und eilte in langen Sätzen über die Brückenklappen, die sich schon zu heben begonnen hatten. Der Wächter fluchte, und das Publikum lachte. Ein kleiner Hund, der mitten auf die zunächst liegende Brückenhälfte geraten war, blieb stehen und sah sich ratlos um. Die Brücke ging immer mehr in die Höhe, der Hund klammerte sich mit den Pfoten fest, und die Haare sträubten sich ihm vor Schreck. Aber erst, als die Klappe fast senkrecht stand, gab er die Sache verloren, setzte sich auf den Hintern und rutschte, von einer Staubwolke umgeben, herab. Große und allgemeine Begeisterung bei den Umstehenden. Nur eine alte, sentimentale Dame mit einem verblichenen französischen Schal sagte: »Das arme Pusselchen!«

Warberg hatte nun seinen Entschluß gefaßt. Das Aufziehen der Brücke hatte den Ausschlag gegeben. Er machte energisch kehrt und ging ins »Café Bourse« an der Ecke. Hier verlangte er eine Tasse Kaffee und eine Postkarte. Er saß in der Mitte des Cafés. Aber wenn er den Kopf erhob, konnte er auf die Straße hinausblicken. Und er sah mehrere seiner Kollegen zu ihrer Fünfzig-Pfennig-Tätigkeit in der Schule hinauswandern. Da ging der Leutnant, und da ging der Magister. Sie hatten morgengraue Gesichter und machten den Eindruck, als ob sie mit dem linken Fuße zuerst aufgestanden wären. Gunnar nickte ihnen zu und blinzelte schelmisch mit einem Auge.

Dann schrieb er auf die Postkarte:

»Lieber Herr Schulvorsteher Möller!

Ich bitte Sie dringend, mein heutiges Fernbleiben von der Schule zu verzeihen; aber gerade als ich mich aufmachen wollte, bekam ich einen heftigen Anfall meines alten Magenleidens.

Ihr ergebener

Gunnar Warberg.«

Er schrieb an Herrn Möller, weil er wußte, daß dieser soviel Mensch war, um sich späterhin in einem lyrischen Augenblick mit dem richtigen Zusammenhang der Angelegenheit sehr wohl auszusöhnen.

Dann bezahlte er und ging.

Er ging längs der Börse auf Kristiansborg zu. Der Wagenzug über die Knippelsbrücke war verschwunden. Nur ein einsamer Straßenbahnwagen rollte davon und ihm auf den Fersen eine Droschke.

Warberg fühlte sich froh und frei. Er wollte mit der Bahn nach Klampenborg fahren und dann über die Fortuna und Ordrup nach Charlottenlund gehen. Aber er wollte allein hinaus.

Mochten die Götter verhüten, daß er Binse oder irgendein anderes lebendes Wesen träfe, das ihn begleiten könnte! Richtig: Binse! Sie wollte sich ja heute mit ihm treffen, wenn er um zwei Uhr aus der Schule kam. Was er sich daraus machte! Er konnte ja morgen zu ihr gehen und ihr einen Kuß geben, dann war die Geschichte in Ordnung – wenn sie nicht heute abend zu ihm hinausgestiefelt kam! Er hatte ihr ja versprochen, ihr die Zensur des Stückes zu zeigen, das er zurückbekommen hatte. Ach ja! Aber eine Freikarte zum Theater hatte er doch gekapert! – – Er lachte bei dem Gedanken an den kleinen Theaterdirektor, der sich selbst beim Nacken gepackt und im Zimmer hin und her gerannt war und düster ausgesehen hatte, um einen »modernen« Schriftsteller in Tätigkeit zu demonstrieren. Den konnte man in einer Posse verwenden!

»Denken Sie, ich will mir meine Abonnenten aus dem Hause graulen, Mann?« näselte er. »Oder wollen Sie vielleicht Hoffmannstropfen zu jedem Billett zugeben? Weshalb muß nun alles so fürchterlich traurig sein, was ihr heutzutage schreibt? Seht doch die großen Dichter an, Shakespeare zum Beispiel, er stopfte doch immer etwas Lustiges dazwischen! Aber wenn ihr schreiben wollt, dann ...«

Hier geschah es, daß sich die kleine Porzellanfigur beim Nacken gepackt hatte und auf dem Brüsseler Teppich in seinem Kontor im Sturmschritt auf und ab gelaufen war.

Gunnar hatte sich in den Schnurrbart beißen müssen, um nicht hellauf zu lachen. Und bald darauf war der Mann vor ihm stehengeblieben und hatte ihm seine weiße Hand mit den Fettsäcken und den Perlmutternägeln auf die Schultern gelegt:

»Aber es steckt Talent in Ihrer Arbeit, junger Mann, viel Talent, wie der Zensor ebenfalls schreibt. Und in Anbetracht dessen will ich Ihnen ein kleines cadeau machen! Sie sollen zweimal wöchentlich freien Eintritt in unser Theater haben. Es ist für Sie von Nutzen, wenn Sie gute Komödie sehen.«

Und Gunnar hatte sich verneigt und bedankt und war fortgegangen mit dem »cadeau« in der Tasche. Es war doch immerhin etwas! Und, Herrgott, dieser alte Apfel der Iduna kämpfte schließlich für seine Überzeugung!

Aber eines ärgerte Gunnar außerordentlich, und zwar, daß der Direktor gerade in diesen Tagen auch Binse ein Freibillett für »unser Theater« gegeben hatte, und für eine Arbeit, die ... na, ein Schuster schimpft ja immer auf den anderen ... Aber was sollten Frauenzimmer mit Freibilletts? Dadurch wurden sie bloß noch »stelzfüßiger«! – Und es muß nun ein für allemal konstatiert werden, daß die Weiber eine untergeordnete Rasse sind, sie bestehen nur aus Körper und Mundwerk! Denn auf dieser Basis kann man ganz bequem alles Lebende in vier große Hauptklassen einteilen: Pflanzen, Tiere, Frauenzimmer und Menschen – und diese Klassifikation benennen das Warbergsche System!

Draußen auf der Station Klampenborg löste Gunnar sich ein Retourbillett dritter Klasse. Dann setzte er sich in einen der offenen Wagen in eine Ecke, von der aus er auf den Perron hinausblicken und die Passagiere betrachten konnte. Es waren zu so früher Tageszeit nicht viele. Ein paar Frauen aus dem Vorort Skovshoved, die schon ihre Waren abgesetzt hatten und nun nach Hause fuhren und ihre häusliche Tätigkeit beginnen wollten – zwei Rangen und Kaffee kochen für den Mann. Sie trugen dunkelgrüne halbwollene Kleider, Holzschuhe oder Pantoffeln an den Füßen und eine leuchtend weiße Kopfbedeckung, die in Form einer Kapuze das Antlitz überragte. Und auf dem Rücken trugen sie einen länglichen Korb, der wie ein Tornister mit Riemen über den Schultern befestigt war. Sie hatten frische, gesunde und hübsche Gesichter. Und Gunnar entdeckte, daß er sie mit Behagen und Achtung betrachtete.

Es war also nur die »Dame«, die er »haßte«. Die Dame, dieses Monstrum, das der Teufel einmal in einem besonders feurigen Moment geschaffen hatte, den Männern zum Ruin und den Kindern zum Verderb.

Das Einsteigesignal ertönte zum ersten Male.

Und ein blaugefrorener, früh aufgestandener Herr mittleren Alters, den Rockkragen bis zu den Ohren hochgeschlagen, schlenderte auf den Perron hinaus und kletterte in ein Coupé zweiter Klasse. Er hatte wahrscheinlich eine bewegte Nacht in der Hauptstadt hinter sich und wollte jetzt zu seiner Villa in Gottes freier Natur hinaus, um zu schlummern.

Ein paar junge Männer in Arbeiterkleidung und ein älterer bläßlich-fetter Herr mit Zylinder und einem Gesicht wie ein kranker Frosch kamen in den Wagen zu Gunnar. Die Arbeiter setzten sich neben die Skovshovedfrauen, der Herr dagegen fiel auf der Bank Warberg gegenüber nieder. Indem er sich setzte, stieß er die Luft durch die Nase aus, und es klang wie: Tschums!

Es läutete zum zweiten Male –

Eine lange schwarzgekleidete Dame stürzte durch die Vorhalle hinein, ein kleines Mädchen hing ihr, eine Elle weit entfernt, an der Hand. Die Dame schwitzte, und das Kind schrie, daß es nicht mehr könne.

»Schämst du dich nicht, Kathinka!«

»Hier ist Platz, Frauchen«, sagte ein Schaffner und öffnete die Tür des Coupés, in dem sich der Villenbesitzer befand.

»Nein, ein Damencoupé«, stöhnte die Frau. »Ich bin ganz aufgelöst! ... Willst du still sein, Kathinka!«

Es läutete zum dritten Male. Und die Glastüren zum Perron wurden geschlossen.

Aber gerade als der Zug sich in Bewegung setzte, sah Gunnar wie in einer Vision eine rasende Männerphysiognomie drinnen hinter den Perrontüren von einer Scheibe zur anderen fahren, die Stirn gegen die Sprossen schlagen und die häßlichsten Grimassen schneiden.

Es war eine Renaissancenatur, die zu spät zum Zuge gekommen war.

»Ich kann's nicht begreifen, daß man nicht aufstehen kann, wenn man mit der Eisenbahn weg muß!« äußerte der bläßlichfette Herr und blinzelte empört mit seinen hervorstehenden Froschaugen, deren Deckel in Falten lagen. Und wieder stieß er die Luft hart durch die Nase aus.

»Nein«, sagte Gunnar. »Es ist auch merkwürdig.«

Aber er wandte gleichzeitig den Kopf ab und blickte hinaus auf die vorübergleitenden Villen und turmhohen Häuser. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht vertragen, obgleich etwas unendlich Ehrbares und Gutmütiges über den bläßlichfetten sackigen Zügen und den großen wasserblauen Augen ausgebreitet war.

»Tschums!« fuhr der Fremde fort. »Ich bin seit sechs Uhr auf. Das bin ich nun so gewöhnt seit meiner Jugend.«

»Gewiß, das ist ja verschieden«, sagte Gunnar ins Blaue hinein und steckte die Hand in die Brusttasche, um etwas Lesbares zu finden, hinter dem er sich verbergen könne. Er bekam das » cadeau« des Direktors zu fassen und begann es eifrig zu betrachten.

»Mit Verlaub, ist das ein Billett zum Kastellwall?«

»Ja«, sagte Gunnar und steckte das Kuvert schnell wieder in die Tasche, aber gleichzeitig bekam er das Schreiben des Zensors in die Finger, das er in die Tasche gesteckt hatte, um es Binse bei ihrer Begegnung zu zeigen.

»Wir haben auch eine Karte gehabt«, fuhr der Bläßlichfette unverdrossen fort, »aber seit ich das Geschäft abgegeben und die Villa hier draußen gekauft habe, ist es ja nicht mehr nötig.«

Warberg antwortete nicht, sondern breitete das Papier aus und las, wohl zum siebenten Male, die »Empfehlung« durch:

Theaterzensur.

Kopenhagen, den 25. September 18..

»Auf Verlangen des Herrn cand. Phil. G. Warberg kann ich hiermit bezeugen, daß ein von ihm im vergangenen Frühjahr dieser Bühne hier eingereichtes Drama eine ungewöhnliche schriftstellerische Begabung in der Richtung frischer selbständiger Auffassung und realistischer Darstellungsgabe zeigte. Die wesentlichste Ursache, weshalb ich das Stück nicht zur Annahme vorschlagen konnte, war das gewählte Hauptmotiv, das, übereinstimmend mit der pathologisierenden Richtung, die heutzutage bei Dichtern wie Malern üblich ist, eine Geisteskrankheit war, deren Entwicklung und Verlauf meiner Auffassung nach nicht vor das Forum eines Theaterpublikums gehört. Dagegen waren die formellen Vorzüge in der Zensur ausdrücklich anerkannt.«

Sebastian Scharff.

Ja, das ist nun alles sehr gut und schön, dachte Warberg, aber was nützt das, ein ungewöhnliches schriftstellerisches Talent in der Richtung frischer selbständiger Auffassung und realistischer Darstellungsgabe zu sein, wenn die ganze materielle Ausbeute sich auf ein Freibillett beschränkt, das man nicht einmal weiterverpachten darf!

Und er begann, ein wenig mißmutig, das Dokument wieder durchzustudieren. Nun kannte er es bald auswendig.

Der bläßlichfette Mann saß und starrte sein Gegenüber fest und andauernd an; manchmal in fast regelmäßigen Zwischenräumen hörte man sein: tschums!

Der Zug hatte bei Nörrebro und Hellerup gehalten. Und nun schlenderte er nach Charlottenlund davon.

Warberg sah aus dem Fenster und erblickte ein seltsam stilisiertes Holzhaus, das er nie vorher bemerkt hatte, in einem kleinen, frisch bepflanzten Garten unmittelbar am Bahndamm. Er wandte den Kopf und verfolgte es mit den Augen, als der Zug vorbeiglitt.

»Ja, das ist von drinnen, von der Ausstellung«, erläuterte der Herr mit den Froschaugen mit einem galanten Zusammenklappen des Oberkörpers. »Aus der norwegischen Abteilung. Und ich war auf der Auktion, um es zu kaufen. Aber es stieg bis an die zweihundert, und da ließ ich es Kvist nehmen.«

»So«, nickte Gunnar und entriß sich seinen tristen Gedanken, »und weshalb ließen Sie es Kvist?«

»Ja, denn sehen Sie, ich wollte es für den Garten meines Sohnes in Brede haben; aber man kann sie ja von Christiania für hundertfünfunddreißig kriegen, mit Fracht und allem.«

»So, Sie haben einen Sohn in Brede? Was ist er da?«

»Er ist Landmann«, sagte der Bläßlichfette und streckte die Hemdenbrust heraus. »Ich habe ihm hier vor ein paar Jahren einen Hof gekauft mit fünfundvierzigtausend Auszahlung und dreiundsechzig bei der Obervormundschaft zu dreiundeinhalb. Ich will Ihnen sagen, ich habe ja beim Geschäft ein bißchen was zurückgelegt.«

»So, das ist ja angenehm.«

»Und da übernahm mein jüngster Sohn das Geschäft, und ich kaufte mir eine Villa hier draußen in Taarbaeck ... Ich bin der Tuchhändler Smith aus der Silkegade, wenn der Herr das Geschäft kennen.«

»Sehr gut, ja! Das ist ja sehr ... das ist ja sehr bekannt!«

»Ich habe auch fünfundvierzig Jahre in demselben Laden gesessen, und das Haus gehört mir. Ich fahre ja gewöhnlich herein und sehe nach Christian, wie es geht, und helfe ihm ein bißchen, denn ich verstehe es doch, hähä! Aber sonst pussele ich doch meist hier draußen an der Villa herum, denn wir haben einen ziemlichen Garten.«

»Sie wohnen im Winter in der Stadt, Herr ... Herr ... Smith?«

»Ja, im ersten Stock, ja. Da haben Mutter und ich unsere Zimmer. Christian ist verheiratet, wir essen dann bei ihm.«

»Ja, natürlich! Gewiß, man muß im Winter in der Stadt wohnen. Ich bin schon hineingezogen.«

»So früh ... tschums!«

»Ja–a, sehen Sie, die Varietés, die Theater! Das ganze Leben!«

»Ja, natürlich, ja! ... Wenn's erlaubt ist, darf ich fragen, was Sie sind?«

»Ich bin auch Landmann.«

»So–o? Das ist ja nett! Das wird meinem Sohn Spaß machen ... Darf ich fragen ...?«

»In Jütland.«

»So, in Jütland? So! Darf ich fragen, ob ich die Ehre haben kann, Ihren werten Namen zu erfahren?«

»Brockdorff ... v. Brockdorff auf Saedingehof ... Ich fahre dritter Klasse, weil ich die Luft nicht entbehren kann.«

Der Tuchhändler richtete sich auf und sah mit der tiefsten Verehrung auf sein Gegenüber.

Man war in Charlottenlund angelangt. Ein paar Reisende stiegen aus. Und der Zug rollte weiter.

»Es sind ein bißchen schwere Zeiten für den Landmann«, begann Herr Smith und lüftete in untertäniger Ehrerbietung seinen Zylinder, indem er sich gestattete, das Gespräch wieder anzuknüpfen.«

Gehen wir nun wieder weiter, dachte Gunnar.

»Ja, man klagt freilich ringsum«, sagte er laut und zuckte die Achseln. »Aber wir auf den großen Höfen merken nichts.«

»Nee, nein, natürlich nicht! Aber nun schreibt mein Sohn hier um Geld, weil er seine Viehversicherung decken will ... Pflegt man seine Kühe immer zu versichern?«

»Ja, mein lieber Mann!« lachte Gunnar arrogant. »Das pflegt man!«

»Verzeihen Sie ... ja, ich verstehe mich doch nicht recht darauf«, bat Herr Smith und sah hilflos aus. »Aber er schreibt um viel Geld ... Hören Sie, Herr Graf, Sie können mir wohl nicht sagen, wie hoch die Prämie so im Durchschnitt für jede einzelne Kuh zu sein pflegt ...«

»Für jede Kuh?« wiederholte Gunnar tiefsinnig. »Nein, das weiß ich im Augenblick nicht ... Das ist übrigens auch Sache des Verwalters ... wieviel wünscht Ihr Herr Sohn?«

»Vierhundert.«

»Und wie groß ist der Stand?«

»Er hat fünfundfünfzig Kühe ...«

»Ja, dann ist es freilich unleugbar ein bißchen viel Geld! Aber es kann sich zuweilen lohnen, sogar sehr hoch zu versichern, mein lieber Herr Smith.«

»Ja–a, mein Sohn muß es wohl besser wissen«, seufzte der Tuchhändler tief auf und senkte seine Augenlider wie ein paar schwere Markisen der Sorge über seine braven Gucklöcher.

Warberg empfand beinahe Mitleid mit ihm und wollte ihm gerade ein paar tröstliche Worte sagen, als die Lokomotive pfiff und man in die Station Klampenborg einrollte.

Noch ehe der Zug hielt, sprang Herr Smith heraus, öffnete die Wagentür und verneigte sich mit fest zusammengepreßten Beinen.

»Nein, erst Sie, Herr Smith«, sagte Gunnar und klopfte dem Tuchhändler kordial auf die Schulter.

»Sie natürlich!«

»Herr Graf ... hä, hä!«

»Nein, unter keinen Umständen! Sie sind der Ältere!«

»Tschums!« und Herr Smith hüpfte wahnsinnig lächelnd auf die Plattform hinaus und die Treppe hinunter. Jetzt hatte er jede Versicherungsprämie vergessen! Unten vom Perron aus streckte er die Arme empor, um dem Herrn Grafen behilflich zu sein. Aber Gunnar wich ihnen aus.

»Adieu, Herr Smith«, grüßte er höflich. »Es ist mir ein Vergnügen gewesen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ä–hä, Herr Graf«, stotterte Herr Smith (er stand mit dem Hut in der Hand und war in diesem Augenblick völlig unheilbar geisteskrank) – »das Vergnügen ist gegenseitig! das Vergnügen ist ... tschums! ... vollständig gegenseitig! Mir eine Ehre!«

Warberg lüftete den Hut zum Abschied und drängte sich schnell durch das Häuflein der Passagiere (wohl an die zwanzig, dreißig Stück) bis zu dem Gitter vor, das zu der Haltestelle am Ende der Station führt. Er sah den Villenbesitzer, der immer noch den Rockkragen um die Ohren hochgeschlagen hatte. Und an der großen, aufgelösten Dame mit Kathinka kam er vorbei. Und an den Stovshovedfrauen, die gingen und sich die Körbe auf den ein wenig gebeugten Rücken festschnallten.

Und dann war er draußen.

Aber im selben Augenblick, als er die Gittertür hinter sich hatte, blieb er mit einem Ruck stehen und seine Beine wurden schwer und steif.

Denn dort rechts am Güterschuppen stand dieses mystische unbekannte Paar, das ihn nun bald ein Jahr lang in der Stadt und der Umgebung verfolgte. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren; aber wenn er am wenigsten an sie dachte, tauchten sie plötzlich auf, in den Theatern, auf den Straßen, in den Cafés, im Wirtshaus, in der Straßenbahn. Sie mußten wissen, wer er war, denn in der letzten Zeit hatten sie sich auch draußen in der Amagervorstadt zu zeigen begonnen, wenn er aus der Schule kam. Sie standen auf der anderen Seite der Straße, deuteten mit den Fingern auf ihn, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten und zischelten und – lachten und amüsierten sich über seine augenscheinliche Nervosität. Natürlich war das Weib am frechsten! Ein kleines, untersetztes, breitmäuliges, dreißig-vierzigjähriges Geschöpf mit ein paar stechenden bierbraunen Augen. Der Kavalier dagegen sah noch völlig aus wie ein Kind mit einem bartlosen und hübschen Gesicht. Er schien immer ziemlich verlegen während der Exekution, fast als ob er um Verzeihung bäte für das, woran er sich beteiligte. Aber sie hatte seinen Arm fest unter den ihren gepreßt, und es schien, als ob dadurch etwas von ihrer angeborenen Bosheit auch in ihn eindränge. Man hat ja oft Beispiele dafür gesehen, daß herzensgute und anständige Männer von den schlechten Eigenschaften ihrer Bräute oder Gattinnen angesteckt worden sind, meist natürlich ihrer Gattinnen – denn sie sitzen ja fester im Sattel, die Satane!

Gunnar hatte beobachtet, daß er jedesmal, sobald das Paar seinen Weg kreuzte, Gegenstand verschiedener Stimmungen war. Entweder war er nahe daran, sein Portemonnaie aus der Tasche zu nehmen und ihnen alles anzubieten, was darin war, unter der Bedingung, daß sie verschwänden und ihm nie wieder unter die Augen träten. Oder er empfand Lust, ihnen mit seinem Stock ins Gesicht zu schlagen, oder ihn zu nehmen und ihr um die Ohren zu schlagen. Aber zuweilen schleppte er sich auch an ihnen vorbei, mit steifen und lahmen Beinen, aus Angst davor, daß sie sich ihm in den Weg stellen und ihn ansprechen würden.

Und dies war ungefähr seine augenblickliche Stimmung: Er dachte daran, kurzerhand kehrtzumachen, nach der anderen Seite der Station zu laufen und über eine Unmasse von Gartenzäunen und Bretterwänden zu klettern, um ihnen auszuweichen.

Aber das Paar hatte ihn schon erblickt und magnetisiert. Und hinter sich hörte er des Tuchhändlers: Tschums!

Er zwang sich deshalb, den Promenadenweg einzuschlagen, an den beiden Wartenden vorüber, die Arm in Arm an der Bretterwand des Güterschuppens standen.

Er nahm sein Herz in die Hände, wie man zu sagen pflegt, und stolperte davon. Seine Beine schienen ihm schwer und aufgeschwollen und ungeschickt (besonders von den Knien abwärts). Aber wahrscheinlich war sein Gang schnell und leicht wie immer, und kein Uneingeweihter hätte auch nur die geringste Veränderung in seinem Aussehen bemerken können. Er schritt mit erhobenem Kopf und schlenkernden Armen und stieß mit dem Stock kräftig in den Kies des Weges.

Aber er fühlte die schadenfrohen Augen des Paares auf sich ruhen. Und er war im Begriff, sich vor ihnen aufzupflanzen und mit gefalteten Händen flehend zu rufen: »Du allmächtiger Gott, was habe ich euch denn getan! Gebt doch eine Erklärung! Ich kenne euch ja gar nicht!«

Aber er ging scheinbar ruhig weiter. Und während er an der Frau so dicht vorüberging, daß sein Rock fast ihr Kleid berührte, sagte sie flüsternd und ohne die Lippen zu bewegen, aber mit all der sublimen Bosheit, die in Blick, Miene und Stimme eines Weibes liegen kann:

»Stundenlehrer!«

»Tschums!« erklang es in diesem Augenblick von Herrn Smith, dem es gelungen war, Gunnar zu erreichen, »ich gestatte mir, da ich das Glück habe, den Herrn Grafen einzuholen – –«

»Ach, hol' Sie der Teufel!«

»Wie beliebt ...? Müssen der Herr Graf nach rechts oder links?«

»Ich muß nach Göteborg!«

»Nach ...? Soo –oo? Ach ... nach Göteborg?«

»Ja, der Luft wegen!«

»Ja ... ja, da soll freilich die Luft vorzüglich sein ... aber ... ä.«

»Ich fahre mit dem Dampfer von hier nach Kopenhagen und dann weiter nach Malmö.«

»Ja ... ja, das ist eine Route«, stotterte der Tuchhändler, immer verwirrter. Aber dann lächelte er auf einmal artig über das ganze Gesicht und sagte: »Der Herr Graf gestattet vielleicht, daß ich Sie an Bord begleite ...?«

Gunnar blickte ihm starr in die Augen: Es gehört wirklich ein ungewöhnlich grober Keil auf diesen groben Klotz! dachte er. Der Mann machte ihm keinen Spaß mehr.

»Tut mir leid«, sagte er dann, »muß mir leider die Freude versagen! Muß erst in die Anstalt, um meiner Tante, der Baronesse Rosencrantz, einen Kondolenzbesuch zu machen. Hat ihren Lieblingspapagei verloren.«

»Stundenlehrer – – In der Realschule von Amager – – Fünfzig Pfennig die Stunde!« erklang es plötzlich klar und deutlich dicht neben ihm. Er griff sich entsetzt an den Kopf und sah sich um. Es war kein anderer als Herr Smith in der Nähe. Sie standen beide allein auf dem Stege, der vom Stationsgebäude zur Badeanstalt führt.

»Befinden der Herr Graf sich plötzlich nicht wohl?« fragte der Tuchhändler besorgt.

»Doch, doch!« nickte Gunnar. »Aber ... aber, Sie dürfen mir nicht böse sein, Herr Smith, tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich allein!«

»Ja, aber ... kann ich nicht irgendwie ...«

»Nein, danke, nein ... es ist sehr freundlich von Ihnen ... aber adieu!«

»Adieu, adieu, Herr Graf! – Tut mir wirklich leid! ... Freut mich sehr, tschums! ... hoffe, daß es nicht das letztemal gewesen ist?«

Und Warberg blieb allein auf dem Stege zurück.

Er beugte den Kopf und preßte die Hand gegen die Augen. Und er fühlte eine wimmelnde und kribbelnde Bewegung oben in seinem Gehirn. Es war, als ob es sich ausdehnte, als ab es springen sollte. Es hämmerte und klopfte wie mit weichen elastischen Keulenschlägen hinter Schläfen und Stirn. Dann fuhr ihm ein kalter scharfer Schauder den Rücken entlang, und er sah dicht hinter seinen geschlossenen Augenlidern große blaue Ringe in einem blutroten Nebel herumwirbeln.

Und dann war der Anfall vorüber.

Aber, Herrgott, wie er schwitzte! Und wie müde er war! Und die »Forsche« hatte er ganz verloren! ... Es war ja auch wirklich dumm, die Geschichte hier, so plötzlich krank werden zu können!

Eine der Segnungen der Zivilisation! ... Er war überzeugt davon, daß die Hottentotten und Schwanzneger niemals krank waren, falls sie sich nicht zufällig schnitten, ein Bein brachen oder einander Nasen und Ohren abrissen. So in einem Walde zu gehen und seelenvergnügt zu sein, und dann plötzlich ein ganzes Gros Würmer in seinem Gehirn herumkrabbeln zu fühlen, während Himmel und Erde einem vor den Augen schwirrten wie Feuerwerkskörper, das kannten sie nicht, davon war er überzeugt ...

Und er schlich sich ganz gedrückt zum Pavillon an der Dampferbrücke und setzte sich auf eine Bank in der versteckten Laube, so still und nachdenklich wie ein durchnäßtes Huhn, das von einem Gewitter überrascht worden ist.

Na, diese Halluzinationen waren also kein überwundener Standpunkt. Das hatte er doch geglaubt. Aber sie hatten nur eine andere Form angenommen. Das vorige Mal waren es die Augen, um die es schlimm stand ... Diesmal waren es die Ohren ... Aber das war doch so ganz sinnverwirrend plötzlich gekommen, dies hier! Drei ... nein, vier Jahre lang hatte er nichts Ungewöhnliches bemerkt; nur eine leise Müdigkeit in Gehirn und Nacken, wenn er des Abends zu lange gearbeitet hatte ... Damals, als er sich nachts zum Abiturium vorbereitete, während er am Tage im Bücherladen arbeitete, hatten diese »Gesichte« oder richtiger dieses »Gesicht« sich gezeigt. Es kam nie während der Arbeit, sondern stets in den Mußestunden, wenn er saß und nichts tat ... Er entsann sich deutlich des ersten Males! Es war eines Abends, als er im »Schweizer« in seiner gewohnten Sofaecke saß. Er saß ganz gerade und trank Kaffee und starrte über die Kaffeetasse fort. Da sieht er plötzlich, unten auf dem Fußboden, drei, vier Ellen links vom Tisch, eine Katze ... eine ganz graue Hauskatze, die steif und still auf ihrem Schwanz dasaß, wie Katzen zu sitzen pflegen. Im ersten Augenblick kam es ihm spaßig vor: Wie, zum Donnerwetter, kam die Katze hier herein! Dann wendete er den Kopf, um das Tier genauer anzusehen, erdachte, er müsse es kennen; aber da war es verschwunden. Er rief einen der Kellner, es war gewiß Lauritz, und fragte, ob sie jetzt angefangen hätten, Katzen zu halten. Aber Lauritz lachte und sagte nein!

»Ich habe doch aber wirklich eine Katze hier sitzen sehen!«

»Soo–oo? Nein, Herr Warberg müssen sich bestimmt geirrt haben. Ob es nicht am Ende Großhändler Myhlenbergs kleiner Hund gewesen ist? Der Herr sitzt gerade mit ihm drinnen und sieht die Illustrierten Blätter durch.«

»Ja, dann ist es doch vielleicht Großhändler Myhlenbergs kleiner Hund gewesen.«

Und dann dachte er nicht mehr an die Geschichte ... Aber nach ein paar Tagen, vielleicht so fünf, sechs, saß er in der Wohnung eines Kameraden, mit dem er zusammen Latein gelernt hatte, und plauderte mit ihm. Es war gegen halb zwei Uhr nachts, und sie hatten eben ihr Pensum geschafft ... da packte er plötzlich den Burschen hart beim Arm und sagte: »Kannst du sie sehen? Da ist sie wieder!« ... Und dann kam dieses Fürchterliche mit den Würmern im Gehirn und den weichen Keulenschlägen und den schnurrenden blauen Ringen in dem roten Nebel ... ganz wie heute! Und es kam einmal und zweimal und dreimal in immer kürzeren Zwischenräumen. Und er hatte mit dem Studium aufhören und ein paar Jahre als Hauslehrer aufs Land gehen müssen. Und seitdem hatte er nichts bemerkt – – bis heute! Es ist also Überanstrengung wie das letztemal, dachte er. Du bist zu fleißig, Gunnar Warberg; du willst zuviel Geld verdienen, mein Junge! Laß das sein, denn du hast nur ein Fachwerkgehirn!

Und er beschloß, auf einige seiner fünfzig Örestunden draußen in der Schule zu verzichten. Denn im »Kopenhagener« weiterschreiben, das wollte er. Das war der Weg, den er gehen mußte.

Du brauchst dir ja nicht die Butter so dick auf die Semmeln zu schmieren, alter Freund! Und wollen wir sagen: viermal wöchentlich Mittagessen im Gasthaus und im übrigen Blutwurst! ... Und dann eine Serie Sturzbäder!

Er begann sich nun gleichsam ein kleines bißchen zu erholen. Das Gehirn fungierte normal, und die Müdigkeit verzog sich. Er setzte sich auf die vorderste Bank der Laube und sah über das Wasser hinaus. Es schülperte und spielte mit den Planken des Bollwerks und roch so meerähnlich nach Tang und toten Quallen! Ja, sie sind entzückend, die dänischen Sunde, Seen und Fjorde!

Er rief einen Kellner und bekam eine Tasse Kaffee und Butterbrot serviert.

»Fünfzig Öre, bitte schön!«

Und Warberg bezahlte, aß, steckte sich eine Zigarre an und ging.

Zurück durch das rote Tor ging er und in den Wald hinein. Er scheute die offenen Pfade und Wege und ging mitten unter den Bäumen, deren Kronen sausten und sanft über seinem Kopfe sangen. Er hatte den Wald viel lieber als das Meer. Er fand, daß dieses ewige Rollen und Brummen und Schülpern und Spritzen und Das-Weiße-aus-den-Augen-kehren auf die Dauer etwas einförmig und einschläfernd wirkte. Ganz zu schweigen davon, wenn das Wasser ruhig und spiegelglatt dalag und eine brennende Sonne darüberhing, denn da war es gar nicht zu ertragen! ... Und trotzdem liefen alle hysterischen Männer und Weiber herum und schrien nach dem »Meer« und dem »Meer«, daß es einem vernünftigen Menschen schon von vornherein verleidet wurde ... Und schließlich wurde er immer seekrank, wenn er einmal eine Segelfahrt unternahm.

Nein, er hielt sich hübsch an den Wald! Wo nicht zwei Bäume einander glichen, wo die Sonnenstrahlen grünlich-gedämpft zwischen den Zweigen und Blättern herabschlüpften und auf Blumen und Gräsern spielten. Wo die Hasen aus dem Dickicht gehüpft kamen, sich auf den Schwanz setzten, mit den Ohren wackelten und sich vorsichtig umsahen, ehe sie weitergaloppierten. Und dann der Fuchs! diese Advokatenseele der Tierzunft! der mit den Händen auf dem Rücken und zu Boden gesenkter Nase manierlich und brav angetrabt kam, als ob das heilige Grab wohlbehütet sei; der aber mit Augen und Ohren lauernd und mit derselben friedlichen Nase die kleinste Beute viele Meilen im Umkreise witterte.

Und der Dachs! der rundlich und wohlgenährt wie ein Pastor emeritus in der Nähe seiner Villa herumnuschelte und mit leisem, wohlbehaglichem Grunzen in sich hineinknabberte, was sich irgendwie knabbern ließ.

Na, aber hier im Tiergarten gab es gewiß weder Füchse, Hasen nach Dachse. Aber »Tiere« gab es.

Er war gerade auf einen Hügel gelangt, der in einer Ecke der Waldgrenze an der Eremitageebene lag. Es standen einige hohe, breitkronige Buchen da oben; und am Fuße einer derselben ließ er sich nieder, den Rücken gegen den Stamm gelehnt.

Gerade unter dem Hügel grasten zwei scharf getrennte Herden Damwild. Oder richtiger, nur die Ricken grasten, die Hirsche hatten sich einander gegenüber aufgestellt und brüllten mit funkelnden Augen und stolz erhobenen Hälsen. Ab und zu stampften sie mit den Vorderfüßen auf die Erde, beugten die Köpfe und rissen mit ihrem zackigen Geweih große Grasstücke los und schleuderten sie in die Höhe, wenn sich eine der Ricken zu weit von der Schar entfernte, lief der Hirsch zu ihr und stieß sie mit dem Maul in den Kreis zurück. Dann stellte er sich wieder in kriegerische Positur und brüllte seinen Gegner herausfordernd an.

Gunnar saß lange und betrachtete die Tiere und wünschte, es möchte zu Handgreiflichkeiten kommen. Aber die beiden Paschas schienen die gegenseitige Stärke zu kennen und zu schätzen und beschränkten sich darauf, zu brüllen und zu Stampfen und Grasfetzen auszureißen, gleichsam um zu betonen, was für Satanskerle sie wären, wenn sie ernstlich daran gehen wollten!

Na! Sie hatten übrigens jeder an die fünfzig, sechzig Frauen; da sollte man ja meinen, daß sie kräftig genug engagiert waren.

Gunnar erhob sich und klatschte in die Hände. Die Versammlung spitzte die Ohren und blickte zu ihm empor. Er klatschte wieder und machte ein paar Schritte hügelabwärts. Eine der Ricken machte kehrt und lief in das Dickicht. Dann folgte eine zweite, und dann eine dritte. Und plötzlich rasten beide Scharen, jede nach einer anderen Seite, fort, und nur die beiden Hirsche blieben allein zurück. Sie sahen sich an, sahen den Menschen oben auf dem Hügel an. Und dann schwenkten auch sie gleichzeitig rechtsum und setzten in langen Sprüngen den Weibern nach. – Den Weg gehen wir ja alle!

Als Warberg unten auf der Ebene angelangt war, ging er zur linken Seite quer darüber hin und zu den Plantagen um die Fortune. Dort erklomm er die Umfriedung, setzte sich auf die oberste Querlatte und blickte über die Landschaft hinaus.

Die große grüne Fläche breitete sich im vollen Sonnenlicht vor ihm aus mit ihren historischen Dornbüschen und ihren einzelnen isolierten Baumgruppen. Ab und zu glitt ein großer phantastischer Schatten über das Gras; es war eine Wolke, die an der Sonne vorübersegelte. Rings umher zu allen Seiten lagen oder standen größere oder kleinere Scharen von Tieren, jede mit einem liebeskranken Pascha als brüllende Schildwache. – Und in weiter Ferne, am östlichen Horizont, ragte die Eremitage auf ihrem Landhügel in die Höhe, wie der Knopf eines ungeheuren Briefbeschwerers.

Gunnar kroch vom Zaun hinab und wanderte zwischen den Bäumen umher. Hier waren keine staubigen Fahrwege und keine zertretenen Pfade. Die jungen Buchen standen, »wie es ihnen paßte«, ihre glatten schlenkernden Zweige entweder hoch in die Luft gestreckt oder zur Erde gebeugt; und Gras und Moos wucherten dick und üppig in den Lichtungen. Hier drinnen war Sommer, kein Herbst zu spüren. Und Gunnar bohrte sich vorwärts durch dicht zusammengewachsenes Buschwerk und Unterholz. Und kohlschwarze leuchtende Drosseln flogen schreiend um ihn empor, während Blätter und Zweige ihm um die Ohren schlugen und die Dornen ihm Anzug und Hände zerrissen. Aber er summte trotzdem vergnügt:

»Bumfallera!

Die Welt, die Welt ist wunderschön!

Das heißt, manchmal«, fügte er vorsichtig hinzu, als ob er Furcht habe, daß ihn jemand beim Wort nehmen könne, »manchmal, wenn man wirklich allein ist und Ruhe hat vor Menschengefasel und Frauenzimmern!«

Dann blieb er stehen und lauschte: hinter ihm raschelte das Gebüsch und schwere Füße trabten durch das weiche Gras. Und er wandte sich um und wäre durchaus nicht erstaunt gewesen, wenn sich ihm plötzlich ein Bär oder Luchs gezeigt hätte. In solch idyllischer Stimmung war er.

Aber als die Zweige endlich zur Seite gebogen wurden, stand vor ihm nur ein kleiner, bäuerisch gekleideter Mann in Strohhut und Holzschuhen und mit einem großen blankleuchtenden Messinghalbmond an einem Stückchen Bindfaden auf der Brust hängend. Auf dem Mond stand: Forstbeamter Nr. 4.

»Tag«, sagte der Mann.

»Tag«, grüßte Gunnar.

»Sind Sie Botaniker?«

»Was?«

»Sind Sie Botaniker?« wiederholte er. »Sonst dürfen Sie hier nicht bleiben!«

»Nicht?«

»Nein ... Aber vielleicht sind Sie Botaniker?«

»Ja–a«, nickte Gunnar. »Ja, gewiß, ja ... ja, das bin ich!«

Er riß ein Blatt van dem nächsten Busch.

»Können Sie dieses Blatt hier sehen?« fragte er und trat auf den Mann zu.

»Sehen Sie ... es ist vierrippig?«

»Ja!«

»Und hat zackigen Rand?«

»Ja!«

»Und ist handförmig?«

»Ja – a ...«

Der Forstbeamte blinzelte ein bißchen unsicher mit den Lidern und spielte zu Warberg hin, der stand und das Blatt aufmerksam von allen Ecken und Enden betrachtete.

»Ja, wenn Sie Botaniker sind ...« sagte er dann, »Wir haben Order erhalten, die Botaniker ruhig gehen zu lassen ... Adieu, Herr!«

»Adieu, adieu«, sagte Gunnar zerstreut und riß ein neues Blatt von einem anderen Busch ab.

Und der Forstbeamte entfernte sich still und vorsichtig, um nicht zu stören.

 


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