Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Warberg ging weiter durch den Wald.

Plötzlich befand er sich auf einer kleinen kreisrunden, von jungen Tannen umgebenen Lichtung. Sie glich einem Cabinet d'amour für Nymphen und Faune! Ein dicker Moosteppich bedeckte den Erdboden, der sich zu vielen kleinen grasbekleideten Hügelchen erhob. Und rings umher in dem feuchten nadelbelegten Boden unter den hängenden Zweigen der Tannen schimmerten hochrote langgestielte Fliegenpilze hervor.

Warberg blieb stehen und sah auf seine Uhr: Halbeins. Dann konnte er ganz gut noch eine Stunde ruhen, ehe er zur Fortuna hinaufging und zu Mittag aß.

Er legte sich auf den Rücken ins Moos und lehnte den Kopf gegen ein Erdhügelchen. Hier war es so warm und friedlich und stille in dieser Kapelle (nun war es eine Kapelle geworden, schien es ihm), daß man den Drang empfand, ein Paternoster zu beten und eine Zigarre zu rauchen.

Er lag und guckte in die Luft und betrachtete die Wolken, die langsam über seinem Kopf heranschwebten und in der Richtung seiner Füße hinter den Tannen verschwanden. Und es machte ihm Spaß, in den wechselnden Wolken die merkwürdigsten Gestalten und Bilder zu finden.

Reiter zu Pferde mit flatternden Mänteln und wehenden Federbüschen, Drachen mit zackigen Kämmen und seltsam gewundenen Schwänzen, Züge und Reihen von Frauen und Männern in langen, bis an die Füße reichenden Gewändern. Bucklige Tiere mit aufgerissenen Mäulern und klobigen, verrenkten Gliedern, Häuser und Städte und Türme mit zackigen Zinnen und Giebeln ...

Und er ließ die Städte zusammensinken und zu breiten tristen Ebenen, zu leuchtenden Feldern von Schnee und Eis, zu großen, öden, nackten, trostlosen Wüsten werden.

Aber er konnte auch schattige Gärten hervorzaubern mit duftenden Pflanzen und schirmenden Hecken. Und er stellte dann gewöhnlich mitten in den grünsten Rasenplatz eine strahlende, lenzfrische Kastanie auf, die ihre blaßroten Blütenkandelaber hoch in die sonnenzitternde Luft erhob.

Und dann ließ er die ganze Herrlichkeit durch einen Nachtfrost eingehen.

Denn so ist das Leben!

Eine Krähe kam über die Dichtung geflogen. Sie drehte den Kopf und spähte bald mit dem einen, bald mit dem anderen Augen zur Erde hinab. Als sie den Mann da unten auf dem grünen Teppich entdeckte, hielt sie eine Sekunde in ihrem Fluge inne, stieß einen schmetternden Schrei aus und schwang sich in einem Bogen über die Tannen hinweg. Einen Augenblick später folgten ihr wieder ein paar andere, die laut schreiend in großem Bogen über die Lichtung zu segeln begannen. Gunnar lag steif und rührte sich nicht, und nur seine Augen bewegten sich, um das Manöver der Tiere zu verfolgen. Immer mehr Krähen kamen hinzu, spähten zu ihm hinab und stimmten ihren Kriegsgesang an. Sie glaubten, er wäre ein toter Mann, ein Aas. Und plötzlich ließ eine sich ein paar Klafter tiefer zur Erde sinken. Drei, vier Stück folgten ihr. Und bald senkte sich der ganze Schwarm so tief hinab, daß er mit seinen flatternden Flügeln fast die Gipfel der Bäume berührte. Gunnar begann nervös zu werden. Es kribbelte ihm in Händen und Füßen. Aber er rührte sich nicht. Nun schwiegen die Vögel still. Fast wie auf Kommando schwiegen sie alle zugleich. Und er hörte ihren unbeholfenen Flügelschlag und sah sie den Kreis über seinem Kopf immer mehr verengern, immer niedriger herabsinken. Zuletzt waren sie so niedrig, daß er sich einbildete, den Luftdruck ihrer Flügel im Gesicht verspüren zu können. Dann verschwanden sie. Sie hatten sich um ihn herum auf die Erde gesetzt. Aber er konnte sie nicht sehen, da er nicht wagte, den Kopf zu bewegen. Er lag ein paar Sekunden in fast atemloser Erwartung. So stark war seine nervöse Spannung, daß ihm der Schweiß aus der Stirn brach und es in seinen Ohren kochte und sauste. Nun mußten sie dicht bei ihm sein. Es war ihm, als höre er sie im Moose herumtrippeln. Er hörte, wie sie ihre Schnäbel wetzten. Und jetzt sah er eine gerade vor seinem rechten Auge auftauchen. Er sah ihre blinzelnden kugelrunden Augen, er sah sie ihren Kopf zurückbeugen, um den Schnabel in ihn einzubohren ... Da fuhr er mit einem Ruck und einem Schrei in die Höhe und erwachte.

Puh! (er schwenkte die Arme und schüttelte den Kopf) nun hatte er wieder auf dem Hinterkopf gelegen und geschlafen. Dann träumte er immer solche verdrehten Geschichten.

Er stand auf, bürstete die welken Grashalme ab, die an seinen Kleidern hängengeblieben waren, stieß mit dem Stab auf die Erde und begab sich zur Fortuna. Er ging durch die Buchenschonung, erreichte die Hecke, über die er hinwegkletterte, und wanderte dann weiter durch den Wald.

In der Fortuna aß er das traditionelle Beefsteak und trank eine Tasse Kaffee.

Dann ging er durch den Garten, an den badezimmerartigen Lauben entlang, in denen er nur einen einzigen Gast sitzen sah, einen stillen, fetten Herrn, der bei einer halben Bayrischen mächtig schwitzte.

Draußen auf dem Felde hinter dem Garten tummelte sich eine Schar Kinder im Spiel. Warberg nickte ihnen zu, und sie nickten reserviert wieder. Und eines von ihnen, ein kleiner runder Bursche, der mit beiden Händen tief in einem Maulwurfshügel vergraben dasaß, fragte gedankenvoll in die Luft hinaus: »Was das wohl für'n Mann gewesen sein mag?«

Er begegnete nicht einem Menschen auf dem Pfade, der sich zwischen der Tiergartenhecke und der prachtvollen Kluft am Ordruper Moor entlang hindurchschlängelt. Es war ja nicht Sonntag. Erst als er an der Quelle vorbeikam und die Stufen der Böschung hinabstieg, sah er mitten auf dem über das Moor führenden Wege ein einzelnes Paar, einen Mann und eine Frau, im Gespräch stehen. Sie hob hin und wieder den Schürzenzipfel zu den Augen empor. Und er gestikulierte mit großen eindringlichen Gebärden. Eine Zimmeraxt hing ihm über der Schulter. Während Warberg an den beiden vorüberging, legte der Mann seine Hand auf den Arm der Frau und sagte mit der innigsten, tiefgefühltesten Überzeugung:

»Sie können's doch wohl zum Satan in der heißen leibhaftigen Hölle begreifen, Madame Madsen, daß der gerechte Gott Ihre unschuldige Seele von einem Kinde nicht in dem glühenden Vorhofe der Hölle braten wird, weil der Schlappschwanz von Prediger aus Birkeröd ihm nicht den Tropfen Wasser über den Kopf gegossen hat!«

»Nein, ich glaube es auch nicht, Jörgen Svendsen«, sagte sie schluchzend. »Denn das würde doch auch ein zu grausamer Gedanke sein. Aber wenn doch bloß der Prediger eine halbe Stunde früher gekommen wäre – – dann wäre sie doch christlich in die Erde gekommen.«

Mehr hörte Gunnar nicht von ihrem Gespräch. Aber ihm wurde ganz weich ums Herz, angesichts dieser beiden kämpfenden Menschenseelen inmitten des großen einsamen Moores.

Als er auf der anderen Seite des Waldes angelangt war, wandte er sich um und blickte zurück. Die beiden hatten sich voneinander verabschiedet und gingen jeder nach einer anderen Richtung. Die Frau auf den Tiergarten, der Mann auf das Ordruper Gebüsch zu.

Gunnar setzte sich auf eine Bank, um ihn zu erwarten. Er liebte es, mit jedem fahrenden Menschenkinde, das auf der Landstraße des Lebens an ihm vorbeitrabte, ein Gespräch zu beginnen, ihm in die Seele zu schauen, zu hören, auf welche Tonart es gestimmt war und dann weiter zu ziehen. Denn zu mehr hat man weder Zeit noch Veranlassung – hier auf Erden.

Der Mann kam ihm langsam entgegengeschritten, mit seiner Axt auf der Schulter. Er war groß und kräftig, aber etwas vornübergeneigt und geduckt von Alter und Arbeit.

»Der waren wohl Felle weggeschwommen?« sagte Warberg und deutete auf die Frau, während er aufstand und sich dem Holzfäller anschloß. Er kannte seine Leute, er hatte sich ja während seiner ganzen Kindheit unter ihnen bewegt und wußte: je weniger Formalitäten, um so leichter gewinnt man ihr Zutrauen.

»Ja, so'n Schaf«, sagte der Mann ernsthaft. »Sie hat eben erst ihr kleines Kindchen verloren, bevor der Prediger das Wasser über ihm ausgießen konnte, das, meinte sie nun, wird der Seligkeit des Kindes Schaden tun.«

»Das hat, glaube ich, nichts auf sich«, meinte Gunnar.

»Nein, Satan! Natürlich nicht! Der liebe Gott ist doch kein Deiwel! ... Aber die Frauenzimmer sind doch nun einmal so!«

»Haben Sie sie denn beruhigt?«

»Ja–a ... ich sagte ihr doch alles, was sie so meiner Meinung nach im Augenblick erbauen konnte, daß sie doch zum Donnerwetter wohl einsehen könnte, daß Gott der Herr nicht das Wurm in die heißeste leibhaftige Hölle hinunterstopfen würde, weil der Schafskopf von Prediger mit seinem Weihwasser zwanzig Minuten zu spät gekommen war!«

»Und das tröstete sie?«

»Ja–a ... sie ging doch jedenfalls sozusagen ein bißchen gesünder weg ... Was Satan in der heißesten leibhaftigen Hölle, sagte ich, so'n Wurm von Gespenst von einem neugeborenen Kinde kommt, hol' mich der Henker, ganz egal in Abrahams Schoß, ob es getauft ist oder nicht, hat nicht der Erlöser selbst gesagt: Laßt man die kleinen Kinder zu mir kommen! ... Glauben Sie, Madame, habe ich gesagt, daß der allmächtige Schöpfer, hab' ich gesagt, dem Kinde das gerade als Sünde anrechnen wird, daß es seine Seele eine Viertelstunde früher abgeliefert hat, ehe der Pastor mit dem Wasser angerannt kam? So ein Pusselchen, hab' ich gesagt, das hat ja keine Kraft, irgendwas festzuhalten! Nee, wissen Sie was, Madame Madsen, hab' ich gesagt, wenn es schon mit den Unmündigen so krakeelerisch zugehen sollte, denn möchte ich, hol's der Deiwel, man sehr ungern mir vor Gottes Richterstuhl transportieren lassen! ... Na, aber jetzt muß ich hier lang! Adieu, junger Herr, und zeigen Sie nu, daß Sie darüber nachdenken, was ich gesagt habe! Denn Sie sind woll auch am Ende einer von die Stodiosusse Makulatorusse!«

Sie waren an der Stelle angelangt, wo der Weg sich teilt.

Der Holzhacker schlug den über die Felder führenden Pfad ein, und Warberg ging den Hügel hinauf, an Berlings Villa und der katholischen Kirche vorüber.

Er freute sich, daß er dieses Gespräch mit dem Manne gehabt hatte. Solche gesunden unmittelbaren und naiven Worte bestärkten ihn stets mächtig in seinem Glauben an die Lebenstüchtigkeit des Volkes. Denn »das Volk« sind und bleiben zu guter Letzt doch die Hunderttausende in den Hütten und nicht die Zehntausend lebensmüder symbolistischer Dekadenten in Kunst, Literatur, Wissenschaft, Politik, Geistlichkeit und den drei obersten Rangklassen! Herrgott, hatten sie das Leben satt, die Herren, so konnten sie ja hingehen und sich aufhängen! Das war ihnen gestattet, ihre lyrisch-christlichen Kadaverbakterien in gesunde lebenstüchtige Gehirne einzupflanzen! Ja–a, ja–a, er wußte sehr wohl, daß er selbst von dieser Pest der Trübsal angesteckt worden war. Das brauchte man ihm nicht unter die Nase zu reiben. Aber er kämpfte dagegen an, er suchte Heilmittel, er wollte sich heilen lassen! Während die anderen umherliefen und sich darin gefielen, um die Wette zu weinen und zu sehen, wer den größten Topf vollweinen könne.

Er setzte sich auf die Bank oben auf dem Gipfel des Hügels und blickte über die Landschaft hinaus: Vorn ein graugelbes abgeerntetes Roggenfeld. Dann Ordrup mit seinen zerstreuten Gärten und Villen und seiner roten zweispitzigen Kirche, die einer riesenhaften Schnecke mit zwei emporgestreckten spähenden Fühlhörnern glich. Hinter der Stadt wieder Felder und der Strandweg mit den Fabriken von Tuborg. Und ganz hinten, wie ein breites stahlblaues Band am Horizont, der Sund, punktiert von weißen Segeln und schwarzen rauchumhüllten Dampfern ...

Dann rollten plötzlich über seinem Kopfe tiefe schallende ernsterfüllte Glockentöne daher. Es war die katholische Kirche, die irgendein »Ave« oder »Vesper« oder wie es nun heißt, einläutete. Es war Stimmung darin, Mystik und feierliche Pracht. Etwas mit purpurgekleideten breitbrüstigen Prälaten, die unter Weihrauchduft und Orgelgebrause und mahnendem tieftönenden Männergesang auf hohe goldstrahlende Altäre zuschreiten ...

Gunnar schloß unwillkürlich die Augen. Und für eine armselige Sekunde empfand er diesen stillen berühmten einwiegenden Frieden, der mehr wert ist als aller Verstand ...

Aber dann mußte er plötzlich lachen:

Denn drüben in der Kirche in Ordrup hatte man die Turmluken geöffnet und aus diesen hinaus belferte nun in atemlosem Tempo wie ein wütender winziger Köter eine wimmernde Tischglocke:

»Wir wollen, weiß Gott, denen drüben zeigen, daß wir auch zum Ave läuten können!«

Das Läuten hörte auf. Erst in der katholischen Kirche und gleich darauf drüben in der Ordruper Schnecke.

Warberg erhob sich. Er hatte Lust bekommen, in die Kirche zu gehen, um den Weihrauchduft und die Orgelmusik zu erleben, wovon er geträumt hatte. Aber als er zu dem Gitter um den Kirchplatz kam, sah er, daß die Tür geschlossen war. Er ging jedoch zur Kirche hinauf und faßte das Schloß an. Ja, es war geschlossen. Da wandte er sich um und ging wieder auf die Landstraße.

Wie, wenn er nun versuchte, in das dahinter liegende Kloster selbst zu kommen! Ja, aber wie? Wie sollte er sich einführen? Er hatte stets eine fast unüberwindliche nervöse Angst vor solchen unangemeldeten Introduktionen gehabt. Er pflegte vollständig die Sprache zu verlieren, stand und stotterte und stammelte und errötete vor lauter Verlegenheit. Deshalb hatte er es nie versucht, als Journalist sein Brot zu verdienen.

Er stand zögernd und zweifelnd vor dem Gitterschloß. Dann faßte er plötzlich einen kräftigen Entschluß und bog in den zur Klosterschule führenden Weg ein. Ungefähr zehn Ellen vor der Haustür blieb er stehen und musterte mit einem Blick die Reihe der kahlen gardinenlosen Fenster des Hauses: Kein Leben darin zu verspüren! Das ganze große Gebäude schien öde und verlassen! Nun wollte er eine Viertelstunde lang hier stehenbleiben, und wenn dann niemand kam und ihm auf irgendeine Weise zum Eintritt ins Haus verhalf, dann wollte er wieder davongehen. Er blickte auf seine Uhr: in zwanzig Minuten vier. Gut, also sagen wir: vier! Hatte sich bis vier Uhr niemand gezeigt, dann ging er.

Er streckte das linke Bein vor, stützte sich auf seinen Stock und starrte zum »Hospiz« hinüber. Nun sollte es sich zeigen, ob die Herren da drinnen von der rechten caritas caritatis beseelt waren und einem notleidenden Bruder zu Hilfe kommen würden.

Er lächelte, es erschien ihm als ein genialer Einfall, das Schicksal über seine Visite bestimmen zu lassen. Aber es mußte etwas mehr geschehen, um sich eine sympathische Aufmerksamkeit zuzuziehen. Er streckte das rechte Bein vor und knickte in den Hüften zusammen, drückte beide Hände vor das Gesicht und lugte zwischen den Fingern hindurch ... würde denn keiner kommen?! Sollte er am Ende ohnmächtig werden? Er zog verstohlen die Uhr hervor. Schon zehn Minuten vorüber!

Das Tor war geöffnet worden, und ein großer grauhaariger Mann in weitem Gewand und mit einer melonenförmigen Mütze auf dem Scheitel schritt langsam auf ihn zu.

Warberg war nahe daran, umzukehren und seiner Wege zu laufen.

»Sind sie krank?« fragte der Mann freundlich.

»Ja«, flüsterte Gunnar. Und er fühlte sich in diesem Augenblick wirklich nicht ganz wohl.

»Kommen Sie mit mir hinein«, fuhr der Pater fort (er sprach das Dänische mit starkem deutschen Akzent). »Sie können sich drinnen bei uns ausruhen.«

»Danke«, stammelte Gunnar, »ich ...«

»Stützen Sie sich nur auf mich. So, ja.«

Er hatte Warbergs Arm in den seinen gelegt. Und sie gingen langsam, Schritt für Schritt dem Tore zu. Gunnar wußte nicht, ab er lachen oder weinen sollte. Aber er schwankte doch auf eine sehr natürliche Art vorwärts.

»Weshalb kamen Sie nicht hinein?« fragte der Pater.

»Ich ... wagte es nicht.«

»Wir nehmen alle auf, die unserer bedürfen ... So, jetzt rechts.«

Sie waren in eine hohe, helle weißgetünchte Vorhalle gelangt und wandten sich nun einer kleinen zu, vor der sich eine einzelne Stufe befand. Draußen in der Vorhalle war es tot und ruhig und kein Mensch zu sehen. Nur hatte Gunnar hinter einer kleinen Scheibe unten am Fußboden links innerhalb des Tores ein fettes rotwangiges bartloses Gesicht entdeckt, das schnell wieder verschwand.

»Darf ich Ihnen etwas zur Stärkung bringen lassen?« fragte der Pater, als sie ins Zimmer gekommen waren.

»Ja ... ja, danke«, sagte Warberg. Er wollte nicht nein sagen, um nicht störend in den Gang der Ereignisse einzugreifen.

»Ja, nun muß ich sie verlassen«, fuhr der Geistliche fort.

»Die Pflicht ruft mich. Aber wir sehen uns nachher.«

Gunnar beugte stillschweigend das Haupt. Und der Pater schritt aus der Tür.

Als Warberg allein geblieben war, sah er sich interessiert um. Er saß wohl in einer Art Wartezimmer. Die Wände waren weißgetüncht, keine Gardine vor dem hohen schmalen Fenster. Der Tisch inmitten des Zimmers und die Stühle an den Wänden waren aus ungestrichenem Tannenholz. Aber rings an den Wänden hingen einige Öldrucke in starken schreienden Farben: Jesus, der mit drei erhobenen Fingern und himmelwärts gewandten schwimmenden Augen ein Stück Weißbrot segnet. Ein Kranz von Weinblättern und Trauben, in deren Mitte ein von einem Glorienschein umgebenes Kreuz, darüber drei leuchtende Buchstaben JHS. Ein Brustbild der Jungfrau Maria, in ein ultramarineblaues Kopftuch gehüllt, das sie vorn auf der Brust mit einer kleinen blassen Kinderhand zusammenhielt. Sowie ein lächelndes Porträt von Pio IX. in weinrotem Purpurmantel und Mützchen.

Es führten zwei Türen ins Zimmer, eine, durch die sie gekommen waren, und dann eine an der Wand dem Fenster gegenüber. Und in beiden Türen war in der obersten Füllung eine große viereckige Glasscheibe angebracht, die außen mit einer dünnen durchsichtigen Gardine verhüllt war. Es war Gunnar, als höre er schleichende Schritte draußen und sähe schwarze spähende Augen hinter den Vorhängen lauern.

Die Tür zum Vestibül öffnete sich, und der Bruder Pförtner – das Gesicht, das sich hinter dem Kellerfenster gezeigt hatte – kam herein mit einem Brett, auf dem ein Teller mit drei Stücken »Deutschbrot« (Schwarzbrot und Weißbrot aufeinandergeklappt), eine aufgezogene halbgefüllte Flasche Bayrisch Bier und ein Glas standen.

»Bitte schön«, sagte er, holdselig lächelnd, »hier ist etwas zur Stärkung.« (Der Mann sprach dänisch ohne Akzent.)

»Danke.«

»Sind Sie krank?«

»Naa–aa, jetzt fange ich schon an, mich zu erholen.«

Warberg nahm ein Stück Brot.

»Wollen Sie kein Bier?«

»Nein, danke, ich trinke niemals bayrisches Bier ...«

»Nicht!« sagte der Pförtner beinahe empört. »Ich finde nun doch das Bier zum Essen – –«

Er stand einen Augenblick, als ob er lauschte. Dann ließ er hurtig die Augen von der einen Türscheibe zur anderen gleiten.

»Darf ich?« fragte er dann und umfaßte die Flasche.

»Ja, bitte«, lächelte Gunnar.

Und der Bruder setzte die Flasche an den Mund und ließ das Bier in den Mund gluckern. Er glich einem vermummten Gambrinus, wie er dastand, zurückgebeugt und mit rotem Gesicht. Warberg verspürte die größte Lust, ihm auf den Bauch zu klopfen und ihn zu bitten, ein scherzhaftes Lied über Bier und Mädels zu singen. »Ahhh!« sagte der Pförtner und stellte die Flasche hin. Aber dann ergriff er sie schnell wieder und goß die drei, vier Tropfen, die noch übrig waren, in das Glas. Und mit einem zugleich verlegenen und unwiderstehlich verschmitzten Lächeln, wie ein Kind, das über seine eigene instinktive Spitzbüberei halb erschrocken und halb stolz ist, kniff er ein Auge zusammen, winkte, Stillschweigen erbittend, mit der Hand und schlich hinaus. Gunnar sah ihm lächelnd nach und gewann die Menschen noch lieber.

Nun war sein nervöser Zustand, oder wie man es nennen soll, sein Idiotismus überwunden. So ging es jedesmal. Sobald er erst mitten in einer Situation steckte, kehrten seine Ruhe und Besonnenheit wieder zurück. Er wußte es wohl schon im voraus, und er hielt sich selbst ermahnende Standreden. Aber es blieb alles beim alten. Das nächste Mal ging es wieder schief. Er war oft eine halbe Stunde lang vor einer Haustür oder auf einem Treppenflur auf und ab gegangen, ehe er sich endlich entschloß, bei denen zu läuten, denen er zum ersten Male einen Besuch abstatten wollte. Aber saß er dann endlich auf einem Stuhl in den Räumen des Betreffenden, so ging das Ganze sehr bequem. Ach ja, was sind wir Sterblichen, sagte der Walfisch ...

Die kleine Tür zur Vorhalle ging plötzlich auf, trotzdem er niemand hatte draußen gehen hören. Und der Pater trat ein.

»Na, wie geht es nun, junger Mann?«

»Ja, danke ... Danke für das Essen.«

»Haben Sie Lust, sich ein wenig hier in der Schule umzusehen?«

»Ja, das möchte ich gerne.«

»Dann kommen Sie mit, ich bin der Vorsteher hier ...«

Gunnar verneigte sich.

Und dann gingen sie durch das Vestibül und eine Treppe hinauf in den ersten Stock, hier öffnete der Pater verschiedene Türen und erklärte: Dies ist eine der Schulstuben. Dies ist das Refektorium. Dies hier der Musiksaal. Und dies ist der Theatersaal. – Ja, denn wir können uns hier auch amüsieren. Es ist nicht alles düsterer Ernst.

Warberg trat an eines der Fenster und blickte in den Garten hinab. Er war zierlich und blitzsauber gehalten, alle Gänge von steifen Hecken eingerahmt. Und er sah mehrere junge Männer in langen schwarzen Gewändern langsam auf und ab wandern, in kleinen schwarz eingebundenen Büchern lesend. Es sah so feierlich aus, so mittelalterlich, so friedlich, so sorglos.

»Hier wohne ich«, sagte der Vorsteher und öffnete die Tür zu einem Zimmer oder richtiger einer Zelle. »Bitte!«

Sie traten ein, und der Pater schloß die Tür. Es war ein länglicher weißgetünchter Raum mit einem hohen, schmalen gardinenlosen Fenster wie unten im Wartezimmer. Links gleich an der Tür stand ein eisernes Bettgestell, ohne Kissen und Federdecken, nur die nackten Matratzen mit einer Decke darüber. (Ganz genau wie meine »Chaiselangue«, dachte Gunnar. – Ob er nicht auch des Abends ein paar kleine Kissen aus irgendeiner Ecke holt?) Über dem Kopfende des Bettes hing ein Brustbild Pius des Neunten in Lebensgröße, ein vortreffliches Gemälde in prachtvollem Rahmen.

»Ja, das war ein herrlicher Mann«, sagte der Priester. »So gut, so liebevoll und so klug!«

Rechts vom Fenster stand ein großer eichengestrichener, mit Papieren und Büchern bedeckter Tisch. Und über diesem hing in einem weniger prachtvollen Rahmen ein Öldruck von Leo dem Dreizehnten. Außerdem befanden sich in dem Zimmer ein kleiner Waschtisch ohne Behang und drei Holzstühle. Und an einem Nagel in dem Rahmen der einen Tür hing ein Handtuch.

»Hier ist kein Ofen«, sagte Gunnar.

»Nein«, lächelte der Pater, »das ist auch nicht nötig ... wenn man sich nur daran gewöhnt hat ... bitte, nehmen Sie Platz! Ich möchte gern ein wenig mit Ihnen plaudern.«

Warberg setzte sich. Und wieder begannen seine Nerven sich bemerkbar zu machen, denn jetzt gab es wohl Gewissensfragen hier! Sie saßen beide am Arbeitstisch einander gegenüber. Gunnar blickte verstohlen zu dem großen Manne im Priestergewande empor, dessen ruhiges Gesicht und abgemessene Bewegungen anzudeuten schienen, daß er schon längst den alten vielverlästerten Adam abgelegt hatte (der doch zu guter Letzt das einzige ist, was uns zu Brüdern macht), hochgewachsen und gerade saß er da und spielte mit einem kleinen elfenbeinernen Papiermesser, während er den rechten Ellenbogen an ein aufgeschlagenes Buch auf dem Tische neben sich lehnte. Seine klaren braunen Augen wurden von den langen dunklen Brauen halb verdeckt. Seine Stirn war hoch und weiß und faltenlos. Und unter dem melonenförmigen Sammetmützchen lugte ein Kranz kurzer graumelierter Haare hervor, die sich von den Schläfen abwärts um den Nacken legten. Gunnar mußte unwillkürlich an Ingemanns und Walter Scotts Romane denken.

Der Pater erhob die Augen und blickte ihm forschend ins Gesicht. »Woran dachten sie nun, als Sie draußen auf der Straße standen?« fragte er sanft und klopfte fast lautlos mit der Spitze des Papiermessers auf die Tischplatte.

»Dachte ...?« wiederholte Gunnar verwirrt.

»Ja«, lächelte der Pater, »Sie müssen sich ja doch über uns schlechte Menschen hier drinnen allerhand Gedanken gemacht haben, da Sie sich nicht hineinwagten? Reden sie nur frei von der Leber weg! Es wird mich interessieren!« fuhr er fort, da Warberg nicht ahnte, was er antworten sollte. »Es sind so viele Gerüchte im Umlauf über uns Fremde, die wir hier ins Land eingedrungen sind.«

»Es war wohl Neugier, was mich hierher trieb«, murmelte Gunnar.

»Weshalb denn nun gerade dieses Wort wählen?« sagte der Pater mild. »Sagen Sie nur, Sie sind ein Suchender! Hier kommen oft Leute zu mir, die keine Ruhe mehr finden können in dem kalten strengen Glauben, den die Religion eures Landes ihnen bietet. Wir Menschen brauchen etwas für das Herz, für die Phantasie. Sie sind so eisig kalt, eure Kirchen und eure Priester, so klanglos, so seelenlos!«

»Ach ja«, sagte Gunnar, der wieder der Alte wurde, nachdem die ersten einleitenden Schritte überstanden waren, »die Phantasie drückt unsere Prediger nicht; und unsere Kirchen gleichen übertünchten Gräbern! Die einzelnen stimmungsvollen Tempel, die wir besitzen, sind Überreste aus der katholischen Zeit.«

Der Pater betrachtete ihn mit einem unsicheren Lächeln. »Schmeicheln Sie?«

»Nein«, sagte Warberg bescheiden (er merkte, daß er den Priester mißtrauisch gemacht hatte), »nein; aber ich meine, daß die katholische Religion dem Herzen und der Phantasie, wie Sie vorhin sagten, weit mehr bietet als ... als – na ja: als unsere Staatskirche.«

»Gehören Sie zu ihr?«

»Nein ... ja, das heißt!, ich bin getauft und konfirmiert.«

»Besuchen Sie die Kirche?«

»Ja, zu Konzerten. Und dann kann ich zuweilen die Stimmung in mir fühlen, die meiner Meinung nach ein Gottesdienst hervorrufen muß.«

»Haben Sie jemals einem unserer Gottesdienste beigewohnt?« fragte der Pater und legte seine Hand leicht auf Gunnars Arm.

»Ja«, sagte Warberg, »und ich habe dort etwas von derselben Stimmung, denselben symbolischen Regungen der Seele empfunden, die meiner Meinung nach die Grundlage aller Religiosität bilden.«

Der Priester nickte wohlwollend.

»Sie sind eine suchende Seele«, sagte er dann, »und Sie werden schon das Richtige finden! ... Kommen Sie häufig hier heraus und lassen Sie uns miteinander plaudern.«

»Aber die katholische Religion hat so vieles ... so vieles Abstoßende. Darf ich offen sprechen?«

»Es wird mir lieb sein.«

»Da ist zunächst das mit den Heiligen –«

»Kann ich mir denken!« unterbrach ihn der Priester lächelnd. »Davon sprechen sie ja alle!«

»Ja, denn ihr macht doch Menschen zu Göttern, wenn ihr sie anbetet!«

»Wir beten sie nicht an, wir beten zu ihnen«, sagte der Priester tiefsinnig.

»Hm ...«

»Wir verehren und beten Gott allein an als unseren höchsten Herrn und den Quell alles Guten!« fuhr er fort. »Die Heiligen ehren wir dagegen als seine treuen Diener und Freunde ... Gott ehren wir um seiner selbst willen oder auf Grund der unendlichen Vollkommenheit, die er kraft der eigenen Macht besitzt. Aber die Heiligen ehren wir infolge der Gaben und Vorzüge, die ihnen Gott verliehen hat. Zu Gott beten wir, daß er uns durch seine eigene Allmacht helfen möge. Aber zu den Heiligen, daß sie uns durch ihre Fürbitte bei Gott helfen.«

Entweder ist er selbst dumm, dachte Gunnar, während der Priester seine Rede hielt, oder er hält mich dafür.

Aber laut sagte er:

»Sie bemerkten vorhin, daß wir die Heiligen auf Grund der Gaben und Vorzüge ehren sollten, die ihnen Gott verliehen hat.«

»Ja.«

»Aber weshalb haben nicht Sie und ich und alle anderen diese Gaben und Vorzüge erhalten? Weshalb müssen einzelne bevorzugt werden? Was haben sie anfangs getan, um diese Auszeichnung zu verdienen?«

»Ihre Herzen sind offene Gefäße für Gottes Weisheit gewesen.«

Warberg fühlte, wie sich das priesterliche Spinngewebe auf sein Gehirn herabsenkte. Aber er schüttelte den Kopf und sagte: »Gut! Aber wer hat diese einzelnen Herzen so »geschaffen«? Das hat nach eurer Lehre Gott. Aber derselbe Gott hat auch die Millionen anderer Herzen geschaffen, die diese Empfänglichkeit für seine Weisheit nicht besitzen! Und doch nennt ihr ihn einen gerechten Gott! Wissen Sie, wie ich ihn nennen möchte?«

Der Pater erhob sich schnell.

»Sprechen sie nicht aus«, sagte er milde, »ein böses Wort wird in einer Sekunde geboren, aber es stirbt nicht in vierzig Tagen!«

Und er wandte sich zum Tisch um und begann zwischen den Büchern und Papieren zu suchen.

Gunnar brüstete sich: Ich bin ihm doch zu stark, dachte er.

Der Pater wandte sich Warberg zu mit einem Buche in der Hand: »Lesen Sie dies»«, sagte er und gab ihm das Buch. »Und wenn Sie Neigung empfinden, mit mir zu sprechen, dann sollen Sie mir stets willkommen sein. Lau sind Sie nicht!«

Gunnar warf einen Blick auf das Buch. Es hieß: Vollständiges Lehrbuch in der katholischen Religion von J. Deharbe.

»Ja, nun muß ich Ihnen adieu sagen«, fuhr der Priester fort, »die Brüder erwarten mich.«

»Adieu«, sagte Gunnar, »und Dank für Ihre Freundlichkeit!«

»Keine Ursache! Es ist mir lieb gewesen, Sie hier zu sehen! Und wenn Sie unser Gespräch fortzusetzen wünschen, bin ich bereit! Schade, daß wir um diese Zeit keinen Gottesdienst abhalten ... aber Sie kommen wohl öfter hier vorbei.«

»Ja«, sagte Gunnar.

Und bald standen sie wieder unten in der Vorhalle, und der rundliche Pförtner kam aus seinem Verschlag heraus und öffnete das Tor. Warberg reichte dem Pater noch einmal die Hand zum Abschied. Der Mann gefiel ihm. Es lag etwas Liebenswürdiges, Feines und Reinliches über ihm, etwas, das ihn von den heimischen Theologen stark unterschied, die Gunnar sonst getroffen hatte. Und das Gebäude hier mit seinen langen stillen Gängen! Die lesenden Brüder unten im Garten. Die tiefen, hallenden Glockentöne vorhin, als er draußen auf der Bank saß. Die heiligen Bilder. Der große schlanke Prälat vor ihm in dem halbdunklen Vestibüle. Der halboffene Torflügel, durch den man die grünen Bäume und den dämmerungsverschleierten Himmel erblickte – dies alles miteinander bildete gleichsam einen stimmungsvollen, unwirklichen, romantischen ...

»Ja, verzeihen Sie! Aber wir pflegen eine Krone für jedes Exemplar zu erhalten.«

»Was?« fragte Gunnar verwirrt.

»Wir pflegen eine Krone für das Buch zu bekommen«, lächelte der Pater freundlich und deutete auf das »vollständige Lehrbuch«.

Aber noch begriff Gunnar nicht, was der Mann wollte.

Dann wurde es ihm plötzlich klar.

Und holdselig lächelnd, wie die Eminenz vor ihm, zog er seine Börse aus der Tasche hervor und bezahlte ihm eine Krone.

»Verzeihung ...«

»O bitte, bitte«, bat der Pater.

»Adieu«, sagte Gunnar.

»Adieu, adieu! ... Und Gott sei mit Ihnen!«

 


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