Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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»Könnte ich noch mit irgend etwas dienen?«

Der Wirt stand balancierend da, die rechte Hand auf die Tischplatte gestützt und die linke liebenswürdig-deliristisch schwenkend. Eines seiner Beine war zu kurz und überdies lahm.

»Könnte ich noch mit irgend etwas dienen, mein Herr?«

»Nein, danke.«

»Zeitungen? ... Illustrierte Blätter?«

»Nein, danke.«

»Soll ich Gas anstecken?«

»Nein.«

»Pardon, Mille Pardon! Es ist so lange her, seit mir die Ehre gehabt haben, Monsieur Warberg zu sehen ... tje, tje!«

»Ja ... ich bin in Sibirien gewesen.«

»Jo, so ... sehr lange Reise! ... Tje, tje! ... Herr Warberg machen Späß' mit einem armen Konditor?«

»Keineswegs, Herr Federschlag, wollen Sie Lauritz bitten, mir einen Absinth zu bringen.«

»Aber gern!« Und Herr Federschlag drehte sich auf seinem gesunden Bein wie auf einem Zapfen herum und hinkte hinter dem Tisch in das anstoßende Lokal.

Drinnen war das Gas angezündet, und sein gichtbrüchiger Schatten hüpfte über den Fußboden in der Lichtung zwischen den Portieren, wurde lang und dünn, wälzte sich über den weißen Marmortisch, der mitten im Zimmer stand – und schien durch die Spiegelglasscheibe an der Front der Querstraße zu verschwinden. Gunnar saß auf einem Ecksofa in dem letzten Zimmer des Cafés und lehnte den Kopf gegen das hohe, die Lokale trennende Paneel. Er saß und brütete über einer Novelle. Er »empfing« am besten, wenn er von Leben und Emsigkeit und Menschen umgeben war. Es war, als ob dadurch die Gedanken in seinem Gehirn geradezu hervorgestoßen würden. – Das heißt, es mußten Leben und Emsigkeit und Menschen sein, von denen er keine Notiz zu nehmen brauchte. Denn saß er daheim und arbeitete, so konnte der leiseste Laut im Hause, der bloße Umstand, daß jemand draußen auf der Straße vorbeiging, ihn vor Nervosität zusammenzucken machen: »Jetzt kommen sie herein und stören dich!« Und der Schweiß trat ihm vor Angst auf die Stirn.

So war er nun einmal beschaffen. Es hatte keinen Zweck, sich dagegen auflehnen zu wollen. Er hatte sich bloß vor »den Gesetzen seines Wesens« zu beugen, wenn er etwas ausrichten wollte.

»Wünschen Herr Warberg, daß ich das Gas anstecke?«

»Nein, danke, Lauritz, aber wollen Sie »mixen«?

Der Junge stellte sich in das Licht zwischen den Portieren und mixte. Es klang wie das Rieseln einer stillen Quelle, als das Wasser aus der Karaffe in das Absinthglas lief. Aber er hielt beides auch möglichst weit voneinander entfernt, um seine Gewandtheit zu akzentuieren.

»Bitte schön!« sagte er und stellte das Glas mit einer eleganten Schwenkung des Oberkörpers auf den Tisch.

»Danke, mein Sohn.«

Lauritz blieb stehen und zupfte verlegen an seiner Uhrkette.

Gunnar nahm einen Schluck Absinth.

»Hast du was auf dem Herzen, Kleiner?« fragte er dann.

»Ich soll zum ersten November weg«, flüsterte der Knabe eilig und schielte zu dem Tisch hinüber, an dem der Wirt balancierte.

»Was sollen Sie?«

»Und warum?«

»Die alten Herren sagen, ich machte zu viel Lärm.«

»Was sind das für »alte Herren«?«

»Der »Elefant« und die anderen.«

»Dann können die alten Kerle ja weggehen ... in den Zoologischen Garten.«

»Hier sind auch ... so viele ... die gerne möchten, daß ich bleibe!!«

»Ja, natürlich müssen Sie bleiben!«

»Ja aber ... ich glaube nicht, daß der Herr Federschlag ... er hat mir schon gekündigt ...«

»Der ... der Tirolerferdinand!« murmelte Gunnar.

Lauritz lächelte unter Tränen.

»Hä ... ja ...«

»Ich werde schon mit ihm reden, mein Sohn.«

»Ja, wenn Herr Warberg wollte ... und die anderen vom Blatt drüben ...«

»Wir werden Ihnen schon helfen, Lauritz. Wir stecken den Elefanten in den Zoologischen Garten und Napoleon und Caprivi ins Panoptikum.«

»Da ist er!« flüsterte der Knabe erschreckt. Er hatte in das vorderste Zimmer hinausgelugt, wo die Glastüren auf und zu klirrten.

»Wer?«

»Der Elefant!«

»Ein Kaffee! Vormittagstasse!« ertönte die Stimme des Wirtes draußen am Büfett.

»Ein Kaffee! Vormittagstasse!« rief der Oberkellner durch die zur Küche führenden Klappe in der Wand.

»Ein Kaffee!« echote eine Frauenstimme von draußen her.

Man hörte schwere schleppende Schritte und einen brummenden Gruß. Und der »Elefant« schritt in den Raum hinein, in dem Gunnar bis jetzt allein gesessen hatte. Hier hielten sich besonders die Stammgäste auf.

Lauritz war dem Ankommenden beim Ablegen des Überrocks behilflich und hing diesen und den Hut, einen ungeheuren Hut, auf einen Riegel.

»Hier ist es dunkel«, brummte der »Elefant« und setzte sich auf das Sofa an der Wand, Gunnar gegenüber.

»Ich zünde gleich an.«

Lauritz strich ein Schwefelholz ab und steckte die Flamme über dem Kopf des Gastes an.

»Sind die Abendzeitungen schon da?«

»Nein.«

»Geben Sie mir die illustrierten Zeitungen und den ›Kopenhagener‹.«

»Sehr gern.«

Warberg hatte zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen gesessen und die beiden drüben unter der weißen Gaskuppel betrachtet: der Elefant groß, dick und hochfahrend, mit gewaltigen Gliedern, Händen und Füßen. Kahlköpfig und mit kleinen mürrischen Augen ohne Brauen. Ein breiter, hängender Mund, und eine Nase, lang und beweglich wie ein Schnabel. – Und Lauritz: fein, schlank, rotwangig und jugendlich mit blondem, lockigem Haar, einen Schelm in jedem Auge und ein ewiges halbunterdrücktes Lächeln in den Mundwinkeln.

Diese beiden Gegensätze mußten zusammenprallen, wie das gelbe neidische herrschsüchtige Alter stets mit der rotwangigen, lachlustigen, spottsüchtigen Jugend zusammenprallen muß!

Mein Gott, daß das Resultat nicht von vornherein gegeben war! Daß Lauritz diesen alten Tapir nicht vergnügt beim Schnabel nehmen, aus dem Café ziehen und die Tür ordentlich hinter ihm zuschließen konnte.

»Ich hoffe, der Herr werden zur Zufriedenheit bedient?«

Der Tirolerferdinand war dazugekommen und stampfte und wackelte von der Spitze seines lebenstüchtigen Beines aus und machte galante Schwimmbewegungen vor dem Elefanten, der ihn zu goutieren schien.

Gunnar nippte an seinem Absinth, schloß die Augen und überließ sich seiner Novelle.

Es war eine Art Warnung, die er formen wollte. Ein Rat an Väter und Mütter: Er fand es unrichtig, ja geradezu gefährlich, daß man oft die Knaben der Fürsorge der Dienstmädchen überließ: sie kleideten die Kinder aus und an, wuschen und badeten sie und brachten sie zu Bett. Er wollte in der Novelle berichten, was er selbst erlebt hatte: Ein Kindermädchen, ein gottesfürchtiger, missionsfreundlicher und treuer alter Dienstbote, saß des Abends an seinem Bett und lehrte ihn Psalmen singen und das Vaterunser beten. Seine Hände lagen gefaltet auf der Decke, und er und das Mädchen sangen und beteten laut und deutlich. Aber ihre Hände waren unter der Decke, wo sie seinen Körper liebkosten, bis Gunnar zitternd und fieberheiß die Arme um ihren Hals schlang und sie in die Wange biß. Da erhob sie sich, küßte ihn heftig und sagte: »Na, na, na, Gunnarchen, leg' dich jetzt hübsch hin und schlaf' in Jesu gesegnetem Namen.«

Das wollte er erzählen. Ein ähnliches Thema hatte er in der Novelle behandelt, wegen deren, wie es hieß, Anklage gegen ihn erhoben werden sollte. Aber er wollte nicht nachgeben, und wenn er hundertmal »angeklagt« würde! Du lieber Gott, er hatte ja doch kein Verbrechen begangen! Er warnte doch nur und berichtete über das, was andere an ihm verbrochen hatten! – und an so vielen! Der und der und der hatten ihm ähnliche Geschichten aus ihrer Kindheit anvertraut! Und alle litten sie noch heutigen Tages in größerem oder geringerem Maße unter den Folgen der lüsternen Liebkosungen liederlicher Dienstmädchen, Lehrerinnen und ältlicher Tanten! ... Er wollte diesen schicksalsschwangeren Irrtum aufdecken, dieses wahnsinnige »Dogma«, an das die Menschen glaubten wie an so vieles andere: daß die Frauen weniger sinnlich seien als die Männer. (Er leerte sein Absinthglas.) Weiß Gott, das waren sie nicht! Sie fürchteten nur die »Folgen«! Und kraft dieser fixen Idee von der »Reinheit« des Weibes vertrauen naive Eltern ihre zehn- bis zwölfjährigen Knaben den Klauen des ersten besten dieser Vampire an! ... herrlich ... sublim genial! Beinahe Sünde, dagegen zu Feld zu ziehen! ... »Lauritz, mehr Absinth!«

Er richtete sich mit einem Ruck auf, schüttelte den Kopf und öffnete die Augen:

»Wieder ein mißglückter Versuch!« murmelte er.

»Andere behaupten, der Absinth wirke beruhigend, weich, lieblich wie der Gesang der Vögel und der Duft der Anemonen! ... Aber ich werde immer rein wahnsinnig davon! ... Herrgott, wozu will ich nun auch solche Sachen schreiben! ... Idyllen über Mondschein und Bächlein und platonische Liebe ... das geht auf dem Markt! Mundus vult decipi! Ergo wollen sie Milchsuppe und Eierkuchen haben?«

Aber dann schlug er mit der flachen Hand auf das Sofa, daß die Sprungfedern klangen und Staubwolken aus dem Bezug in die Höhe stiegen:

»Ich gebe, Dunnerkiel! nicht nach«, sagte er dann. »Denn ich habe recht! ... Lauritz, eine ... eine Tasse Kaffee!«

Die verschiedenen Abteilungen des Cafés hatten sich nun mit Publikum angefüllt. Meist junge Leute: Studenten, Maler und »Schriftstellerjournalisten« mit ihren Damen. Die Glastüren rasselten unaufhörlich auf und zu; es war gegen sieben Uhr. Das Gas war überall angezündet worden. Und das Klirren des Porzellans, das Stimmengesurr, das Gelächter, das Scharren von Füßen und Stuhlbeinen, der Galopp der Kellner und das Rufen nach Essen und Trinken, das Läuten der Tischglocken und das Rascheln der Zeitungsblätter, wenn sie umgewendet wurden – all dies ergötzte Gunnars Augen und Ohren, gerade weil er so still und unbeachtet in seiner Ecke saß. Es kam ihm vor, als sei das Ganze seinetwegen in Szene gesetzt.

Er sah sich um.

Der Elefant saß noch auf dem Sofa gegenüber. Sein kahler Kopf war auf seine Brust herabgesunken. Die kleinen rotgeäderten Augenlider waren geschlossen. Er atmete mit einem pfeifenden Laut durch den hängenden Schnabel, der fast sein Kinn berührte. – Daß ein solcher Moloch das Zukunftsglück meines Freundes Lauritz verschlingen soll, dachte Warberg! – Aber daraus soll auch nichts werden!

Er wandte sich von seinem vis-à-vis ab; fühlte aber zugleich eine aufreizende Lust, hinüberzugehen und ihn irgendwo ins Gesicht zu knipsen.

Unter der Gaskrone an dem Tisch in der Mitte des Lokals saß ein kleiner Mann mit einem langen, bleichen »frischgewaschenen« Gesicht und einer krummen Nase. Seine Stirne war hoch und das dünne rotbraune Haar aus dem Nacken und den Schläfen zierlich herübergestrichen. Keine Spur von Hinterkopf. Leuchtende weiße Wäsche und eine in zwei Zipfel endende crèmefarbene Krawatte mit dunkelroten Punkten und einer Diamantnadel. Kleine Füße. Krumme Beine in strammen grauen Hosen. Kurzschößige schwarze Jacke, dicke goldene Kette auf weißer Weste. Mächtiger Siegelring, auf dem Mittelfinger. Und ein fehlender Eckzahn.

Es war Moritz P. Benjamin, Reisender für ein Hamburger Haus. Warberg hatte ihn hier oben bei dem »Schweizer« ein paarmal gesehen. Und Carl, der Oberkellner, hatte ihm flüsternd den Namen des Phänomens anvertraut.

Er saß im Augenblick mit einer Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch und rührte steif und stramm den Zucker um.

»Lauritz!« rief Gunnar. »Ach geben Sie mir eine Tasse Kaffee!«

»Ein Kaffee!« brüllte der Knabe.

»Ein Kaffee! ... Kaffee! ... Kaffee!« antworteten die Echos.

Moritz P. Benjamin winkte majestätisch mit seiner weißen Hand mit dem Siegelring. Lauritz hüpfte auf ihn zu, indem er gleichzeitig Gunnar seinen schelmischen Blick sandte. Lauritz war »literarisch« und bediente nicht gern profane Gäste.

»Dürfte ich Sie um Sahne ersuchen?« bat Herr Benjamin höflich.

Lauritz stürzte nach Sahne in einen der anderen Räume.

Warberg nahm eine Zigarre aus der Tasche, schnitt sich die Spitze ab und steckte sie an.

Nun kam der Bursche, in der einen Hand den Kaffee, in der anderen die große gemeinsame Sahnenkanne (eine Spezialität des »Schweizers«) balancierend. Er bediente zuerst Gunnar und stellte dann die Sahnenkanne zu Herrn Moritz hinüber.

»Danke ... Und darf ich Sie dann um das ›Berliner Tageblatt‹ ersuchen?« Lauritz verbeugte sich, blinkte Warberg wieder zu und verschwand.

Herr Moritz rührte ernsthaft wie ein Pascha in seiner Tasse und wartete. Dann nahm er einen ungeheuren Schluck Kaffee und schielte gleichzeitig über die Tasse zu Gunnar hin, der in der Sofaecke lehnte und an seiner Zigarre dampfte. Es kam kein Lauritz.

Gunnar lächelte hinter der Zigarre.

»Bekomme ich nun nicht bald das ›Berliner Tageblatt‹!« ertönte es plötzlich aus dem Munde des Hamburgers, und sein bleiches Gesicht wurde rot.

Aus dem Büfettzimmer erklang ein Laut, der einem unterdrückten Kichern glich. Aber es kam immer noch kein Lauritz. Ein paar Journalisten vom »Kopenhagener« traten ein, grüßten Warberg höflich-reserviert und nahmen an einem Tisch am Fenster Platz.

Der Elefant erwachte, gähnte, rieb sich die Augen und stieß prustende Laute aus.

Und plötzlich fuhr Herr Moritz P. Benjamin mit einem Ruck von seinem Stuhl auf. Er war nun päonienrot und seine Hände zitterten. Er goß den Rest des Kaffees auf einmal hinunter und sagte rasend, zum Gott seiner Väter oder zur ganzen Menschheit gewandt:

»Na, es ist also in einem so erbärmlichen Café unmöglich, das ›Berliner Tageblatt‹ zu kriegen.«

Und der Teufel entführte ihn, weg, fort in die freie Natur ... Oder in ein anderes Wirtshaus.

Gunnar lachte und schüttelte den Kopf.

»Ach, weshalb vergeuden die Menschen ihr Pulver an Fliegen und Mücken!«

Darauf nahm er sein Taschenbuch hervor und begann die Szenerie zu seiner Novelle niederzuschreiben:

Er dachte sich in seine Kindheit zurück, draußen auf dem holländischen Hofe mit den weißgetünchten Scheunen und den schwarzen alten, moosbewachsenen Strohdächern. Er sah das Kinderzimmer vor sich, wie er es damals gesehen hatte: groß, geräumig und hoch. Aus dem Schlafzimmer der Eltern führte eine Tür hinein. Links führte eine andere Tür zur »Rumpelkammer«, mit dem Fliederbusch vor dem Fenster (wie die Spatzen doch morgens zwitschern konnten!) und mit dem großen roten Wäscheschrank, in dem Tischtücher und Servietten und Bettlaken weiß und schmuck in hohen Stößen lagen. Und rechts führte dann eine Tür in das grüne Fremdenzimmer, wo Großmutter gestorben war und wo es spukte. Und wo ein richtiger Waschtisch mit Marmorplatte stand ... Und ein Kanonenkachelofen mit Heimdal, der auf dem Regenbogen stand und das Gjallerhorn blies! ... Drinnen im Kinderzimmer war kein Kachelofen und kein Waschtisch, da stand nur ein Nachttisch mit weißen Vorhängen. Und lange weiße Schirtinggardinen mit roten Borten hingen vor den Fenstern ... Und er sah deutlich die Betten: »eichengestrichene« Fichtenholzbetten mit Leisten an den Seiten und großen gedrechselten Knöpfen an Kopf- und Fußenden, die die Kinder abnehmen und mit denen sie Kreisel spielen konnten ... Er lag im Bett in der Ecke zwischen dem Fenster und der Tür des Fremdenzimmers. Seine beiden jüngeren Brüder schliefen in den Betten, die nebeneinander an der Wand der Rumpelkammer standen ... Auf dem Nachttisch brannte die kleine blaue Lampe mit einer Flamme, nicht größer als ein reichlich geratener Stern. Das Geplauder ging von Bett zu Bett; und man bombardierte einander mit Kopfkissen, Decken, Hosen und Schuhen ... Dann wurde die Tür zur »kleinen Kinderstube« geöffnet, die auf der anderen Seite des Schlafzimmers der Eltern lag, und die Knaben krochen unter die Decke: »Da ist Sophie!« ... Und das alte treue fromme Mädchen kam auf ihren ausgetretenen Latschen groß und breit in das halbdunkle Zimmer: »Na, seid ihr zu Bett!« ... Und sie pusselte eine Weile im Zimmer herum, legte die Sachen auf den Stuhl, den jeder einzelne vor seinem Bett stehen hatte, ordnete alles: Jacke, Weste und Hosen und ganz obenauf die Unterbeinkleider und Strümpfe. Die beiden Kleinen ließ sie das Abendgebet herleiern, wie sie es eben konnten. Dann legte sie sie in die Betten zurecht und »kuschelte« sie ein: »Schlaft jetzt.« Und dann setzte sie sich zu Gunnar: »Falte nun deine Hände, mein Junge«, sagte sie. »Du bist ja groß!« ... Und dann sang sie und betete das Vaterunser mit ihm, innig und herzenswarm, daß sie oft dabei weinte ...

»Ach, ach, ach, wie mancherlei geschieht doch nicht auf dem Erdenrund, wenn die Sonne zur Ruhe gegangen ist!«

»Verzeihen Sie, aber ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen, Herr Warberg!«

Gunnar sah von seinem Buche auf –

»Guten Abend ... bitte!«

»Störe ich?«

»Durchaus nicht!«

Herr Erik Krogh setzte sich auf das Sofa neben Gunnar. Er war Chefredakteur des »Kopenhagener«, und ein außerordentlich geschickter Mann war er, sehr höflich, etwas nervös und sehr zerstreut.

Warberg hatte ihn gern, wie er sie alle gern hatte, die »bösen Buben«, die mit dem Blatt in Beziehung standen. Er liebte diese Jugend, die ihre Jacke, ihren guten Namen und Ruf, ihre »Karriere« zu Markte trug, indem sie dem alten Gesellschaftsbalken Nasenstüber versetzte – ohne Rücksicht auf Rang, Stand und »Verbindungen«! Die Nasenstüber vielleicht nur aus Luft an den Nasenstübern gab! Aber er beteiligte sich nicht an ihrem Privatleben, kam selten mit ihnen zusammen, denn er war ja viel älter als die meisten von ihnen; er ging seine eigenen Wege. Saß in seinem stillen Winkel und beobachtete. Wurde wohl von den anderen für einen Sonderling, vielleicht für einen Poseur gehalten.

»Jetzt haben wir die offizielle Mitteilung bekommen, daß wegen Ihrer Novelle Anklage gegen Sie erhoben werden wird«, begann Herr Krogh mit seiner weichen gedämpften Redakteurstimme.

»So, ja, das hat man ja erwartet.«

»Rechtsanwalt Gother vom Oberlandesgericht ist zu Ihrem Verteidiger bestellt.«

»Kann man sich so einen Kerl nicht selbst aussuchen?«

»Das können Sie natürlich, ja; aber es würde nur böses Blut machen. Und Sie sollen doch verurteilt werden.«

»Das soll ich allerdings ... was ist dieser Gother für ein Bursche? Kennen Sie ihn?«

»Kenne ihn nicht, nein. Aber er soll ein sehr tüchtiger Mann sein, sie müssen zu ihm hinaufgehen und ihn begrüßen.«

»Glauben sie, daß es einen Zweck hat?«

»Nein; aber es ist nun mal so die Mode. Und schaden kann es ja nichts.«

»Gut, ich werde es mir überlegen ... Ja ... sagen sie, gibt es dabei Verhöre und dergleichen?«

»Ja, sie bekommen eine Zustellung, sich auf dem Rathause einzufinden, und da sollen Sie dann Ihre Sünden bekennen.«

»Gibt es dabei auch Folterbank, Daumschrauben und glühende Kneifzangen?«

»Nee, nee–ee, hä, so toll ist es doch nicht! ... Na aber, ich bin sehr beschäftigt. Ich muß zur Redaktion herüber ... Kriegen wir bald wieder etwas Neues von Ihnen? ... Denn sie haben doch nicht etwa Angst gekriegt!«

»O nein.«

»Weshalb kommen Sie nie persönlich herüber und sehen nach uns?«

»Sie wissen ja, ich bin ein Höhlenbewohner, lieber Herr Krogh, ein Eremitenkrebs ...«

»Krebs nicht! Wahrlich kein Krebs!« lachte der Redakteur, »Sie brechen ja Bahnen! Gehen vorwärts mit der Fahne in der Hand! ... Na aber, wenn mir nur etwas für das Blatt bekommen, dann ... Ja, Sie versehen mich natürlich? ... Sie sind jederzeit willkommen, aber ich meine ...«

»Jawohl, jawohl«, sagte Gunnar und drückte dem Redakteur lächelnd die Hand.

»Hören Sie, es ist wahr«, sagte dieser dann, »Sie wissen, wenn es bloß eine Geldstrafe setzt, so wird sie von der Zeitung bezahlt ...«

»Das wird wohl auch nötig sein«, lachte Warberg.

»Natürlich, ja! Das tun wir immer. Aber gibt es Gefängnis, dann müssen Sie selbst ...«

»Mit dem größten Vergnügen!«

Erik Krogh legte seinen Arm um Gunnars Schulter und blickte ihm lächelnd ins Gesicht.

»Sie sind ein Stoiker, Herr Warberg«, sagte er, »ein Mann ohne Nerven.«

»Naa–a«, meinte Gunnar, »manchmal mehr als manchmal!«

Im Sofa gegenüber hatte der Elefant mit quellenden Augen und weit aufgesperrten Ohren gesessen, um etwas von dem Gespräch des Paares aufzuschnappen. Er kannte sie beide von Ansehen und las begierig ihre Zeitungen hier im Café. Aber daheim in seinen Stuben, oder im Athenäum – er mußte im Athenäum sein – fluchte, blitzte und donnerte er gegen all solches »Gassenjungengeschreibsel«. Und es hätte seine und seiner Gesinnungselefanten volle Billigung gefunden, wenn »der König« eines schönen Tages die Räume des »Kopenhagener« hätte von seinen Leibjägern umzingeln, Einrichtung, Papier, Abonnenten, Journal und Federhalter öffentlich verbrennen und Redakteur und Mitarbeiter in Nörrefaelleden aufs Rad flechten lassen, wo »dieser Struensee« einmal für einige ähnliche »schoschalistische« Narreteien hingerichtet worden war!

Aber, wie gesagt, hier im Café verschlang er das Blatt und war geradezu persönlich beleidigt, wenn er warten mußte, bis es ein anderer aus der Hand legte.

Gunnar fühlte sich versucht, diesem alten Kreuzritter eine Kußhand zuzuwerfen. Aber er begnügte sich doch damit, sich lächelnd in der Sofaecke zurechtzurücken.

Ach ja, trotz alledem ist es zuweilen doch geradezu ein »Ulk«, das Leben zu leben!

 


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