Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Dies geschah unmittelbar vor den Sommerferien, und er reiste zu seinem Bruder nach Stengaarden.

Nun mußte er doch, zum Teufel, kuriert sein.

Aber wir haben ihn zurückkehren sehen. Und wir haben den Hanswurst zum dritten Male böse grinsen sehen.

Unsern Eingang segne Gott,
Unsern Ausgang gleichermaßen;
Segne unser täglich Brot,
Segne unser Tun und Lassen,
Segne uns mit sel'gem Sterben,
Mach' uns einst zu Himmelserben!

Das Lied war zu Ende und gleich begannen einige der Kleinen aus der »Vorschule« zu plaudern.

»Maul gehalten!« kläffte Herr Bigum, der heute die Morgenandacht drüben im Turnsaal leitete.

Die Knaben schwiegen und kicherten; einige streckten ihm heimlich die Zunge heraus.

Sie haßten diesen Vorsteher mit dem blutigsten Knabenhaß.

Sein Kosename unter den Schülern war »der Leichenräuber« (eine Bezeichnung, die sie wohl einem Cooperschen Roman entnommen hatten), weil es ihm zuweilen ganz unmotiviert einfiel, die Knaben ihre Taschen auf den Tischen entleeren zu lassen, worauf er sich dann alles aneignete, was unter den Begriff »Spielzeug« fallen konnte: Bindfadenendchen, Knöpfe, Münzen, Briefmarken, Tierzähne, Magnetnadeln, Zinnsoldaten und »Donnersteine«, kurz alles, was ein Knabenherz erfreut.

Herr Bigum hatte keinen Begriff vom Umgang mit Kindern. Er behandelte sie wie Sklaven! »Wichse« war das Wort, das mit den fettesten Typen in seinem pädagogischen Handbuch gedruckt stand. Und »Wichse« und Scheltworte regnete auf die Köpfe der Unglücklichen herab. Warberg hatte oft vor Raserei gezittert, wenn der Mann herumwütete. Er hatte sich an die Spitze eines Knabenheeres geträumt, das den Leichenräuber nackt Spießruten laufen ließ, vom Amagertor bis zum Kongehain, aber er durfte nicht einschreiten. Er war ja ebenfalls Herrn Bigums Sklave. Und er bekam noch dazu Gehalt: Fünfzig Öre die Stunde!

Und dann hielt er viel auf den anderen der beiden Vorsteher, Herrn Möller, den die Kinder vergötterten und bei dem sie Trost fanden.

Oft hatte Warberg mit Herrn Möller darüber gesprochen, wie unmöglich der Leichenräuber sei, und Herr Möller hatte eingeräumt und eingeräumt. Aber er konnte nichts ausrichten, da Bigum der Kapitalist war. Im ganzen war Geld das Öl, das Herrn Bigums Lebensmaschine schmierte. Er hatte mit leeren Händen begonnen, hatte aber allmählich zusammengescharrt und gespart und geknappst, daß er nun bedürftigen Brüdern gegen entsprechende Wucherzinsen Darlehen bewilligen, sowie sich mit verschiedenen Aktien an mehreren der Häuser beteiligen konnte, die grüne Sprossen in ihrem Wappenschilde führen. Er war ein ehemaliger Schüler der Hochschule, Seminarist und ein hervorragendes Mitglied eines christlichen Temperenzlervereins. Außerdem war er Junggeselle und Radfahrer.

»Macht die Türen auf!« kommandierte Herr Bigum.

Ein paar Knaben öffneten die Flügeltüren zum Turnsaal.

»Marsch!«

Und die Kinder setzten sich in Bewegung; über den Spielplatz ging es zum Schulhause. Die ältesten Klassen an der Spitze, dann die anderen der Reihe nach bis herab zu den sechs- bis siebenjährigen Hosenmätzen, die ein wenig rennen mußten, um Schritt zu halten. Gunnar stand oben im ersten Stock in der Vorschulklasse. Er hatte jetzt Anschauungsstunde mit den Hosenmätzen. Auf diese Stunde freute er sich stets. Es war für ihn ein wahres Fest, den Eifer der Kleinen zu beobachten, wenn es galt, von den an der Wand hängenden Bildern und den ausgestopften Tieren und Vögeln zu erzählen, die er aus der Sammlung im Privatkontor des Vorstehers holen ließ. Diese Raritäten machten die Kinder glücklich. Besonders ein schon fast ganz kahles Äffchen versetzte die Klasse einmal übers andere in Ekstase.

Nun kam die Bande die Treppen hinaufgestürmt; Gunnar bewaffnete sich mit einem Lineal und trat zur Tür, die er öffnete.

Die Knaben wimmelten hinein, einander puffend und kneifend, um zuerst zur Stelle zu sein. Sie plauderten und lachten durcheinander. Ihre Gesichter waren frisch und rotwangig und ihre Augen strahlten.

»Was ist das für ein Spektakel da oben«, bellte der Leichenräuber von unten aus dem Parterre hinauf.

»Pst–st!« ermahnte Gunnar. »Ihr müßt ruhig sein, sonst kommt Herr Bigum und frißt euch.«

Die Kleinen lugten schalkhaft zu ihm empor und suchten still ihre Plätze.

Aber kaum war die Tür geschlossen, als das Schwatzen wieder losging:

»Darf ich mit hinübergehen und die Tiere holen, Herr Warberg?«

»Nee. ich ...?«

Warberg schlug mit dem Lineal hart auf den nächsten Tisch. »Stille!«

Und man hörte keinen Laut. Aber fünfzig blinkende Äuglein richteten sich erwartungsvoll auf ihn.

»Wer ist Aufpasser?« fragte Warberg.

»Ich«, sagte ein kleiner draller Bursche mit Posaunenwangen, leuchtenden blauen Augen und hellgelbem, fast weißem Haar. Er war aufgestanden und stand kerzengerade wie ein Pfahl.

»So; dann gehst du mit Aage! ... Und dann kann ...«

Gunnar machte hier gern eine kleine Pause, um die verschiedenen Ausdrücke in den Augen ringsum zu genießen; denn die Jungen setzten ihren Stolz darein, zu seinen Begleitern auf dem Wege ins Kontor ernannt zu werden.

»Und dann können Friedrich ... und Hans ... und Hjalmar ...«

Die Enttäuschten ließen ein unterdrücktes Murmeln hören.

»Pst! Nicht geschwatzt! Sonst hol' ich euch gar nichts zum Ansehen.

»Do–o– och ...«

»Ja, aber dann seid ruhig! ... Hör' mal, du, Viggo, du kannst auf sie aufpassen!«

Viggo war der Kleinste von all den Knaben. Er trug einen Anzug mit kurzen Ärmeln und eine Schürze.

Warberg hob ihn von der Bank empor, setzte ihn auf den Lehrertisch und gab ihm ein Lineal in die Hand.

Großer und anhaltender Jubel seitens der anderen.

»So«, sagte Gunnar ernsthaft, »nun ist es genug! Kommt jetzt, Jungens!«

Und er ging mit seinen vier Auserwählten in das Kontor hinüber, das gegenüber auf der anderen Seite des Treppenflures lag.

Als sie zurückkamen, waren sie beladen mit Tieren und Vögeln, Versteinerungen, Spirituspräparaten und dem unvermeidlichen Affen, der von dem Klassenersten Aage im Triumph getragen wurde.

»Wo hast du Sonnabend gesteckt, Karl?« fragte Warberg einen kleinen Blaßschnabel an einem der untersten Tische.

»Ich habe einen Zettel mit«, sagte der Knabe und reichte ihm ein zusammengefaltetes Stück blaues Packpapier. Warberg nahm das Papier und las:

»Der Grunt, weil Karrel Sonnabent nich in Schule war war, daß er keinen Stiefel auf das Bein hat kriegen können.«

»Gut«, nickte Gunnar und steckte das Papier in die Tasche. »Bist du jetzt gesund?«

»Ja.«

»Ich hab' auch einen Zettel!« rief plötzlich ein kleiner schwarzhaariger Bursche und hob den Zeigefinger in die Höhe.

»Herunter mit dem Finger!« sagte Warberg ärgerlich. »Das sind die verflixten Lehrerinnen, die die – na! Was ist das für'n Zettel?«

Der Kleine steckte ihm furchtsam ein Stück Papier in die Hand:

»Sind Sie doch so gut und lassen Sie Albert um zwölf Uhr raus. Ich muß was Notwendiges besorgen was er machen soll.

Freundlich Marie Koett.«

»Ja, den mußt du Herrn Möller zeigen, Albert«, sagte Gunnar. »Du kannst ihn ihm in der Pause geben ... Aber vergiß nicht: Herrn Möller, nicht Herrn Bigum.«

»Nein, ich kann auch Herrn Möller besser leiden«, sagte der Knabe.

»Das kann ich auch!« ertönte es voll Überzeugung aus einem anderen kleinen Munde.

»Pst!«

Nun wurden die geholten Präparate unter die Schüler verteilt. Und Warberg setzte sich bald auf den einen, bald auf den anderen Tisch und ließ die Kinder erzählen, was sie von den Dingen wußten. Er ließ sie laut und deutlich sprechen, daß sie von der ganzen Klasse gehört werden konnten. Und doch schlichen einzelne kecke Bengel sich von ihren Plätzen und stellten sich um Gunnar auf. Er sah sie strengerstaunt an, brachte es aber nicht übers Herz, sie fortzujagen, so flehend waren die auf ihn gerichteten Blicke.

»Ja«, wenn ihr ruhig seid«, sagte er, »dann dürft ihr hier stehen.« Die Knaben nickten beteuernd, und der Unterricht wurde fortgesetzt.

Als nach zehn, zwölf Minuten an voll fehlten, nahm Warberg einen kleinen Taschenrevolver und zeigte ihn den Kindern. – Er erklärte ihnen, wie es zuging, daß er Feuer gebe und die Kugel aus dem Lauf flöge und sich in das Ziel einbohrte, wenn man auf den Hahn drückte, nachdem die »Büchse« geladen war.

Die Augen der Kleinen strahlten vor Interesse.

»Jetzt gehen wir alle miteinander hier in diese Ecke«, fuhr Gunnar fort. »Immer zwei und zwei! Dann paßt auf, dann schieße ich auf die schwarze Tafel! Immer zwei und zwei, hört ihr?«

Die Kinder scharten sich hinter seinem Rücken (weiß Gott, nicht immer zwei und zwei!) und stellten sich an der Wand auf.

»Jetzt zählen wir alle zugleich: eins – zwei – drei – und dann schieße ich!«

Einige der kleinen Kerle begannen vor Entzücken Trippelwalzer zu tanzen. Aber die meisten standen doch starr und steif vor Spannung.

»So! Jetzt zählen wir«, sagte Warberg.

Und die ganze Klasse zählte:

»Eins–zwei–drei!«

Der Schuß donnerte wie ein Kanonenschuß in dem geschlossenen Raum. Der Pulverdampf stieg zur Decke und die Rangen brüllten Hurra.

»Ich hab' das Feuer gesehen!« gestikulierte ein kleiner eifriger Mensch. »Ich habe das Feuer gesehen – so deutlich!«

»Kommt nun mit zur Tafel«, sagte Gunnar, »dann wollen wir sehen, ob wir finden können, wo die Kugel steckt!«

Die Kinder liefen zur Tafel und krochen auf Tische und Bänke.

Warberg stand einen Augenblick an der Tür still und lauschte:

Ja, ganz richtig! Da kam er die Treppe hinaufgestürmt, der Leichenräuber!

Und Gunnar lächelte. Er hatte sich vor Beginn der Stunde Herrn Möllers Erlaubnis zu dieser Schießübung gesichert. Sie hatten Herrn Bigum mit keinem Wort erwähnt. Aber mit den Augen geblinzelt hatten sie. Und gedacht.

Warberg lief eiligst zur Tafel und hob ein paar der kleinsten Knirpse in die Höhe, damit auch sie des Genusses teilhaftig werden konnten, nach dem Loch suchen zu können, das die Kugel gebohrt hatte.

Da flog die Tür auf und der Leichenräuber stand bleich und verbissen auf der Schwelle.

»W ... was geht hier vor?«

Warberg stellte den kleinen Viggo hin und wandte sich Herrn Bigum zu. Er zögerte mit der Antwort, denn er genoß gleichsam dieses kleine zitternde Demonstrativ dort in der Tür. Der Vorsteher hatte die Angewohnheit, wenn er wütend wurde, mit seinen kurzen, dicken Fingern auf der Unterlippe zu spielen.

Und er spielte in diesem Augenblick wie ein Wahnsinniger.

Seine Glatze war dunkelrot und Gunnar glaubte zu bemerken, daß die spärlichen Haare sich auf seinem Scheitel sträubten.

»Was ist hier los, frage ich! Können Sie nicht antworten, Mensch?«

Der kleine Mann hatte ziemlich kurze und gehörig schiefe Beine (Warberg hatte ihm einmal mit der Bitte geschmeichelt, Herr Bigum möge ihm sein Porträt als Radler, im Sportanzug und mit der Jockeimütze auf dem Kopf, schenken).

»Was ist hier los? Gar nichts ist hier los!«

»Sie schießen doch, Mann! Sie haben doch geschossen! Ich habe es ja knallen gehört!«

»Ach so–o! Jaa–a! Ich habe geschossen, um den Kindern einen Spaß zu bereiten!«

»Sind Sie verrückt?« kläffte Herr Bigum und hüpfte ein paar Schritte in die Klasse hinein.

Warberg antwortete nicht. Aber die Kleinen drückten sich ängstlich an ihn. Der kleine Viggo faßte ihn sogar an der Hand.

»Denken Sie, Sie können hier schießen?« fuhr der Vorsteher fort. – »Wollen Sie die Schule um ihr Renommee bringen? Wir können zehn Lehrer für einen kriegen, sag' ich Ihnen! Womit haben Sie geschossen?«

»Mit diesem hier«, sagte Warberg und richtete den Revolver auf ihn.

Herr Bigum ging im Polkatakt rückwärts zur Tür.

Einige der Knaben begannen zu lachen.

»Stille!« befahl Warberg. Und da er fand, daß der Spaß ein Ende haben müsse, fügte er hinzu: »Übrigens will ich Ihnen sagen, Herr Bigum, daß ich vorher Herrn Möllers Erlaubnis eingeholt hatte.«

Herr Bigum spielte eine Sonate.

»Möllers Erlaubnis!« zischte er, »hö! Dazu gehören wohl wir beide! Und ich verbiete es Ihnen ... sowas!«

»Ja, dann schieße ich natürlich nicht mehr«, sagte Warberg ruhig.

Die Glocke rief zur Frühstückspause hinunter, und der Erzürnte verschwand.

Gunnar hatte heute fünf Stunden Unterricht. Und er wanderte von Klasse zu Klasse, und erzog die Jugend in Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, Dänisch und Zeichnen. Sein mitgebrachtes Frühstück verzehrte er auf dem Hofe oder im Flur, gemeinsam mit den anderen Lehrern, verkommenen Zigeunerexistenzen wie er: gescheiterte Leutnants, »außer der Liste«, einem alten lebensmüden Übersetzer, einem hergelaufenen ehemaligen Leiter einer Dorfschule, einem »Magister«, der vor dreißig Jahren eine bändestarke dänische Geschichte herausgegeben hatte, jetzt aber in einer Dachkammer auf Nörrebro lebte und seine Freistunden und Sonntage damit verbrachte, Hechte im Damhaussee zu fischen. – Einem Gemeindeschullehrer, der acht Tage lang Herrn Bigums Duz- und Busenfreund, aber den ganzen übrigen Monat mit ihm verfeindet war, infolge von Streitigkeiten, die es stets zwischen ihnen gab, wenn sie »Sechsundsechzig« oder »Kamerun« im »Elefanten« spielten. Ja, und da waren da nach ein »Fräulein«, ein Turnlehrer und Gunnar Warberg. Die Bezahlung betrug fünfzig Öre die Stunde für die Männer, und das Fräulein bekam wohl fünfunddreißig. Es war Herr Bigum, der die Gagen festsetzte. Und der Markt wäre überfüllt, sagte er.

Vier Jahre lang war Gunnar nun Woche für Woche zu dieser Schule hinausgewandert und hatte seine Stunden gegeben. Hatte sein Mettwurstfrühstück in der Pause gegessen, im Winter gefroren und war im Sommer vor Hitze und den Ausdünstungen der Kinder beinahe erstickt.

Wenn er nach beendigter Schulzeit nach Hause ging, war er oft müde und schlapp, wie nach der härtesten körperlichen Arbeit. Aber er mußte ja froh sein, daß er etwas »Festes« hatte. Und er blieb, während die anderen Lehrer kamen und gingen wie ein stets wechselnder Pilgerzug hungriger und liederlicher Menschen, hielt er aus und suchte sich zu Hause in seiner »wahnsinnigen Stube« bei seinen Büchern und Papieren das Rückgrat zu stärken, so gut es nur gehen wollte. Das Leben ist doch nun einmal nicht lauter Schokolade!

 


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