Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Als Gunnar am nächsten Tage aus der Schule nach Hause kam, lag auf dem Korridor des Flures ein frankierter Brief.

Er öffnete das Kuvert. Es war eine Photographie darin, das Bild eines nackten, quabbligen, widerwärtigen »Wunderkindes«, und in dem beigefügten Schreiben stand:

»Schweizer elf Uhr.

Lieber Gunnar!

Alles ist geordnet! Mikkelsen war so lieb, mir das Geld zu leihen. Bin auf dem Rathause gewesen, die Polizei war ungeheuer liebenswürdig. –

Gehe nur ja ins Axelhaus Nr. 2 und sieh Dir dieses fette Mädchen an – großartig!

Dein ergebener Vetter
Mettchen.«

»Das war eine lange und ermüdende Einleitung, ehe wir zur Sache kommen«, sagst du wohl? Ja, die »Sache«, darin hast du recht, war ja die, daß ich mein Schreiben eigentlich damit hätte beginnen müssen, dir »in kurzen aber wohlgesetzten Worten« anläßlich dieses feierlichen Tages meinen Glückwunsch darzubringen. Ja, mein teurer Junge, du weißt, was meine Liebe dir wünscht, alles, alles, was dein Leben gut und glücklich und dich selbst fröhlich und zufrieden machen kann. – Nun magst du wählen – nein, nimm alles und werde glücklich. Das mögen die Götter geben! Es war ein Herzensseufzer, der mir da entschlüpfte! Besinnst du dich auf den Morgen des Tages, als du um die Mittagsstunde geboren wurdest, daß ›wir‹ hineingingen, um der Großmutter zu gratulieren (sie hat ja Mittwoch auch Geburtstag!) daß ›wir‹ zu ihr hineingingen, ehe sie noch aufgestanden war?

Weißt du auch noch, daß wir beiden ›Unzertrennlichen‹ in den Keller gingen und ein Drittel Butter rührten? Ich – ganz scheu durch den Zustand– stand seitwärts und schlug mich mit der harten Butter herum, bis ich den Sieg über sie davontrug. – Und endlich, weißt du noch, wie ›Mutter Jesse‹ in Entsetzen geriet, als ich ihr, gerade während sie die Schokolade zum Munde emporhob, sagte, ›nun müssen Sie sehen, daß Sie schnell fertig werden, denn Jens ist zur ›weisen Frau‹ gefahren‹? Du hüpftest in die Höhe vor Freude darüber, ungesehen Zeuge der Hast zu sein, mit der sie vom Hofe kam.

Ja, das war damals, als ich selbst jung war, nun lebe ich in den Erinnerungen und erfreue mich damit, jede Einzelheit aus Eurer Kindheit mir ins Gedächtnis zurückzurufen – den Göttern sei Dank, ich weiß, Ihr fühlt es, daß sie für Euch alle glücklich gewesen ist!

Noch einmal, mein lieber prächtiger Junge, empfange einen herzlichen Glückwunsch und einen warmen Gruß

von Deiner treuen
Mutter.«

Gunnar lag auf der Chaiselongue und las diesen Brief.

Als er ihn zu Ende gelesen hatte, legte er ihn fort, wandte das Gesicht dem Klavier zu, schloß die Augen und rollte sich in seiner Lieblingsstellung zusammen, die Knie unter das Kinn hochgezogen.

Wie er diese alte weißhaarige, ewigjunge Mutter liebte! Seit seiner ersten Jugend hatte er stets Trost und Ruhe bei ihr gesucht und gefunden – und sie bei ihm. Sie verstanden einander. Sie konnten mitsammen lachen und weinen. Sie waren beide so echt dänisch in ihrer Sentimentalität und ihrem Humor. Und gelang es ihm jemals, »etwas Großes« zu werden, dann hatte er es ihr zu verdanken, ihrer zarten Liebe und ihren milden Worten: »Ja, ja, mein Junge, arbeite du nur getrost auf das Ziel zu, das du dir gesteckt hast. Du weißt ja selbst am besten, was du vermagst. Ich glaube an dich! Und wenn sich auch alle anderen von dir wenden, dann sei du sicher, daß meine Liebe und mein geringer Beistand dich begleiten werden bis an mein letztes seliges Ende.«

Diese erquickenden Worte waren es, die ihn immer wieder getröstet und gestärkt hatten, wenn Vater und Brüder ihm mit ihrem Hohn und ihrer »Vernunft« zu Leibe gerückt waren: »Aus dir wird ganz bestimmt nie etwas, Gunnar! Wärest du lieber beim Bücherverkaufen geblieben, statt beim Bücherschreiben! Das hätte sich besser gelohnt! Und was schreibst du für Kram! Schaff' doch etwas, das geht!« – »Den Dichter« nannten sie ihn mit boshaftem Grinsen. Und den »verrückten Gunnar«.

Blutverwandtschaft ist seit dem Morgen der Zeiten der erbittertste Feind gewesen.

Was nützt es, seinem Bruder eine helfende Hand zu reichen, wenn er dafür seine Seele verlieren und verschreiben muß?

Und Gunnars Gedanken schweiften zurück zu den Kinderjahren daheim auf dem weidenumsäumten Lolland. – Und er nahm das Bild seiner Mutter hervor, das in seiner Erinnerung am klarsten und am süßesten leuchtete: Sie stand an dem großen Tisch unter der Hängelampe mitten im Wohnzimmer und zeichnete mit Kreide Muster zu Höschen, Blusen und Jacken für ihn und die Brüder. Die Muster hatte sie vorher aus Zeitungspapier zurechtgeschnitten (aus der Beilage der alten »Berlingschen«. Und sie heftete sie mit Stecknadeln auf das Zeug und maß und probierte und wandte und drehte die Muster, damit beim Zuschneiden möglichst wenig verloren ginge. Sie stand mit der großen Schere (der Haarschere, die »ziepte«) in der Hand und runzelte die Augenbrauen, um den besten Schlachtplan entwerfen zu können. Und hatte sie dann ausgetüftelt, wie sie die Muster besonders schlau anbringen konnte, dann leuchteten ihre großen graublauen Augen vor Siegesfreude; und sie begann zu pfeifen, während sie darauflos schnitt, daß man die Schere sich mit langen scharfen Bissen durch das Zeug beißen hörte, und sie schnitt im Takt nach der Melodie, die sie pfiff. Oder sie fing plötzlich zu singen an, und dann lauschte Gunnar gespannt, denn in ihren Liedern kamen immer die lustigen Worte vor:

Von Alvilda Jensen,
Der geborenen Svendsen,
Ein Geschichtchen ich berichten kann:
So weich, war sie von Herzen,
Daß nur mit tiefen Schmerzen
Sie's Geflügelrupfen sah mit an!
Doch sechzehn Wochen später
Riß sie mit Gezeter
Wild die Haare aus dem eig'nen Mann!

Dies sang sie. Oder:

Mikkel Bukse, er kam übers Feld gezogen,
Da verlor er sein Fiddeliddelongon samt Bogen. Da weint' er, da weint' er
Um die
Fiddelongon,
Fiddelongon,
Fiddeliddeliddelongon,
Samt Bogen!

Mikkel Bukse, er kam übers Feld gezogen,
Da fand er wieder die Fiddelongon samt Bogen.
Da quietscht er, da quietscht er.
Auf der
Fiddelongon,
Fiddelongon,
Fiddeliddelidde
liddeliddelidde
liddelangon –
samt Bogen.

Und abends, in den Dämmerstunden, ehe das Hausmädchen meldete, daß der Tisch gedeckt sei, saß dann dieselbe kleine Frau auf dem Sofa unter Exners »Erntefest«, garniert von allen Rangen und erzählte Märchen, selbstkomponierte, voller Humor und Wehmut. Meist natürlich Wehmut. Denn die Weiber sind ja nun einmal so eingerichtet, daß sie es für »tiefer« halten, zu weinen als zu lachen ...

Aber dann kamen daheim auf dem Hofe Jahre, wo Gemütlichkeit, Lieder und Märchen in Vergessenheit gerieten, und wo die Schwermut der Mutter an Geisteskrankheit grenzte, wo sie sich oben in einer Bodenkammer (Gunnars Zimmer in den Ferien) einschließen und tagelang starr und unbeweglich in einer Ecke sitzen und vor sich hinstieren oder sich aufs Bett werfen und beten und weinen und schluchzen konnte ...

In diesen Jahren hatte Warberg ein unüberwindlicher Groll gegen seinen Vater ergriffen – ein Abscheu vor aller Brutalität, allem Faustrecht, aller eingebildeten Altmännergröße und Altmännergewalt. Er hatte seinen Vater nie geliebt. Er hatte ihn anfangs gefürchtet, gescheut, wie man denjenigen scheut und fürchtet, mit dem man keinen einzigen Gedanken, kein einziges Gefühl gemeinsam hat. Und er hatte ihn zuletzt gehaßt, verlacht – und Mitleid mit ihm empfunden.

Er strich sich mit der Hand über die Stirn und schüttelte den Kopf.

Heute nicht an ihn denken! Nun war er ja auch dem Bereich dieses Sultans entrückt! Und er hatte überdies noch eine liebevolle Gratulatianskarte von ihm empfangen:

»Gratuliere, lieber Gonnar

zu dem Geburtstage und sende Dir den Wunsch, daß das kommende Jahr Dir zum Segen gereichen möge!

Dein Vater.«

Und ob das nicht eine genügende Entschuldigung für den Mann war, daß er sein Lebenlang Gunnar mit einem o geschrieben hatte?

(Die tadellose Form der Gratulation in ethischer Beziehung kam nicht weiter in Betracht. Denn es gibt ja Briefsteller zu kaufen – das gemeinsame Gut der sogenannten Gebildeten – ein Volksbuch für die Tausende enger Gehirne!)

» ... Daß das kommende Jahr Dir zum Segen gereichen möge!« – Ha! »Segen«! Als ob der Mann wußte, was Segen war! Wenigstens nicht, was für seine Kinder von Segen war. Das hatte er nie gewußt. Geld. Geld. Geld. – Das waren seine drei Glaubensartikel.

Gunnar wandte sich wieder dem Zimmer zu, streckte die Hand aus, nahm den Brief der Mutter und las:

» ... Ja, mein teurer Junge, Du weißt, was meine Liebe Dir wünscht, alles, alles, was Dein Leben gut und glücklich und Dich selbst fröhlich und zufrieden machen kann – nun magst Du wählen! Nein, nimm alles und werde glücklich! ...

Noch einmal, mein lieber prächtiger Junge, empfange einen herzlichen Glückwunsch und einen warmen Gruß von Deiner treuen

Mutter.«

Warberg ließ die Hand, die den Brief hielt, sinken. Er sah vor sich das feine Jungmädelgesicht seiner Mutter mit dem zarten, leicht erröteten Teint unter dem weißen Haar und dem kleinen schwarzen, spitzenbesetzten Burgfrauenhäubchen.

Und er flüsterte leise vor sich hin:

»Mütterchen – habe Dank für alles, was du mir warest und bist!

Habe Dank für dein Lächeln und deine Tränen!

Für deine klaren Augen und deine milden Hände!

Wenn ich einmal ›mein Ziel erreicht habe‹, wie du sagst, dann soll es die ganze Welt wissen, daß ich ohne dich nichts gewesen wäre!

Denn was Gutes und Großes und Lebenstüchtiges in mir ist, das habe ich von dir und durch dich!

Du hast meine Arbeiten und meine Träume geschaffen!

Du hast mich gelehrt, die große Liebe und den großen Haß zu empfinden, ohne die keines Menschen Leben als wahr gelten kann!

Und in all den müden Stunden hast du meinen Kopf an deine Brust gelegt und mir die Worte zugeflüstert, die mich über alle Abgründe und Klippen getragen haben: Ich glaube an dich!

Und niemals hast du deine eigene Jugend vergessen!

Deshalb, Frauchen, wenn unsere Feinde, die bösen Menschen, längst vergessen und verborgen unter der feuchten Erde ruhen, dann sollst du mit Ruhm und Ehren genannt werden als Gunnar Warbergs ewigjunge Mutter!«

 


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