Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Und Warberg ging nach Charlottenlund, setzte sich in den Zug und rollte nach Kopenhagen.

Er saß und dachte an die verschiedenen Ereignisse des Tages und plötzlich murmelte er halblaut vor sich hin:

»Hol's der Teufel! Aber der Priester war doch trotzdem der Stärkste.«

Was den Vetter Benjamin damals, als Warberg ihm in Valby begegnete, in eine so ungewöhnlich erregte Stimmung versetzt hatte, war folgendes Ereignis:

Mette hatte vormittags einen Brief von der Tante der »Prinzessin« erhalten, in dem sie ihn in energischen Worten ersuchte, jede Verbindung mit »meiner Nichte abzubrechen, die nun endlich zur Vernunft gebracht worden ist«.

Der unglückliche Benjamin sah dadurch seine ganze Zukunft aus dem Geleise gebracht, alle seine Schlösser und Villen in Trümmer gefallen. Und er, der sich schon sein Winterquartier in der Bredgade, seine »Hütte« am Strandvej und seine »Burg« in Nordseelands dunklen Wäldern errichtet hatte! Die Tränen liefen ihm über die Wangen, während er verblümte Anspielungen auf Selbstmord und Auswanderung zu machen begann.

Aber Gunnar beruhigte ihn wieder, indem er ihn zu einer Tasse starken Kaffee zu Josty nahm.

Und drinnen in dem kleinen gemütlichen Hofzimmer mit dem edlen Grundgesetzgeber von Dänemarks Reichen in Gips auf dem Kachelofen, hatte Warberg nun zum siebenundzwanzigsten Male versucht, den Vetter zu bewegen, mit ganzer Kraft nach einer Tätigkeit zu streben.

»Wie ging es übrigens mit der Anstellung drüben auf Alsen?«

»Ja, die habe ich nicht bekommen ...«

Mette sprach in tief beleidigtem Tone. Das tat er stets, wenn es ihm nicht gelang, die Stellen zu bekommen, die er suchte. Er hielt sich für persönlich gekränkt.

»Aber Olla wird mir schon in den nächsten Tagen schreiben.«

»Olla? wer ist das?«

»Aber Gott, Gunnar, das ist doch meine Braut!«

»Ach ja, das ist wahr! Aber du sagst doch ...«

»Ja–a, aber es ist ja möglich, daß sich der alte Brummbär das aus den Fingern gesogen hat! ... Kaffee hat stets so eine belebende Wirkung auf mich ausgeübt, will ich dir sagen, Gunnar! Und nun du auch so nett mit mir gesprochen hast, bin ich lange nicht so betrübt. Jetzt sehe ich die Verhältnisse wieder in rosigem Schimmer! Paß auf, Olla wird ihre Hand nicht von mir abziehen.«

Und er erhielt wirklich am anderen Tage einen Brief von ihr – das sagte er jedenfalls – und sein Kummer war wieder über alle Berge. Dann vergingen drei, vier Tage, in denen Warberg nichts von ihm sah.

Mette wohnte – oder richtiger: verbrachte die Nacht oben in dem Dachzimmer, das Gunnar benutzt hatte, ehe er infolge der Abreise seiner Eltern ins Parterre zog. Das Zimmer gehörte zu der Wohnung, die er noch bis Oktober gemietet hatte, und er hatte es dem Vetter überlassen, da dieser »gerade ohne Heim« war, wie er sich ausdrückte. Sie sahen sich nur hin und wieder: denn Gunnar war ja den ganzen Tag von seiner Schule in Anspruch genommen, und wenn er nach Hause kam, arbeitete er an seinen Geschichten für den »Kopenhagener«, womit Benjamin sich die Zeit vertrieb, davon hatte Warberg keine Ahnung. Ein paarmal hatte er danach gefragt und zur Antwort bekommen: »Ach, ich gehe spazieren und sehe mich um; es ist ja hier in der Umgegend von Kopenhagen so entzückend. Und dann lese ich die Zeitungen im Aushang, um zu sehen, ob darin irgendetwas steht, was mir passen könnte.«

Zuweilen läutete es bescheiden an der Tür, und wenn Warberg öffnete, stand Mette da und fragte, ob er ein wenig bei ihm drinnen sitzen dürfe; und auch wenn Gunnar in der Arbeit steckte, brachte er es nicht immer übers Herz, nein zu sagen, denn der Vetter trug sein Anliegen so demütig vor. Und wenn er ihn einließ, war er dankbar. Setzte sich still in eine Ecke, fett und lächelnd. Sagte kein Wort, wenn er nicht angeredet wurde. Saß und beguckte seine Hände und glättete sich das Haar und zupfte an seinem Schlips. Oder rauchte »russische« Zigaretten, die er zimperlich graziös zwischen Mittelfinger und Daumen hielt. Oder setzte sich, wenn Gunnar ihn aufforderte, ans Klavier und spielte und sang mit schwachem Tenor kleine deutsche, schwedische und russische Lieder, die er auf seinen Reisen gelernt hatte. Er hatte nie Musikunterricht erhalten, begleitete sich selbst und phantasierte wildsentimental mit häufiger Anwendung dunkler Baßtöne und des Pedals.

Oder Gunnar ließ ihn von den »Herrschaften« erzählen, bei denen er gedient, und den Menschen, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte. Und Mette erzählte unterhaltend, stets mit einem Unterstrom fettgemütlicher Wut. Denn es war seine Eigenschaft, sich an den Leuten »wütend zu sehen«. – Nur eine »Herrschaft«, eine Frau Hartmann, die ein Gut in Schoonen besaß, sie wurde von Mette in lauten Tönen gepriesen.

Oder sie plauderten von ihren gemeinsamen Erlebnissen in den Sommerferien drüben in Lolland.

»Ja, das waren wunderschöne Tage, die Ferien«, seufzte Mette. »Das war die beste Zeit, die man im Leben hatte.«

»Na, na! Vergiß es nicht, wenn dir Olla all das viele Geld zubringt!«

»Ja«, sagte Benjamin eifrig, »wenn ich das bekomme, dann kriegst du fünfzigtausend Kronen!«

»Hoho!«

»Gewiß, denn du bist der einzige Mensch, der mich gern hat!« versicherte er mit Tränen in den Augen. »Und ich bin sicher, auch wenn ich ... auch wenn ich irgendetwas getan hätte, was ... so würdest du mich trotzdem nicht verdammen.«

In dieser Weise konnte Mette plötzlich aufstehen und adieu sagen und gehen.

Warberg schüttelte dann bedenklich den Kopf, aber bald darauf saß er wieder bei seiner Arbeit. Er hatte ja mit sich selbst zu tun – und er war ja auch nicht der Hüter seines Vetters, hätte Benjamin gerade heraus zu ihm gesprochen, hätte Gunnar wohl gesucht, ihm nach besten Kräften zu raten und zu helfen. Aber es war nie sein Fall gewesen, sich ungebeten in das Vertrauen anderer zu drängen. Ebensowenig wie er es liebte, daß andere ihre Nasen in seine Angelegenheiten steckten.

Es waren also – wie gesagt – ein paar Tage vergangen, in denen Warberg nichts von seinem dicken Vetter gesehen hatte. Da begegnete er ihm gerade vor der Villa an einem Donnerstagmorgen, als er zur Schule ging.

Mette sah müde und bestaubt und schmutzig aus. Aber sein Gesicht strahlte nichtsdestoweniger wie die Morgenröte.

»Guten Tag, Gunnar! Guten Tag, guten Tag!« sagte er und winkte vornehm mit der Hand.

»Aber wo kommst du denn her, Benjamin?«

»Von Helsingör.«

»Von Helsingör?«

»Ja! Ich ging gestern abend von dort fort und bin die ganze Nacht durch gelaufen, ach, das war großartig! Du kannst dir die Sonne heute morgen draußen über dem Sund gar nicht vorstellen!«

»Was wolltest du nur in Helsingör?«

»Wegen einer Stelle.«

»Bekamst du sie?«

»Nein. Da war ein anderer Nichtsnutz, der sie gekriegt hat, gerade eine Stunde, bevor ich kam ... Ach, aber du hättest die Eremitageebene heute morgen um fünf Uhr sehen sollen, ganz bleichrot von Spinnengewebe, das die Sonne beleuchtete! ... Kommt Binse heute abend?«

»Ja.«

»Darf ich hineinsehen und ein bißchen Musik mit anhören?«

»Ja bitte, komm nur.«

Das war am Donnerstag. Da, am Sonntag, als Warberg seinen Morgenspaziergang im Garten von Frederiksberg gemacht, gerade den Überrock ausgezogen hatte und in die Küche hinaus wollte, um sich ein paar Spiegeleier zum Frühstück zuzubereiten, da läutete es.

Er geht zur Tür und öffnet. Und es steht ein großer höflicher Mann draußen mit dem Hut in der Hand:

»Darf ich fragen, Herr Kandidat Warberg?«

»Ja.«

»Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen.«

»Bitte schön.«

Sie gehen in Warbergs Zimmer, wo Gunnar sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und der Fremde sich auf die Chaiselongue setzt.

»Mein Name ist Wachtmeister Carlsen.«

»So ...«

»Ich komme in der Angelegenheit Ihres Herrn Bruders ...«

»Meines Bruders?« sagt Gunnar verwundert.

»Ja: Herr Benjamin Warberg ...«

»Nein, das ist mein Vetter.«

»So–oo? Wir glaubten, es wäre Ihr Herr Bruder ... wohnt er nicht hier im Hause?«

»Nein«, sagte Gunnar schnell, »nein, er wohnt nicht hier ... Aber er kommt oft hierher.«

»Ja, wir meinten, wir wollten uns erst an die Familie wenden«, fuhr der Beamte fort, »ehe wir etwas weiteres in der Sache unternehmen. Es ist ja eine achtbare Familie ...«

Gunnar verneigte sich quittierend.

»Aber was ist denn mit ...«

»Ja, sehen Sie, Ihr Herr Bruder hat sich ein paar Tage im Hotel in Helsingör oben aufgehalten. Und dann hat er es in der Nacht zwischen Mittwoch und Donnerstag verlassen, ohne seine Rechnung zu bezahlen.«

»Ja, es ist eine fatale Geschichte«, sagte Herr Carlsen bedauernd. »Aber wenn nur der Betrag bis Dienstag um zwei Uhr bezahlt ist, dann wird in der Sache nichts weiter unternommen werden.«

»Wieviel macht es?«

»17 Kronen und 65 Öre ... Wir meinten ja, die Familie würde es lieber begleichen und dadurch die gerichtliche Verfolgung vermeiden.«

»Ja, danke«, sagte Gunnar. »Dank für Ihr Wohlwollen! Ich werde tun, was ich kann.«

Der Beamte erhob sich:

»Aber ist der Betrag nicht bis Dienstag um zwei Uhr eingelaufen«, sagte er, »dann sehen wir uns genötigt, gegen Ihren Herrn Bruder einzuschreiten.«

»Es ist mein Vetter!« sagte Warberg wieder. Er wußte eigentlich nicht, weshalb er dies so kräftig zu betonen wünschte.

»Verzeihung! ... Ihr Herr Vetter, ja! ... Er wohnt also nicht hier im Hause?«

»Nein.«

»Also nicht ... ja, wenn es nötig sein wird, dann werden wir ihn schon finden. – Adieu, Herr Kandidat, und verzeihen Sie die Belästigung!«

»Oh, ich bitte, adieu! und Dank für Ihre Rücksichtnahme!«

Als der Beamte fort war, stand Gunnar einen Augenblick hinter der Glastür im Korridor, bis die Flurtür zugefallen war. Dann lief er die Treppe hinauf zur Mansarde.

Auf dem Wege begegnete er Herrn Mikkelsen, der eines der oberen Zimmer bewohnte. Er war in Sonntagskleidung und wollte spazierengehen.

»Ist mein Vetter ausgegangen?«

»Weiß nicht«, sagte Herr Mikkelsen, »glaube nicht.«

Warberg lief weiter. Als er vor der Tür des Vetters stand, klopfte er, aber niemand antwortete.

»Benjamin? ... Benjamin!«

Immer noch keine Antwort.

»Benjamin, ich muß mit dir sprechen! Kannst du nicht antworten, Mensch! ... Es ist ein Mann bei mir gewesen wegen eines Hotels in Helsingör. Du mußt aufmachen!«

Da immer noch kein Laut aus dem Zimmer zu hören war, bückte Gunnar sich und guckte durch das Schlüsselloch.

Er konnte das Bett sehen, das der Tür gegenüber stand. Und einen Stuhl, auf dem Mettes Sachen lagen, konnte er auch sehen. Und im Bett aufgerichtet saß Mette in höchsteigener Person, eben aus dem Schlummer aufgewacht. Das sonst so fein frisierte Haar sträubte sich nach allen Seiten. Er war rot und zerzaust und schlaftrunken, und seine Augen waren rund. Er blinzelte unablässig und starrte unverwandt zur Tür.

»Aber Mette! Weshalb zum Teufel antwortest du nicht! Ich kann dich ja sehen!«

Aber Mette antwortete immer noch nicht.

Gunnar wurde wütend und schlug mit der geballten Faust gegen die Tür:

»Komm jetzt herunter«, sagte er, »wir müssen die Sache zusammen besprechen. Das Ganze läßt sich ordnen, wenn du dich nur bloß darum kümmern möchtest!« Dann ging er.

Unten in seiner eigenen Wohnung machte er sich sein Frühstück zurecht, briet ein paar Spiegeleier auf dem Spirituskocher, schnitt sich drei Scheiben Schwarzbrot, schmierte sie mit Butter und legte sie zusammen. Und dann bereitete er sich den unentbehrlichen Kaffee.

Nachdem er gegessen hatte, steckte er sich eine Pfeife an und setzte sich, um zu lesen. Es verging eine halbe Stunde und es vergingen dreiviertel Stunden, aber der Vetter zeigte sich nicht.

»Nun sollte ihn doch der Teufel holen!« murmelte Warberg und erhob sich. »Ja, ich muß wieder nach oben, ich habe doch das Geld nicht.«

Und er lief wieder zur Mansarde.

»Aber Benjamin!« sagte er, noch bevor er das Zimmer erreicht hatte, »bist du denn ganz kreuzverrückt, Mann!«

Er bückte sich, um wieder durch das Schlüsselloch sehen zu können, aber das konnte er nicht mehr, denn Mette hatte ein Handtuch über das Schloß gehängt.

Alles war still und stumm drinnen, der Bursche war also wohl noch dazu wieder zu Bett gegangen.

»Benjamin! ... Benjamin! ... Ach, da soll doch ...«

Warberg drehte sich auf dem Absatz um und ging.

Er setzte sich und las sein Buch weiter. Dann schrieb er ein paar Briefe, zog seinen Überrock an und ging aus.

Über den Örstedsvej, über Nörrebro, den Blegdamsvej, Österbro, die Langelinie und heimwärts durch die Stadt ging er.

Es waren viele Menschen auf der Straße, viele festlich gekleidete und nette Menschen. Er grüßte mehrere seiner Bekannten und sprach mit ein paar von ihnen. Aber während der ganzen Zeit tauchte in seinem Innern die Frage auf: ob es Mette wohl einfallen könnte, zu Hause in der Dachkammer irgendetwas Idiotisches zu begehen ... hättest du nicht immer weiter an die Tür bullern müssen, bis er aufgewacht wäre?

»Guten Tag, Gunnar!«

Es war der kleine Thorkild Banner, der von der anderen Seite der Straße zu ihm hinübergelaufen kam.

»Guten Tag, Thorkild der Große, bist du hier?«

»Ja, ich gehe drüben mit Tante und Mutter. Komm mit hinüber.«

»Nee, danke«, sagte Gunnar, »ich habe Eile, wie geht es Tage?«

»Ja, er ist gezogen, und nun benutzen wir Vaters Zimmer als Wohnstube.«

»Ist Tage gesund?«

»Nein, er liegt zu Bett, er hat Husten. Adieu, Gunnar! Wann bekomme ich die Briefmarken?«

»Die schicke ich mit der Post.«

»An mich selbst, ja?«

»Ja, natürlich!«

Und der Knabe hüpfte wieder fort über die Straße.

Warberg war nun durch die Stadt hinaus zur Vesterbrogade gelangt und bog in die Farimagsgade längs der Eisenbahn ein. Drüben an der Station sah er Hans Malling und Frau. Sie winkten ihm; aber er grüßte nur und ging eilig davon.

Natürlich war es Unsinn, sich darum zu ängstigen, daß der Kapaun Mette »Hand an sich legen würde«, wie es hieß. Das taten fette Menschen niemals. Und Mette hatte auch wirklich sein Fleisch viel zu lieb, um es für 17 Kronen und 65 zu verkaufen. Und doch, ein Mensch ist ein solches Mixtum compositum, daß man in seiner Analyse desselben niemals ganz sicher sein kann!

Als Warberg in die Straße einbog, in der die Villa lag, lugte er unwillkürlich zum Dachkammerfenster des Vetters empor. Es war geschlossen, aber es war keine Gardine herabgelassen, und man läßt doch gewiß die Gardine herab, ehe man Selbstmord begeht.

Er lief eiligst durch den Garten ins Haus. Er wollte in seine Wohnung, um ein paar Türschlüssel zu holen, vielleicht paßte einer davon in das Schloß oben.

Aber als er die Tür öffnete, fiel aus dem Briefkastenspalt eine Visitenkarte auf die Erde. Er hob sie auf. Und während er las, was darauf stand, gluckerte er ganz leise vor Lachen. Die Karte war aus rosa marmoriertem Karton und trug den Namen:

Benjamin Vesty Warberg, Forstkandidat.

Unter dem Namen stand mit Bleistift geschrieben:

»Was gibt's denn, Lieber??«

Mette selbst war spazierengegangen.

Aber abends gegen 10 Uhr läutete es an der Flurtür.

»Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?« fragte Gunnar barsch.

»Ach, du, ich habe einen langen, langen Spaziergang auf dem Lande gemacht. Bröndshoj ist wirklich ein allerliebstes kleines Dorf.«

»Weshalb konntest du mir heute morgen nicht aufmachen?«

»Ich war ... ich befand mich wirklich nicht wohl«, sagte Mette und drückte zwei Finger gegen die Stirn.

»Du hättest doch antworten können.«

»Ja ... ja, aber der Kopf tat mir so schrecklich weh!« (Hier wurden die Finger in weicher Linie an die Schläfe geführt.) Du wolltest mit mir sprechen, sagtest du ... Hätte das nicht Zeit bis morgen?«

»Nein«, sagte Gunnar entschieden; aber gleichzeitig gefiel ihm doch die Konsequenz des Vetters.

»Nein, die Sache muß bis Dienstag um zwei Uhr geordnet sein ... Du weißt wohl, um was es sich handelt!«

»Ja – a ...«

»Wie kannst du dir nur so etwas einfallen lassen, Benjamin! Nachts aus einem Hotel fortzulaufen, ohne zu bezahlen!«

»Ja, aber, lieber Gunnar, ich hatte wirklich kein Geld!«

»Was zum Teufel wolltest du dann in einem Hotel?« sagte Warberg brutal, um ein Lächeln zu verbergen.

»Ja, ich suchte doch eine Stelle. Und es macht immer einen guten Eindruck, wenn man ein bißchen anständig wohnt, hätte ich die Stelle bekommen, so hätte ich natürlich um Vorschuß gebeten und bezahlt ... das wirst du doch begreifen, Gunnar!«

»Aber nun wolltest du betrügen!«

»Ich begreife nicht, daß du mit deiner feinen Natur solche Ausdrücke gebrauchen kannst!« sagte Mette und blickte den Vetter schmerzlich an. »So ein Wort paßt in den Mund meines Bruders Jesper! ... Betrügen? dann hätte ich doch nicht meinen richtigen Namen ins Fremdenbuch geschrieben. Natürlich hätte ich dem Wirt die paar Pfennige bezahlt, sobald ich wieder zu Geld gekommen war. Das kannst du doch sehr wohl begreifen, Gunnar.«

»Jawohl, jawohl«, sagte Warberg und schüttelte den Kopf. »Aber so etwas kann man trotzdem nicht tun!«

»Wenn man seinen richtigen Namen schreibt?«

»Du siehst ja die Folgen!«

»Ja – a ... war die Polizei hier?«

»Ja; – und der Betrag muß bis Dienstag um zwei Uhr bezahlt sein.«

»Wie groß war die Summe, Gunnar?«

»17 Kronen und 65 Öre ... Du hast nicht von Wasser und Brot gelebt!«

»Nee, man muß doch an so einem Ort essen und trinken wie die anderen. Und dann tat mir wirklich ein bißchen Wein not ... und mir hatte auch zwei Nächte hintereinander geträumt, daß ich die Stelle kriegen würde, Gunnar!«

Warberg hätte Mette um den Hals fallen und ihn küssen mögen, nur wegen seiner Naivität! Aber er machte sich hart. Was Teufel, man kann doch auf der Welt nicht immerwährend Kind bleiben.

»Na, aber, wo willst du nun das Geld herschaffen?« fragte er. »Ich habe keins.«

»Ich hätte es doch niemals von dir genommen!« sagte Mette und erhob die Hand. »Aber ich weiß wirklich nicht, wo ich es hernehmen soll«, fuhr er mit nachdenklicher Miene fort. »Meinst du nicht, daß Mikkelsen hier oben mir helfen würde? Er hat mir schon früher mal ausgeholfen.«

»So, hat er das! Na, na! ... dann mag es ja sein. Du mußt, wie gesagt, sehen, es zu beschaffen, sonst kommst du ins Loch!«

»So weit soll es nicht kommen!« sagte Mette hoheitsvoll. »Die Schande sollt ihr doch nicht an mir erleben!«

»Dann geh' gleich zu ihm hinauf.«

»Meinst du nicht, daß er aus ist?«

»Er geht ja niemals abends aus, das weißt du doch!«

»Ja, aber dann ist er gewiß schon zu Bett gegangen!« »Du kannst es doch versuchen, Mensch! Nimm dich doch nun ein wenig zusammen!«

»Ja, ja, ich gehe schon ... soll ich dir nicht erst ein bißchen vorspielen?«

Warberg wandte sich schnell zum Schreibtisch.

»Nein, danke«, sagte er, »ich habe zu tun.«

Es entstand eine Pause von mehreren Minuten, dann seufzte Mette fürchterlich tief auf.

»Ja, dann gute Nacht, Gunnar«, sagte er, »nun gehe ich hinauf zu Mikkelsen.«

»Gute Nacht«, sagte Gunnar.

– Benjamin schlich gedankenvoll die Treppe hinauf und in sein Zimmer, in dem sich nur ein Bett, ein Stuhl und eine große perlgraue Kiste befanden, in der er sein Hab und Gut aufbewahrte. Er zündete ein Licht an, das in einem halslosen grünen Eau de Cologne-Flakon stand, nahm eine seiner blaßrosa Visitenkarten hervor und schrieb darauf mit Bleistift:

»Lieber Mikkelsen; Sie müssen mir morgen fünfundzwanzig Kronen leihen, da mich und meine Familie sonst ein großes Unglück treffen wird. Sie sollen es bestimmt am Sonnabend wiederbekommen, da ich dann einen größeren Betrag einkassieren werde. Ich komme morgen mittag um zwölf Uhr zu Ihnen ins Geschäft. Ich bin heute abend an Ihrer Tür gewesen, aber Sie waren nicht zu Hause.

Ihr unglücklicher

B.V.W.«

Dann las er das Geschriebene durch und löschte das Licht. Darauf zog er seine Schuhe aus, öffnete vorsichtig die Tür, schlich zu Mikkelsens Zimmer und steckte die Karte ins Schlüsselloch.

Dann schlich er sich wieder zurück, kleidete sich im Dunkeln aus, kroch zu Bett und schlief fünf Minuten darauf sänftiglich ein, furchtlos wie ein Konfirmand.

 


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