Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Draußen strahlte die Sonne, und der Himmel war blau. Aber die Wagen und der Wind, dieser ewig junge, lebenskräftige dänische Wind, füllten die Lungen mit einem trockenen grauen Staubnebel, der herniedersank und sich wie ein Büßermantel auf die ganze Umgebung legte: auf die Bäume, Pflanzen und Menschen und die Bretterzäune und die Fassaden der Häuser und die unschuldigen Tiere.

Gunnar bog aus der Villenstraße, in der er wohnte, in eine andere ein, die eine Steinbrücke und Straßen- und Bürgersteige mit breiten Fliesen hatte.

»Wahrhaftig, da geht der Verbrecher!« hörte er plötzlich eine Männerstimme rufen.

Er blickte auf:

Es war der Maler Hans Malling mit seiner Frau, der drüben auf der anderen Seite der Straße stand.

»Was, Teufel, wo kommst du her?« fragte Malling. »Sind die Ferien schon zu Ende?«

»Ja, übermorgen beginnt die Schule.«

»Er sieht gut aus, Marie, was? Braun wie eine Schokoladenstange! Aber wo ist das Fett, das du dir auf die Nieren legen solltest, alter Freund?«

»Das liegt im Koffer. Ich habe es noch nicht ausgepackt.«

»Dann solltest du es, weiß Gott, tun, denn jetzt wirst du es brauchen können, mein Junge!«

»So–o?«

»Ja! Wenn du ins Zuchthaus kommst!«

»Ach, Unsinn, Hans!« sagte die Frau und schlug ihren Mann auf den Arm.

»Gewiß kommt er ins Zuchthaus, soweit ich die dänische Sittlichkeit kenne.«

»Was faselst du da eigentlich von einem Zuchthause?« fragte Gunnar.

»Das Waisenhaus, Lieber! Das Waisen-, Zucht-, Arbeits- und Korrektionshaus! was? Was sagst du dazu? Gratisbouletten auf Staatskosten! Na, du tust vielleicht so, als ob du deine eigene Schande nicht kennst?« fuhr Malling fort, da Gunnar ihn immer noch verständnislos anstarrte, »weißt du denn nicht, du Slavophile, wovon alle gebildeten Menschen hier sprechen? ... Einzelne betrübt, der Pluralis aber mit Freude? ... Wann bist du angekommen?«

»Gestern abend ...«

»Gestern abend ist er angekommen, Marie, und er weiß noch nichts! ... Darf ich fragen: Heißen Sie am Ende nicht Gunnar Warberg?«

»Ach, Hans ...« begann die Frau.

»Stille, du Bachstelze, wenn die Lerche singt! Heißen Sie am Ende nicht Gunnar Johannes Warberg?«

»Doch«, lächelte Gunnar. »Lassen Sie ihn nur ausreden, gnädige Frau.«

»Und Sie schreiben zuweilen geniale Novellen in dem Schmutzblatt »Der Kopenhagener«?«

»Zuweilen, ja.«

»Aber zuweilen auch unzüchtige?«

»Nie!«

»Gut«, nickte der Maler. »Du lügst also auch! Aber nun sagt man indessen, daß Ihre letzte geniale Unzüchtigkeit oder unzüchtige Genialität die ältere Schamhaftigkeit an höchster Stelle verletzt hat ... Sie sollen ins Loch, mein Lieber! Vielleicht ein bißchen Wasser und Brot, Vielleicht teilweise Köpfung!«

»Ach, Unsinn!« sagte Warberg. »Meine letzte Geschichte ist ja das Moralischste, was ich bisher geschrieben habe!«

»Es gibt mehrere Arten von Moral, Herr Literat Warberg. Fragen Sie nur meine bessere Hälfte!«

»Ja–a, Warberg«, sagte die Frau zögernd. »Mir gefällt die Novelle auch nicht: Sie war freilich gut geschrieben und wahr genug, aber ...«

»Du hast ihre jungfräuliche Schamhaftigkeit verletzt, Gunnar. Bedenke, sie ist erst sieben Jahre verheiratet!«

»Ach, Unsinn, Hans! Du weißt sehr wohl ...«

»Ich schreibe nicht für Frauenzimmer«, sagte Warberg. »Ich schreibe für erwachsene Männer.«

»Kannst du darauf herausgeben, Marie?« fragte Malling und kniff ein Auge zusammen. »Dann gib es ihm ordentlich!«

»Aber Sie wissen doch nicht, wer Ihre Sachen zu lesen kriegt!« fuhr die Frau eifrig fort. »Besonders wenn sie in einer Tageszeitung gedruckt sind, die jedes Kind ...«

» ... sich für fünf Öre kaufen kann!« vollendete Gunnar. »Verzeihen sie, gnädige Frau, aber ich kenne das alte Lied! Es kommt aus der richtigen alten, massiven Kohlfabrik! ... Aber wollen Sie dann nicht zunächst einen Artikel in der ›Berlingske Tidende‹ veröffentlichen, daß der Staat seine öffentlichen Häuser in der Färbergade schließt! Wer die duldet, der soll mir nicht Ehre, Leben und Hab und Gut aberkennen!«

»Ach ja, liebe Gattin«, seufzte Malling, »sage ich das nicht immer: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! ... Weißt du, was sie gestern zu mir sagte, Gunnar? Sie sagte, ich wäre ihr nicht genug! Begreifst du die Tiefe? Nicht genug!«

»Aber, Hans!« rief die junge Frau. »Nun gehst du doch zu weit!«

»Ja, er ist schrecklich«, lachte Gunnar. »Ihn sollte man viel eher ins Gefängnis stecken.«

»Wollen wir gehen?« fragte der Maler, »Wo willst du hin, Gunnar?«

»Ach bloß einen Happen Gras will ich mir holen.«

»Das wollen Marie und ich auch, wollen wir zusammengehen? Oder brütest du vielleicht über einer neuen Unzüchtigkeit, acht Pfennig die Zeile?«

»Ja«, sagte Warberg. »Aber in einer Gesellschaft kann ich gewiß ausgezeichnete Ideen bekommen.«

»Gut! ... Rechts ... Nein, es ist ja wahr .. linksum! ... Marsch!«

Und sie wanderten davon, Frau Malling in ihre Mitte nehmend, ein paar kleine Gäßchen und sich kreuzende Straßen nach Frederiksborg hinaus.

Sie sprachen über Warbergs Novelle. Der Maler erzählte, daß in dem allersteifsten konservativen Blatt eine Aufforderung an »die zuständige Stelle« (mit gotischen Typen natürlich) gestanden habe, den Schweinereien im »Kopenhagener« ein Ende zu machen.

»Und du kannst Gift darauf nehmen, lieber Freund«, schloß er, »daß dies keine Stimme in der Wüste sein wird. Es gibt allzuviel Dunkelmänner, denen es in den Fingern kribbelt vor Sehnsucht danach, dem Teufel einen Pfahl in den Leib zu rennen.«

»Na, jaja, man muß sich eben den Schickungen des Lebens beugen!« meinte Gunnar. »Alles ist ja interessant, wenn man es richtig betrachtet.«

»Ja, aber Warberg, das wäre doch schrecklich, wenn Sie ins Gefängnis kämen«, sagte Frau Malling betrübt. »Sie verlieren ja Ihre bürgerliche Ehre!«

»Hoho, die ist schon lange flöten!« brummte der Maler.

»Na, na, gnädige Frau«, tröstete Gunnar. »Ich habe weder Mord noch Diebstahl oder Falschmünzerei begangen.«

»Das Ganze ist doch eigentlich merkwürdig«, sagte der Maler, »denn Holberg, der ist doch jetzt äußerst fein; und der sagt doch so manches.«

»Ja, und Rabelais wird mit staatlicher Unterstützung übersetzt.«

»Und Boccaccio, du!«

»Und Villons ›Neues Testament‹«, fügte Frau Malling hinzu.

»Von dem großen Testament der Bibel ganz zu schweigen!« sagte Gunnar.

»Ach, Gott ja«, nickte Mailing, »paß auf, alter Junge, in ein paar hundert Jahren stehst du im Schullesebuch, und die Konfirmanden werden in der Kirche in dir ›überhört‹ ... Es heißt bloß aushalten!«

»Ja, an mir soll's nicht fehlen.«

Man war inzwischen schräg über die Frederiksborg-Allee durch den Plantanenweg und quer über die Vesterbrogade gegangen und schritt nun in Rabbeks Allee auf Söndermarken zu.

»Selig sind die Unmündigen im Geiste«, sagte Malling und deutete auf das rote Gebäude der Idiotenanstalt.

»Ach, so etwas mußt du nicht sagen, Hans. Du glaubst ja nicht, was du redest!«

»Halt den Schnabel, ich diskutiere nicht mit Frauenzimmern.«

»Ganz unglaublich groß wirst du immer, Hänschen, wenn du mit Warberg zusammen bist«, sagte Frau Malling und kniff ihren Mann in den Arm.

»Ich werde keineswegs größer als gewöhnlich, teure Gattin«, entgegnete der Maler. »Aber ich fasse unwillkürlich etwas mehr Mut, denn mein Freund dort verachtet die Frauen ebenso wie ich.«

»Ja, du bist eine herrliche Größe«, lachte sie und streichelte ihm die Wangen.

Der Maler errötete wie ein ganz junger Student.

»Weiche von mir«, sagte er, »du zärtliche Fahnenstange!«

»Sehen Sie, wie rot er wird, Warberg?«

Gunnar nickte lächelnd.

»Ach, Quatsch!« murmelte Mailing und wandte das Gesicht fort.

»Das tut er immer, wenn ich ihn liebkose«, lachte Frau Malling und sah ihren Mann verliebt an.

»Für dich werde ich rot«, brummte er. »Du mußt dich doch schämen, daß du deine ... deine ... Triebe nicht einmal auf offener Straße beherrschen kannst!«

Gunnar dachte mit einem Seufzer an sein Verhältnis zu Binse und beneidete diese beiden Menschen, die sich verstanden, so zufrieden und so verliebt ineinander waren – nach siebenjähriger Ehe!

Man hatte nun das Winkelchen zwischen den neuen Carlsbergschen Gebäuden und dem alten Bakkegaard passiert und bewegte sich nun auf dem Asphalttrottoir der Langgade von Valby.

»Wollen wir nach meinen Schüsseln in der Brennerei sehen?« sagte der Maler.

»Oho!« sagte Gunnar.

»Na, wir können's ja ebensogut lassen.«

»Nein, natürlich gehen wir hinaus, hast du zurzeit viel Schüsseln draußen?«

»So drei, vier Stück.«

»Die sind doch nicht für den Verkauf bestimmt.«

»I Gott bewahre! Ich werfe doch keine Perlen vor die Säue!«

»Nana, sei nur wieder gut!«

»Hier geht's lang!« kommandierte der Maler und schwenkte in eine von großen reichbelaubten Ulmen beschattete Querstraße ein. Am Ende des Weges hatte man die Aussicht über den alten Eisenbahnwall bis zum Kalvebodstrand und das Amagerland mit seinen Kirchen, Häusern und Giebeln.

»Kannst du das Palais sehen?« fragte Malling und deutete mit seinem Stock auf das Gefängnis van Kristianshavn, dessen gelbgraue Steinmassen sich über die umliegenden Gebäude erhoben.

»Ich sehe es«, sagte Gunnar. »Und meine Seele sehnt sich nach dem stillen Klosterfrieden.«

»Gott, wie ihr Männer faseln könnt«, lachte Frau Malling. »Und dann behauptet ihr immer noch, wir müßten mit dem Maulkorb gehen.«

Sie durchschnitten eine Menge kurzer ungepflasterter Wege und Gäßchen, wo kleine einfache Villen und Bauernhöfe zwischen Gärten und Feldern lagen.

»Hier kann man doch Luft schöpfen, Mailing.«

»Es ist der einzige Flecken auf der Welt, wo man das kann!« bestätigte der Maler. Dann blieb er stehen und deutete auf ein Gebäude:

»Sieh, das liebe ich«, sagte er. »Und will's Gott, werden Marie und ich in einer solchen Hütte sterben!«

Es war eine kleine strohgedeckte Villa mit weißgetünchten Fachwerkmauern: ein hoher Keller und ein niedriges Parterre. Unter dem Dach waren beide Giebel mit je einem rundbogigen Fenster in eiserner Einfassung mit vielen Sprossen und kleinwinzigen länglichen Scheiben geschmückt. Und zu der Haustür im östlichen Giebel führte eine alte verfallene Holztreppe, deren eisernes Geländer Verzierungen von Blättern, Arabesken, Schlangenköpfen und Weintrauben in getriebener Arbeit aufwies. Das mittelste Parterrefenster bestand in einem grüngestrichenen achteckigen Erker mit spitz zulaufendem Schindeldach und dicken Scheiben.

Und die dicken klobigen Eichenpfosten hinter der Übertünchung der Wände hatten in den Ecken nachgegeben und standen von der Wand ab, einander zugeneigt, schlenkrig und lose in den Knien, wie die Leine einer Schar älterer Kavaliere, die an einem Samstagabend vom Klub heimwärts stiefeln.

Das Haus konnte wohl zu Anfang dieses oder Ende des vorigen Jahrhunderts erbaut sein.

»Ist es nicht herrlich?« fragte Mailing. »Ist's nicht kolossal? Wahnsinnig?«

»Freilich«, nickte Gunnar, »es ist brillant!«

Der Maler hob seine geballte Faust zum Himmel empor:

»Und müßten nun nicht alle Bauidioten und Kasernenentrepreneure bei lebendigem Leibe geröstet werden, daß sie wie brüllende Löwen umhergehen und uns alle diese Häuser verschlingen?« schäumte er.

Seine Frau schüttelte den Kopf und lachte. Und Gunnar sagte:

»Ich bewundere dein heiliges Feuer, Ove Malling! Es wird schon zu großen und guten Taten führen.«

»Ihr zwei Stockfische!« brummte der Maler, machte kehrt und lief mit langen beleidigten Schritten den anderen voran. Als er den Torweg der Fabrik erreicht hatte, blieb er stehen und wandte sich um:

»Kommt jetzt, Ihr beiden Wassersuppen!« rief er. Aber als alle drei eben in den Torweg einbiegen wollten, kam ein rundlicher Mann schräg über den Weg, ihnen entgegen. Es war Vetter Benjamin.

»Bist du hier, Gunnar? Das ist gut! Denn ich möchte gern mit dir sprechen.«

Er stand da, bleich und verstört, mit Hosen, die nur bis zu den Knöcheln reichten und ungebürsteten Schuhen.

»Gehören die zu dir?« fragte er mit einem unsicheren Blick auf den Maler.

»Ja.«

»Ja aber ... ja aber ... du mußt mit mir kommen ... ich muß mit dir sprechen.«

»Was ist denn los?«

»Ach, es ist entsetzlich! Es gilt mein Leben!«

»I, Gott soll mich bewahren!«

»Du mußt mitkommen!«

Gunnar wandte sich zu Mallings.

»Entschuldigt«, sagte er. »Ich kann nicht weiter mitgehen. Aber wir können uns hier in Söndermarken treffen, wenn ihr fertig seid. Gleich am Eingang bei der ersten Bank ... Abgemacht?«

Malling nickte.

»Und wenn ich nicht da sein sollte, so geht ruhig. Ihr braucht nicht auf mich zu warten.«

Malling nickte wieder.

»Was ist das für ein Eunuch?« fragte er dann.

»Mein Vetter.«

»Er – ›Mette‹?«

»Ja aber, den muß ich mal zu fassen kriegen«, sagte er eifrig.

»Nein, nein, nicht jetzt.«

»Du hast es mir doch versprochen.«

»Gewiß, gewiß, aber nicht jetzt!«

»Hat er jemand umgebracht?«

»Nee, so schlimm ist es wohl nicht!«

»Ja, denn er sieht wirklich völlig metaphysisch aus!«

»Dann kommt ihr also herüber nach Sondermarken?«

»Jawohl.«

Und Gunnar eilte seinem Vetter nach, der um die Ecke der Fabrik gelaufen und verschwunden war.

 


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