Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Zum Frühjahr kehrte sie auch in die Hauptstadt zurück, müde von Viehzucht und Ackerbau. Und Gunnar suchte sie draußen in Vesterbro auf, wo sie mit ihrer Mutter und ihrer ältesten Schwester wohnte. Und oben in ihrem Zimmer unter dem Dache warf er sich auf die Knie und erklärte, ohne die Gunst und Gabe ihrer Liebe könne er keineswegs leben!

Und sie »lächelte so honigsüß mit ihren weißen Zähnen«, wie es im Liede heißt, hob ihn zu sich empor, streichelte ihm Bart und Haar und küßte seinen Mund, seine Stirn und seine Augen.

Aber unten bei Mutter und Schwester gebärdete sie sich wie eine Königin – eine Königin, die mit ihrem Pagen im Vorzimmer und hinter Draperien schäkert.

Und alles, was sie ihm gab, gab sie wie aus Gnade. Denn sie war vierunddreißig Jahre und er war zweiundzwanzig.

Sie trafen sich auf Straßen und in Torwegen, in Cafés und in Theatern. Und sie schwärmten und träumten auf den Bänken der öffentlichen Parks. Sie, den Kopf auf seine Schulter gelegt, gar lieblich von dem Mond und den süßen Sternlein plaudernd. Er, den Arm um ihren Leib geschmiegt, schweigend und düster und nur an eines denkend: ihren Leib und den Genuß ihres Leibes!

Es dauerte lange, ehe es Gunnar durch Bitten und Beschwörungen gelang, Binse zu einem Besuch auf seinem Zimmer zu bewegen. »Es sei nicht passend«, sagte die Dame, »daß ein junges Mädchen einen jungen Herrn in seinem Zimmer besuche« ... Ach, sie waren so keusch, diese dreißigjährigen »jungen Mädchen«! so keusch wie gefallene Engel!

Hätte Warberg in diesen Tagen über Kapital verfügt oder in der Lotterie gewonnen oder nur so viel verdient, daß er für zwei Menschen das Futter schaffen konnte – er hätte Binse geheiratet!

Dermaßen war er von der Sehnsucht nach ihr besessen, daß er sich selbst und ihr einbildete, er liebe sie für Zeit und Ewigkeit.

Und als er dann endlich das Ziel seiner Wünsche erreicht hatte, taumelte er eine Zeitlang herum, als habe er einen Zaubertrunk gekostet.

Der betagte Briefbote ihrer Straße sank in die Knie unter der Last der Zuschriften in Vers und Prosa, die Gunnar auf sie herabrieseln ließ.

Und sie erfand an die tausend Lügen daheim, um ihren Geliebten Abend für Abend in seinem Zimmer besuchen zu können.

Und da oben sausten sie davon in einem Sturm von Liebe!

 


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