Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Die Dunkelheit war hereingebrochen ... Es mochte wohl fünf, sechs Uhr sein. Das Gitterfenster unter der Decke erschien wie eine viereckige grüne, von schwarzen Streifen in Scheiben eingeteilte Fläche. Gunnar saß auf seinem eingemauerten Stuhl und starrte vor sich hin. Es war nun doch nicht so schrecklich lustig, in dieser Weise eingesperrt zu sein! Aber deshalb war es nicht weniger sinnlos! Er konnte es auch dem Gefängniswärter ansehen, daß er sich für seine Vorgesetzten schämte! ... Wie hatte er diesen Gefängniswärter mit den milden schwermütigen Augen schon lieb gewonnen! Ihn vorhin zu sehen, als er mit dem Knubben Schwarzbrot angesockt kam, war geradezu ein Gottesdienst, so verlegen und geniert war er und unglücklich darüber, nichts anderes anbieten zu können! Wie in aller Welt war er wohl darauf gekommen, eine solche Stellung zu suchen! Er sah ja aus, als gehöre er zu der Sorte Menschen, die eine tote Fliege sorgfältig aus ihrer Biersuppe herausfischen und sie in den Sonnenschein setzen, damit sie wieder ins Leben zurückgerufen werden könne ... Was war das!

Warberg erhob hastig den Kopf und sah zum Fenster empor.

Ein seltsamer strahlenförmiger Lichtschein flackerte dort draußen ganz oben auf den Wolken umher. Bald breitete er sich aus und bald zog er sich zusammen; er tastete gleichsam nach dem Gegenstande, den er beleuchten wollte.

Und plötzlich sah Gunnar das Bild eines Mannes mit einer Fahne in der Hand gerade in der Luft draußen stehen. Alles war schwarze Finsternis um das Bild, das mit einem bleichen und matten Glanz leuchtete wie Phosphor. Nun verschwand es wieder, und der Lichtschimmer oben tastete wieder in den Wolken herum.

Warberg erhob sich von seinem Sitz, faßte sich an die Stirn und starrte anhaltend auf das Fenster:

Und wieder war der Mann mit seiner Fahne da. Diesmal stand er auf einer Kugel oder auf einem Globus, oder was es nun war: und es erschien Gunnar, als nicke er ihm zu und käme näher.

»Hansen! Hansen!«

Warberg lief zur Tür und hämmerte dagegen.

Draußen auf der Galerie ertönten hastige Schritte, ein Schlüsselbund rasselte, ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt und die Tür ging auf. Der Gefängniswärter kam herein mit einem Licht in der Hand.

»Was ist denn, Herr Warberg?«

Gunnar ergriff ihn beim Arm:

»Was ist das?« sagte er ... »Das draußen ... das da vor dem Fenster?«

»Wo ... was?« fragte Hansen erschreckt.

»Das draußen!« sagte Gunnar und zeigte es ihm.

Der Gefängniswärter guckte durch die Scheiben.

»Ach so«, sagte er beruhigt. »Das ist ja bloß der Mann auf dem »Erlöserturm«.«

»Sie können es also auch sehen?«

»Ja, gewiß kann ich es sehen!!«

»Ja, aber, wie kommt es, daß er so leuchtet?«

»Das hat er in der letzten Zeit alle Abend getan; sie probieren wohl das elektrische Licht draußen auf der Reede.«

Warberg fühlte sich so seltsam geniert. Und doch konnte er die mißtrauische Frage nicht unterlassen:

»Kann man ihn auch am Tage sehen?«

»Ja, gewiß«, nickte Hansen, »er ragt gerade über dem Dach des Weibergefängnisses drüben auf der andern Seite des Hofes empor.«

»Hä«, nickte Gunnar blöde, »ich war gewiß beinahe ... wie, Hansen?« (Er machte mit dem Zeigefinger ein paar Kreise auf seiner Stirn.)

»Ach ja, das ist doch auch nicht so leicht, wenn man nicht daran gewöhnt ist«, sagte der Gefängniswärter tröstend wie zu einem Kinde, »jetzt stecke ich gleich das Gas an.« Und er schraubte den Hahn eines kleinen Gasarmes ab, der über dem Tisch aus der Wand hervorragte.

»Wollen Sie nicht ... speisen?« fragte er dann und deutete auf den Brotkanten.

»Nein, danke, ich habe keinen Hunger ... Bekomme ich nicht bald Tee oder dergleichen?«

»Tee? nein ...«

»Was denn?«

»Nichts – bis morgen.«

»So ... wann geht man hier in diesem ... Hospiz zu Bett?«

»Um sechs Uhr; und um sieben Uhr müssen Sie aufstehen.«

»Und was wird dann genossen?«

»Warmbier.«

»Hm.«

Warberg blickte auf seine Uhr, die er ebenfalls hatte behalten dürfen.

»Ja, dann ist Schlafenszeit«, sagte er.

»Ja, ich klappe gleich das Bett herunter.«

Hansen suchte einen Schlüssel aus dem Bund heraus und öffnete das Schloß des wunderbaren Bettes, das an der Wand hing, Boden und Leine dem Lokal zuwendend.

»Warum muß es so aufgehängt werden!«

»Man darf am Tage nicht darauf liegen.«

»Hm ...«

Der Gefängniswärter pusselte an Laken und Betten, bis sie in Ordnung waren.

»Bitte«, sagte er dann und ging zur Tür. »Ich komme wieder und drehe das Gas aus.«

Als Warberg allein geblieben war, entkleidete er sich sofort und legte seine Sachen auf die eingemauerte Bank. Dann kroch er ins Bett und zog die Decke, eine dicke, wollene Pferdedecke, die nach Karbol roch, unter die Nase. Die Unterbeinkleider behielt er an, denn das Gewebe des Lakens war etwas grobkörnig.

Und wie er dalag, zu einem Klumpen zusammengekrochen, denn er fror, mußte er wieder lächeln: Möchten nur ein paar seiner Bekannten in die Tür treten, daß sie allesamt einmal so recht herzlich lachen könnten! Um sechs Uhr zu Bett! hä! das war, als ob man wieder Kind würde!

Der Schlüsselbund rasselte unaufhörlich draußen in der Galerie. Erst weit entfernt und undeutlich, dann immer näher! Türen wurden geöffnet und zugeschlagen, das ging fast wie auf Kommando. Man hörte Hansens tiefe Stimme Gute Nacht sagen und dann einen dumpfen Schlag der Tür, die geschlossen wurde. Er ging wohl jetzt herum und schloß seine Küken über Nacht ein ... »die große, stille Nacht« und drehte die Gasflammen aus, seltsame Gasflammen, die wie umgekehrte Zungen aus der Wand hervorragten, schmal nach innen und breit nach außen; und dann zischten und siedeten sie in einer stillen, verbissenen Weise ... Jetzt war der Gefängniswärter bis zur Zelle nebenan gelangt. Gunnar hörte ihn über den Steinfußboden und wieder zurückgehen. In der Tür sagte er Gute Nacht, eine andere Stimme brummte ebenfalls einen Gruß, und dann wurde geschlossen.

Der Schlüsselbund rasselte vor Gunnars Wigwam, und seine Tür wurde geöffnet.

»Na, sind Sie im Bett?«

»Ja ...«

»Wie fühlen Sie sich auf dem Lager?«

»Vortrefflich!«

Hansen stand neben dem Sitz in der Wand und tastete an Gunnars Sachen herum. Er räusperte sich und wollte etwas sagen, schien es aber nicht herausbringen zu können. Endlich kam es, leise und verlegen:

»Ja, ich muß doch Ihre Hosen mitnehmen ...«

»Meine Hosen?« fragte Gunnar verwundert und richtete sich halb auf dem Ruhebett empor. »Was, zum Teufel, wollen Sie denn damit?«

»Es steht im Reglement.«

»Ja, aber, was wollen sie damit?«

»Sie müssen hier vor der Tür angehängt werden, damit die Nachtwache sehen kann, in welchen Zellen sich Gefangene befinden.«

»Das ließe sich am Ende auf andere Weise andeuten«, meinte Warberg. »Aber in Gottes Namen, nehmen Sie die Hosen, Hansen; ich brauche sie ja vorläufig nicht ... Sie wollen doch am Ende nicht auch die Unterhosen? Denn die habe ich an.«

»Nein, ich muß bloß die Oberhosen haben.«

»Ja, ja, das ist auch genug ...«

»Es ist unsere Vorschrift, Herr Warberg« ... sagte der Gefängniswärter entschuldigend.

»Ja, nehmen Sie sie nur, Hansen, nehmen Sie sie nur!«

Und Hansen nahm die Hosen und drehte das Gas aus.

»Ja, dann gute Nacht, Herr Warberg ... und schlafen Sie wohl!« »Danke, gleichfalls!«

»Danke!«

In der Zelle war es jetzt dunkel, aber Gunnar konnte in dem Lichtschimmer, der durch die halbgeöffnete Tür fiel, den Gefängniswärter mit den Hosen davontraben sehen; und er wurde ganz gerührt, als er sah, wie vorsichtig und sorgfältig er sie trug, wohl ungefähr so, wie der Kammerdiener Friedrichs VI. die feinsten Staatshosen seiner Majestät getragen haben mochte.

Dann wurde die Tür geschlossen, und der Verbrecher war der Dunkelheit und seinem Gewissen überlassen.

 


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