Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Eines Tages, als Warberg aus der Schule nach Hause kam, lag auf seinem Schreibtisch ein großes blaues Kuvert. Keine Adresse. Da stand nur: »Bitte, lies es. Binse kommt Freitag!«

Auf welche Weise konnte der Brief hierhergelangt sein? Seit er aus der Mansarde heruntergezogen war, hatte sie keinen Schlüssel mehr zu seiner Wohnung ... Benjamin? Nein, der hatte auch keinen Schlüssel! Dann hatte sie sich wohl vom Wirt aufschließen lassen. Es fehlte ihr ja nicht an Mut.

Er nahm das Kuvert und ließ es wieder auf den Tisch fallen.

Wahrscheinlich wieder eines dieser »Proverbes«, mit denen sie zu den Theaterdirektoren herumwanderte und sich Freibilletts erwarb, von denen er ihr immer wieder versichern mußte, daß sie »äußerst talentvoll« seien, trotzdem er ihr ganz genau hätte nachweisen können, daß sie dies von dem Schriftsteller und dies von jenem, und dies wieder von einem anderen gestohlen hatte! ... »Aber du mußt es ja lesen«, murmelte er. »Du mußt es ja lesen! – wenn man nur wüßte, was für eine erbärmliche Schlafmütze du eigentlich bist!«

Er nahm seinen Überrock ab und hängte ihn im Entree auf, dann holte er aus einer seiner Taschen ein kleines rundes Päckchen in einer Umhüllung aus weißem Papier. Es waren zwei Blutwürstchen, die er auf dem Heimwege in einem Schlächterladen gekauft hatte. Das tat er manchmal, wenn er zu wenig Geld hatte, um sich Marken im Gasthause zu kaufen. Er briet dann die Würste auf dem Spirituskocher draußen in der Küche und verzehrte sie mit Streuzucker. Dann bereitete er sich eine Tasse Kaffee. Und dann hatte er diniert. Sobald er heute gegessen hatte und der Kaffee fertig war, stopfte er sich seine lange Pfeife und stellte die Tasse auf den Stuhl vor die »Chaiselongue«.

Dann nahm er das Kuvert und schnitt es auf:

Nein, diesmal war es wirklich eine Novelle!

Er blätterte in den Papieren:

»Sechsundzwanzig Seiten! ... Wie heißt sie? ... »Eine Ähnlichkeit« ... ja, das will ich gern glauben!«

Dann legte er sich auf die Chaiselongue, rauchte und las:

»Es war vorbei. Alles, was Jahre hindurch ihr Glück und Leben gewesen war. Er hatte gebeten und sie hatte gegeben. Als der Rausch vorüber, begann das Verhältnis ihn zu langweilen, er wurde kühl und rücksichtslos, fand stets verletzende Worte, legte ihr schlechte Eigenschaften bei und verhehlte zuletzt nicht, daß er einen Bruch herbeiwünschte. Eines Tages erhielt sie dann einen Brief, in dem er ihr mitteilte, daß er sie nicht mehr sehen wolle, und ungefähr zu gleicher Zeit erfuhr sie, daß er in zärtlichen Beziehungen zu einer anderen stand.

(»Das ist nun vorläufig gelogen«, murmelte Gunnar, der gleich die Fährte witterte.)

Nun war es vorbei. Sie hatte alles gegeben und alles verloren. Einige Monate hindurch trauerte sie wie eine Wahnsinnige, ihr Gehirn arbeitete Tag und Nacht mit dem einen Wort »Vorbei«. Aber es konnte ihr nicht helfen – nichts auf der ganzen Welt konnte ihr helfen. – Es war vorbei und kam nie wieder.

Da begegnete sie eines Tages Aage.

Er war zwanzig Jahre ...

(Ho, ho!)

Er war zwanzig Jahre; sie hatte ihn vor einigen Monaten getroffen, und er hatte ihr damals mit kindlicher Heftigkeit seine fünfjährige Leidenschaft für sie gestanden, wie er im Fieber auf den Straßen umhergerannt war, um ihr zu begegnen, daß seine erste Jugend in der Sehnsucht nach ihr verstrichen sei.

Etwas unsagbar Rührendes lag über ihm, wie er so vor ihr stand, mit seinen großen blauen Kinderaugen; es sprach eine stille, lebhafte Sehnsucht aus ihnen, die nur ein Geständnis, keine Bitte wagte.

Und mit einem einzigen Wort sollte sie dieses frische junge Gefühl zu Boden schlagen.

Sie hatte seinen Kopf zwischen ihre Hände genommen und sein blondes Haar geküßt, und dann hatte sie es gesagt – – daß sie verlobt sei!

(Reizend! – murmelte Gunnar. – Entzückend! Hirtenpoesie!)

Er hatte sie bloß angeblickt, ihre Hand fest umspannt und dann losgelassen.

Sie hatte ihn nach dem Bruch mit Kai nicht gesehen, und er wußte wahrscheinlich nichts davon.

Ob er sie noch liebte! Sie wünschte es beinahe; sie sehnte sich danach, wieder liebevolle, warme Worte zu hören – bloß etwas, das sie zerstreuen, die tote Leere in ihrer Seele ausfüllen, sie den Schmerz vergessen lassen könnte, den sie immer noch über Kais Betrug empfand!

(Der Satan! Daß sie das fertigbringt! Mein Betrug. Ich habe mich doch nicht ausgestopft! ... Aber weiter. Das ist wirklich interessant.)

Als Aage sie erblickte, kam er sogleich auf sie zu und grüßte.

»Aber, liebes Fräulein, wie leidend sehen Sie aus ... Sie sind mager geworden!«

(»Haha«, platzte Gunnar heraus. »Das will ich glauben!«)

» ... Sind Sie krank gewesen?«

»Ja, – nein – nicht krank – aber ich bin schlechter Laune – das heißt, ich bin es gewesen. Nun ist es vorüber«, fügte sie mit einem nervösen Lächeln hinzu.

»Nein, Sie sehen gar nicht lustig aus.«

»Lustig«, – sie lachte ein wenig hart – »nein, ich amüsiere mich auch nicht. Es ist so trist, das alles!«

»Ach nein, nun dürfen Sie nicht traurig sein – das tut mir so leid.« »Ja, wenn Sie erst so viel durchgemacht haben wie ich, dann sind Sie auch nicht mehr »lustig«!«

»Nein, aber, du lieber Gott, alle Menschen sind betrübt – das ist gar nicht mehr zu ertragen!«

»Man hat ja auch keinen Grund, anders zu sein«, sagte sie und zog ihre Handschuhe ein wenig in die Höhe.

(Sehr gut!)

»Nein, Fräulein, nun sind Sie affektiert, Sie haben doch wirklich keinen Grund, traurig zu sein.«

Sie blickte zu ihm empor, während ein seltsames Lächeln über ihre Lippen glitt.

»Meinen Sie nicht!«

»Nein.« Er lachte bitter. Dann verstrichen einige Minuten in Schweigen.

»Gehen wir ein wenig in den Örstedspark und setzen wir uns in die Sonne – ach, kommen Sie mit, ich liebe die Sonne!«

»Ja, das weiß ich noch. Wenn bloß die Sonne scheint, dann sind Sie guter Laune!«

Sie gingen in den Park und setzten sich in die kräftigste Sonne; er zog den Hut ins Gesicht und steckte die Hände in die Taschen.

Als sie ein Weilchen gesessen hatten, sagte er plötzlich:

»Ich hatte solche schreckliche Sehnsucht nach Ihnen im Sommer.

– Uh, es war so langweilig drüben in Fünen!«

»Also deshalb.«

»Ach, Sie wissen ja ganz gut, daß ich Sie sehr liebhabe!«

»Noch?«

»Ja – – momentweise.«

»Ach so!«

»Ja, lieber Gott, man kann doch nicht herumgehen und sich von der Liebe zu einem Weibe verzehren lassen, das sich nichts aus einem macht.«

»Ich mache mir sehr viel aus Ihnen!«

»Ja–a, aber es ist ja doch langweilig, wenn es so bleibt wie es jetzt ist. – Wie geht es Ihrem Freunde?«

»Gut – vermutlich.«

»Quält er Sie noch?«

Sie antwortete nicht.

»Sie haben mir so etwas angedeutet, an dem Tage, als Sie schlechter Laune waren.«

(»Hyit!« pfiff Gunnar. »Da hat sie sich gewiß verschrieben!«)

»Ja, ich entsinne mich – nein, er quält mich nicht mehr. Es ist aus – das Ganze ist aus!« Sie blickte vor sich hin, die Augen wurden blank und das Weinen zitterte um ihren Mund. Aber Aage sprang auf, drehte sich im Kreise herum wie ein Kind, lief dann auf sie zu und küßte sie auf die Wange.

»Aber Aage!«

»Ja, aber ich – es machte mich so froh«, und er drehte sich wieder im Kreise. – »Nun können wir es ja so furchtbar gut haben – wie bin ich fröhlich!«

»Sie denken nur an sich, Aage, – Sie sind jetzt froh – aber Sie denken mit keinem Gedanken daran, ob ich bei diesem Bruch gelitten habe!«

Er setzte sich und ergriff ihre Hand.

»Ach ja, aber ich glaubte eigentlich nicht, daß Sie sich besonders viel aus ihm machten, wenn man so geplagt worden ist, finde ich, müßte man bald genug haben.«

»Ja – später – aber ehe es soweit kommt –«

»Nein, nein, – nun dürfen Sie nicht wieder traurig werden –ich bin so fröhlich!«

Sie hätte gerne mit ihm über die letzten Monate gesprochen ... (Sieh mal an, dachte Warberg, die letzten Monate! ... wir sind noch nicht einmal einen Monat auseinander gewesen, und sie hat wahrscheinlich mit Aage schon acht, vierzehn Tage vor meiner Abreise poussiert.)

... Von allem, was sie gelitten, von der tödlichen Leere, die jetzt in ihrem Leben herrschte. Aber sie fühlte, daß ihn ihr Verhältnis zu Kai nur interessiert hatte, weil es ihm hinderlich war: jetzt, da es gelöst war, dachte er nicht mehr daran, er war nur fröhlich, daß das Hemmnis aus dem Wege geräumt war.

»Ich muß gehen – es ist vier Uhr.«

Er erhob sich mit einem Seufzer und schlenderte schweigend und mißgestimmt neben ihr her.

»Können wir heute nicht zusammenbleiben?« fragte er schüchtern – »ich habe es so trist zu Hause allein in meinem Zimmer – Sie wissen doch, ich habe mich mit meiner Familie entzweit, weil ich in dem Blatt schreibe ...«

(»Dacht' ich mir's doch, daß er es wäre! Er spielt wirklich seine Rolle gut! paßt auf, es endet mit ... na!«)

» ... Aus den Freunden mache ich mir nicht viel, – nur auf Werner halte ich etwas – aber er ist verreist. Ich bin so froh darüber, daß ich Sie getroffen habe und darüber, daß ... weshalb wollen Sie nun nicht ein wenig gut gegen mich sein ...? Jetzt dürfen Sie es ja!«

Sie blickte ihn an, blickte in seine tiefen blauen Kinderaugen ... (Puh–h, diese Kinderaugen bei erwachsenen Männern, nach denen alle Schriftstellerinnen schreien.)

... sah sein schönes blondes Haar. Etwas Müdes und Hilfloses lag um die halbgeöffneten Lippen, die um ein wenig Freude flehten – nur für ein paar Stunden – und wie vor einem halben Jahre hatte sie Lust, dieses Kinderhaupt ...

(Es geht wahrhaftig wieder los!)

... zwischen ihre Hände zu nehmen, mit ihren Lippen in seinem Haar herumzustreichen ...

(»Pfui! pfui!«)

... seine schmalen Wangen in ihre Finger zu pressen, und diesen bleichen furchtsamen ...

(Kindermund! ja natürlich! – welche Gelüste für eine der Trauer geweihte Priesterin!)

... Und weshalb sollte sie nicht gut gegen ihn sein ... Er war doch so treu gewesen – – – und, ja, sie wollte in etwas anderes hinein, bloß eine Zeitlang – nichts Ernsthaftes, nur vergessen, diesen verzehrenden Jammer vergessen, der niemals schwieg – diese eisige Leere, die niemals sprach!

(Sehr gut!)

... Andere Worte sollten in ihren Ohren ertönen, andere Küsse die alten verwischen. Sie wollte ihre warmen Gefühle und ihren Schmerz verhöhnen – – ach nein, sie wollte bloß vergessen, für einen Augenblick vergessen und dann wieder zu leiden beginnen!

Ihre Hand ruhte in der seinen.

»Adieu«, sagte sie. »Ich gehe heute abend ins Theater, da können wir uns sehen. – – Sie dürfen mich nach Hause begleiten – – bin ich nun gut?«

»Ja, Sie sind furchtbar lieb – – aber – –«

»Aber?«

»Aber, es ist so wenig. – – Können Sie nicht ein bißchen früher von dort nach Hause gehen?«

»Um zehn?«

»Nein – neun!«

»Ja, ja, – kommen Sie also um neun Uhr.«

Er hüpfte vor Entzücken in die Höhe.

»Wie süß sind Sie! – Ich liebe Sie, liebe Sie! denken Sie an die sechs Jahre!«

»Wie lange können Sie das noch tun, meinen Sie?«

»So lange Sie wollen.«

»Und wenn ich nicht mehr will?«

»Dann wird wieder momentweise geliebt – – – Oh, aber Sie sind so wunderschön, so wunderschön!«

»Still doch, Aage – gehen Sie jetzt.«

Und sie schlug mit dem Regenschirm nach ihm. (Ah, ha, kleiner Schelm!)

... »Heute abend, heute abend – – wunderschöne – – neun Uhr.«

Sie nickte und ging.

 


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