Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Der Wind arbeitete sich mühsam vom Boulevard vorwärts und bohrte sich durch Torwege und Türen, zerrte an Fenstern und Schildern und Aushängeschränken und klapperte mit den losen Dachsteinen auf den Häusern. Papiere, Strohhalme und Straßenschmutz führten auf dem Straßenpflaster und die Treppen hinauf und hinab den wildesten Galopp auf, während die Menschen, geblendet von dem wirbelnden Staub und Pulver, sich an den vorspringenden Mauerkanten festhalten mußten, wenn sie die Straßenecken passieren wollten. Der Himmel war freundlich genug anzusehen, ja gewiß, die Sterne blinkten klar und schelmisch oben über den Häusern. Aber der Wind heulte; die Telephondrähte brummten und die Flammen in den Gaslaternen zischten und streckten die Zungen heraus.

So ein Spektakel wirkt lächerlich und aufreizend zugleich; lieber Gott, wir sind ja alle fest davon überzeugt, daß die Natur mächtig ist; aber, zum Kuckuck, sie könnte sich doch wirklich auch ein bißchen ruhig anstellen!

Warberg kam von Kongens Nytorv durch die Gotersgade. Es war zehn Uhr und Sonnabend. Er machte gern abends einen Spaziergang, um sich die Phänomene des Lebens zu betrachten ... Man soll ja lernen, solange man lebt; und man muß das Leben leben, um davon erzählen zu können!

Er ging mit gebeugtem Kopf und kämpfte sich gegen den Wind vorwärts. Neben ihm torkelte ein betrunkener Mann in Arbeiterkleidung. Warberg war ihm von Kongens Nytorv an gefolgt. Er war dadurch auf den Burschen aufmerksam geworden, daß er einen unaufhaltsamen Wortstrom von seinem Munde ausgehen hörte. Der Arbeiter sah nichts und hörte nichts, torkelte nur immer davon, der Nase nach wie ein Hund, der nach Hause trottet. Ein paarmal hatte Gunnar ihn vor dem Überfahren gerettet, indem er ihn am Arm packte und zur Seite zog. Der Betrunkene murmelte immer weiter in seinem Monolog und setzte seinen Weg fort, den ihm der energische Gegenwind noch erschwerte. Er wollte wahrscheinlich nach Nörrebro hinaus, denn ganz instinktmäßig, ohne Zögern und Zweifeln, war er in die Gotersgade eingebogen. Er hielt sich in der Mitte der Straße, und Warberg ging neben ihm. Er hatte ihn untergefaßt. Sie hielten sich übrigens, hol's der Kuckuck, nicht in der Mitte der Straße, denn der Mann war schwer zu lenken, wollte dem Ruder nicht gehorchen und zuweilen schwenkten sie in einem Ruck von einem Rinnstein zum andern.

Gunnar hatte ein paarmal ein Gespräch mit seinem Jonathan anzuknüpfen versucht, aber der Bursche achtete nicht auf seine populären Bemerkungen über Wetter und Pflaster. Er ahnte wohl kaum, daß ein Menschenfreund sich seiner Angelegenheiten angenommen hatte. Er paddelte schlapp vorwärts und murmelte vor sich hin. Warberg mußte sich zu ihm hinüberbeugen, um im Lärm der Straße und im Heulen des Windes die Worte aufzufangen:

»Laßt meine Mutter in Ruhe«, murmelte der Betrunkene mit belegter Stimme, »laßt ihr in Ruhe, sage ich, denn sie is'n armes Weib, das sich mit seine Kinder hat schwer jenug quälen müssen! ...

Auf'm westlichen, verstanden, da liegen sie alle miteinander! Aber ich bin sechsundzwanzig jeworden im Sommer, an'n siebzehnten Juni! ... da is der erjebenst Unterzeichnete sechsundzwanzig Jahre jewor'n! Mouritzen! Un ich habe anjefangen als siebzehnjähriger Straßenjunge ... Wie ich siebzehn Jahre alt war, bin ich ins Leben 'jausjetreten und habe jleich zwanzig Tage Wasser und Brot jekriegt ... Dis is rückwärts, verstanden! ... un bis is vorwärts ... verstanden! (Hier torkelte der Mann einen Schritt zurück und wieder einen vorwärts. Und dann setzten sie ihre Segelpartie fort.) Aber er hat mir unrecht verurteilt, verstanden, denn ich habe mir doch wehren müssen! ... Ihr Labane! Ich bin ein organisierter Kohlenmesser, verstanden! Aber der is nich unter'n Schutz von achtzehnhundertsechsunachzig, oder was dis for Quatsch sein soll! nee, nich mit'n Zollstock, hä! ... mit 'ne Kohlenschippe! Un nu geh' ich nach Hause zu meine Frau ... Na, was wollt ihr nu machen? Un ich habe 'n kleinen Jungen, der is man so hoch (Hier bückte er sich und deutete mit der Hand die Größe des Kindes an, eine Elle über dem Steinpflaster) ... un wenn er sich nich ausziehen kann, denn is der erjebenst Unterzeichnete immer derjenige welcher, der ihn auszieht ... Ihr Kicherfritzen, Mouritzen! Un bei noch viel mehr bin ich derjenige welcher, wenn sie ausjezogen wer'n müssen, denn meine Frau is wieder in die Umstände ... un mit'n Zollstock ...«

Der Mann blieb plötzlich vor einem der kleinen niedrigen Häuschen ganz unten in der Gotersgade stehen.

»Hier wohne ich«, sagte er ... »über den Hof ... in der Dachstube übern Hof, verstanden, da habe ich so mein kleenes Heim! ... Aber zu April ziehen wir runter in die Parterrewohnung in die Vognmagersgade! ... fünfunddreißig, eine Treppe, denn meine Frau is aus 'ne feine Familie ...«

Warberg hatte den Arm des Mannes losgelassen und stand nun draußen auf der Straße und sah ihn über den schmalen Bürgersteig und eine klapprige, enge drei-, vierstufige Steintreppe hinauftappen. Die Tür war geschlossen, aber der Betrunkene bastelte am Schloß, bekam es endlich auf und betrat den Hausflur. Und ein gewaltiger Windstoß knallte die Tür hinter ihm zu.

»Er wollte also nicht nach Nörrebro hinaus«, dachte Gunnar. Und das war zunächst der einzige Gedanke, den diese Begegnung in ihm erzeugte.

Darauf wandte er sich um, oder richtiger wurde vom Wind umgeblasen und ging wieder Kongens Nytorv zu.

Und der Wind stieß drauflos, daß Gunnar einen ganz krummen Rücken bekam, weil er immer Widerstand zu leisten versuchte. Er schlug den Rockkragen in die Höhe:

»Satan auch, wie es in diesen Reichen und Landen toben kann ... Mouritzen!«

Und plötzlich mußte er wieder an den Mann denken, den er nach Hause gebracht hatte:

Herrgott ... die arme Frau, die ihn in der Verfassung nach Hause kriegt, dachte er. Und sie ist schwanger! Sie sind wohl schon ein paar Jahre verheiratet. Sechsundzwanzig war er. An die sieben, acht Kinder können sie wohl noch leisten. Du lieber Gott, wie sollte das enden! Der Mann fing damit an, eines Sonnabends mal betrunken nach Hause zu kommen. Dagegen wäre nichts zu sagen.

Branntwein und Sinnengenuß sind ja die einzigen Vergnügungen des Arbeiters. Aber je mehr Kinder kämen, desto mehr würde er trinken, denn der Tagelohn würde ja doch nicht ausreichen. Daß nicht ein kluger und mutiger Mann es unternahm, diese Leute darüber zu belehren, daß man wohl einander lieben könne, ohne deshalb Kinder zu bekommen. Und die Familien würden weit glücklicher und friedlicher – und würdiger leben! Das war doch sonnenklar; wenn nur gerade soviel Brot verdient wurde, um drei bis vier Münder zu sättigen, so mußte man sich um das Brot raufen, wenn die Münder und die Mägen auf sechs und acht stiegen! Quatsch, das mit der Enthaltsamkeit und Nüchternheit! Ein Arbeiter mit einer großen Familie konnte eben nicht genug verdienen! Diese moralpredigenden Herren und Damen (Ja, denn die Frauenzimmer hatten natürlich ihre Nase auch darein gesteckt!), die hatten gut Reden-halten und Ermahnungen-schreiben! Sie saßen daheim in ihren Lehnstühlen mit ihren Beamtengehältern oder sicheren Renten und wollten das »Volk«, die »große Menge« reformieren, die sie nicht mehr kannten, und in deren triste Lebensweise sie keinen tieferen Einblick hatten als das Basarkomitee der Heidenmission in die »Sittlichkeitsbedürfnisse« der Australneger und Hottentotten! Pfui, was für ein Humbug! Und dann bildeten diese Wohltäter und Wohltäterinnen sich ein, daß sie sich ein Parkettbillett zum Himmelreich sicherten, wenn sie zwanzig Silberkronen für irgendeine Volksküche gaben! Ganz zu schweigen von den großen nordischen telegraphierenden und bierbrauenden Kirchenbauern; denn die würden natürlich zur rechten Hand des Vaters sitzen, von wo aus man das Recht hat, über alles Lebende und Tote zu Gericht zu sitzen.

Gunnar fauchte im Winde.

Nein, liebe Leute, dachte er weiter, jetzt will ich euch sagen, was zunächst geschehen muß, wenn ihr etwas für die »Kleinen« im Lande ausrichten wollt. Branntwein und Liebe zerstören kein Land, aber Mangel an Brot, um die hungrigen Münder zu sättigen; das ist der große Generalnenner aller Sorgen und allen Unglücks! Hört hier, was ich euch gebiete. Ihr sollt einen mutigen und beredten Mann hinaussenden, der alles Volk um sich versammelt, und er soll zu ihm sagen:

Ich will euch nicht verbieten, zu lieben und zu trinken, denn Liebe und Trunk geben Freude und Glück. Und ohne Freude und Glück ist das Leben nicht wert, gelebt zu werden.

Aber ich will euch verbieten, Kinder zu zeugen! Zwei Kinder dürfen in einer Ehe gezeugt werden, und was darüber ist, ist vom Übel!

Und er soll verlangen, daß aus den Eheformularen die wahnsinnigen Worte ausgestrichen werden: »Werdet fruchtbar und vermehret euch!«, indem er die klare Wahrheit nachweist, daß wo es Nahrung und Kleidung, Frieden und Freude für drei oder vier gibt, da gibt es nur Hunger und Kälte, Schande und Sorge und Not und Elend für den Fünften, Sechsten und Siebenten!

Und er soll zu ihnen sagen: Wollt ihr Hilfe, ihr Kleinen, so helft euch selbst, denn die Hilfe der Großen ist wie ein Scheiterhaufen im Regen, der mehr prasselt und raucht und schwelt als er leuchtet!

So dachte Gunnar, als er an jenem Abend im Unwetter heimwanderte. Und er meinte, das wäre schön gedacht und gut gedacht!

 


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