Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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In der großen Zwölf-Uhr-Pause ging Warberg auf den Spielplatz zu den Kindern hinunter. Herr Möller stand in der Tür. Er hatte die Inspektion. Warberg konnte es ihm ansehen, daß ihm der Leichenräuber wegen des Schusses einen Anschnauzer gegeben hatte. Und er hatte großes Mitleid mit ihm. Er fühlte, wie peinlich es diesem guten, liebenswürdigen und feinfühlenden Menschen sein mußte, zu jeder Stunde des Tages die Schlächterfaust des Leichenräubers über seinem Haupte schweben zu wissen, von seinen Launen abhängig, ihm dankbar und geduldig zu sein, sich in sein bestialisches Kläffen zu finden, weil er nicht selbst soviel Brutalität und seelische Verderbtheit besaß, wie notwendig war, um zu gleicher Zeit Leiter einer »christlichen« Schule und Mitbesitzer eines grünvergitterten Freudenhauses zu sein. Gunnar empfand Mitleid mit Herrn Möller und sich selbst.

Und er wandte den Kopf ab und lächelte betrübt:

»Es sind immer die besten Menschen, die sich hier auf Erden beugen müssen«, murmelte er.

Aber bald darauf fügte er hoffnungsvoll hinzu, indem er einen Bissen von seinem Mettwurstfrühstück nahm und den Blick nach oben richtete: im Jenseits soll es ja anders zugehen.

»Herr Warberg ...«

»Ich möchte gern ...«

»Na, was gibt's? Heraus mit der Sprache, Thomas?«

Der Knabe stand verlegen vor ihm und trat sich selbst auf die Zehen.

Es war einer der großen Knaben aus der vierten Klasse.

»Ich möchte Sie gern bitten, dies zu lesen.«

Der Knabe reichte Gunnar ein zusammengefaltetes, aus einem Schreibheft gerissenes Blatt.

»Ist das ein Liebesbrief?«

»H – nee«, lächelte der Knabe und blickte zu ihm auf.

Sie gingen in den Turnsaal hinüber, und Gunnar stellte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und las:

»Geehrte Kameraden!

Einige von uns sind übereingekommen, ja, haben den Gedanken gekriegt, einen Gedanken, der nun realisiert worden ist; diesen Gedanken hat schon vorher ein Mann gehabt, wir schmeicheln uns sagen zu können, ein Mann, dieser Mann ist einer unserer Lehrer, nämlich Herr G. Warberg, der Gedanke, der uns so sehr beschäftigt hat, ist nämlich die Errichtung einer Schulbibliothek. Auf Grund der Schwierigkeiten dieser Sache gab Herr Warberg diesen Gedanken auf, aber wir haben ihn nun, wie gesagt, realisiert. Dieser Plan ist von der vierten Realklasse ausgegangen, und wir hoffen, daß wir großen Beifall in den anderen Klassen finden mögen. Im Dezember erging ein Aufruf an die Knaben in dieser Klasse, und ob sie Bücher für eine solche Bibliothek hergeben möchten, und es scheint, daß das kein schlechter Gedanke gewesen ist, und daß dieser Plan großen Beifall gefunden hat, denn es kamen von der vierten Realklasse allein dreißig Bücher ein; viele von euch, Kameraden, schütteln wohl den Kopf, besonders die unter euch, die Romanfresser sind, die ungefähr drei – vier Bücher des Abends lesen. Aber wenn auch, Ihr könnt ja, meinen wir, wenn Ihr auch die ganze Bibliothek in einer Woche auslesen könntet, und Ihr nicht darauf abonnieren wollt, so gibt es doch trotzdem eine andere Weise, die Sache zu stützen. Denn wenn Ihr ein paar alte gebrauchte Bücher habt, aus denen Ihr Euch nichts macht, so wird alles mit der größten Dankbarkeit angenommen. Bedenkt nur das eine, daß in der vierten Realklasse zwölf Schüler sind, und von da kamen allein die dreißig Bücher ein. Bücher, die gut und zerrissen, interessant und uninteressant waren. Aber ist es nicht trotzdem ein gutes Resultat, daß eine Klasse, noch dazu eine kleine, daß sie ganz allein dreißig Bücher schaffen konnte. Wir wollen die Geber nicht persönlich nennen, aber alle, die uns Bücher gegeben haben, haben unsere Achtung und Dankbarkeit, wenn nun bloß von jeder der anderen drei Realklassen, die viel größer sind als die vierte Realklasse, bloß fünfzehn Bücher einliefen, so wären das im ganzen fünfundsiebzig Bücher. Kameraden, außerdem finde ich, müßte es ein stolzer Gedanke sein, sagen zu können, ich habe mitgeholfen, die Bibliothek zu begründen und zu stützen. Die Bibliothek begann am 6. Januar 1890. Es macht fünf Öre Beitrag. Diese fünf Öre werden aufbewahrt, bis sie zu einer so hohen Summe angewachsen sind, daß neue Bücher dafür gekauft werden können. Es kostet nur zehn Öre, darauf zu abonnieren, also fünf Öre billiger als die Volksbibliothek. Alle Bücher, die wir geschenkt bekommen, werden schnell eingebunden und instandgesetzt, wir haben nur wenig Abonnenten. Aber kein Unternehmen gedeiht, ohne auf Widerstand zu stoßen. Zehn Öre ist außerdem auch nicht zu viel, wenn man berechnet, was Bücherreparationen kosten.

Man wende sich an
                Th. P. Friis,
zu sprechen in der Schule 4. Real, 1. Abteilung do. zu Hause Amagerbro Nr. 1.

»Stützt« die Bibliothek »Stützt!«
                Nur zehn Öre!
»Stützt« die Bibliothek »Stützt!«

»Ja, das ist doch sehr gut so«, nickte Gunnar und gab Thomas das Papier zurück.

»Und dann war's noch was anderes«, sagte der Knabe.

»Na, und was denn?«

»Ja, wir möchten gern Herrn Warberg fragen, ob Sie uns das Vergnügen machen möchten, unser Bibliothekar zu sein? Herr Möller hat uns erlaubt, daß wir die Bibliothek oben bei der Sammlung aufbewahren dürfen.«

»So, das dürft Ihr? Gewiß werde ich euch helfen.«

»Danke«, sagte der Knabe froh und ergriff Gunnars Hand mit solidem Druck.

»Wir haben jetzt Naturgeschichte bei Ihnen«, meinte er dann mit fröhlichen Augen.

»Ja, das stimmt«, sagte Gunnar. – »wobei sind wir eigentlich?«

»Wir haben jetzt alles über den Menschen. – Das ist so schwer.«

»Freilich«, lächelte Gunnar. »Das ist ein Tier, mit dem man schwierig fertig wird. Aber wir müssen doch repetieren, Thomas.«

»Gewiß«, nickte der Knabe, »das müssen wir.«

Und dann läutete die Glocke zum Hinaufgehen.

 


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