Gustav Wied
Aus jungen Tagen
Gustav Wied

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Warberg hatte eine Vorladung vom Kriminal- und Polizeigericht erhalten, sich gefälligst am nächsten Montag zwischen zwölf und zwei Uhr oben einzufinden.

Und nun stand er an den anberaumten Montag um halb eins auf dem Neumarkt und betrachtete das Rathaus, als ob er es niemals vorher gesehen hätte.

Er sah, daß es alt und grau und baufällig war. Und er wünschte aus rein ästhetischen Gründen – daß man die Verfolgung seiner Sache bis zur Vollendung des neuen Rathauses aufgeschoben hätte.

Ein Schutzmann in Helm und weißen Handschuhen stand drüben im Torweg, zwischen den Kolonnaden und der alten Schweinefleisch-Waage.

Gunnar ging zu ihm hinüber.

»Würden Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, wo hier das Kriminal- und Polizeigericht ist?«

Der Beamte führte die behandschuhte Rechte an den Helmrand:

»Der Herr können hier durch den Torweg und dann über den Hof und dann die Treppe da hinauf gehen. Im ersten Stock links.«

»Ich dachte, alle richterliche Autorität läge auf der rechten Seite«, sagte Warberg bitter-geistreich.

»Nee, es ist links ... die Treppe hinauf und dann links ...«

Und Warberg ging über den Hof und die Treppe hinauf.

Er wunderte sich im stillen, daß er nicht die geringste Spur von Nervosität oder Beklemmung empfand, die ihn sonst stets überfielen, wenn ihm etwas Ungewöhnliches bevorstand. Er war bloß neugierig und interessiert.

Oben im ersten Stock wandte er sich links und stand dann vor einer hohen Flügeltür, auf der in schwarzen Buchstaben zu lesen stand: Kriminal- und Polizeigericht.

Er klopfte an und trat ein.

Es war ein großer dreifenstriger Saal. Vor den Fenstern standen Pulte, und an den Pulten saßen alte und junge Männer und lasen Zeitungen. Einer aß sein mitgebrachtes Frühstück.

Rechts, hart an der Tür stand ein langer von Stühlen und Bänken umgebener Holztisch. An dem Tisch saßen zwei uniformierte Beamte und protokollierten, was zwei armselig gekleidete und verhungerte Männer ihnen flüsternd anvertrauten.

Über einem Wandschirm am Ende des Tisches ragte ein kauendes Gesicht hervor, hin und wieder kam auch ein Arm zum Vorschein und steckte ein Stück grobes Schwarzbrot mit Käse in den zu dem Gesicht gehörenden Mund. Unter dem letzten Fenster stand eine Bank, auf der an vier, fünf Frauen in damenhafter Kleidung saßen. Einige von ihnen gestikulierten heftig und schwatzten ununterbrochen, aber mit gedämpften Stimmen. Andere saßen starr und unbeweglich mit bleichen, wie aus Wachs geformten Gesichtern. Ganz am Ende der Bank, in der Nähe einer geöffneten Flügeltür, die auf einen breiten halbdunklen Flur hinausführte, in dem ein Schutzmann wie ein Wachtposten auf und ab spazierte, saß eine kleine schwarzgekleidete Frau und starrte vor sich hin. Alle Augenblicke führte sie ihr zerknülltes Taschentuch an die verweinten Augen, sie schien die Menschen in ihrer Umgebung nicht zu beachten, nur von einem einzigen Gedanken erfüllt zu sein.

Gunnar ging auf einen langen mageren Beamten mit einem Gesicht wie ein beutewitternder Iltis zu und präsentierte ihm seine Vorladung.

»So«, sagte der Beamte und beguckte den Delinquenten von oben bis unten. »Bitte warten!«

Und dann nahm er die Vorladung und verschwand durch den halbdunklen Flur, an der schwarzgekleideten Witwe vorbei, die ihm mit erschreckten Augen nachstarrte, als ob sie dächte: »Jetzt kommt es!«

Warberg begann langsam in dem Räume auf und ab zu wandern.

Hin und wieder öffneten sich die verschiedenen Türen des Lokales und ein Beamter trat heraus und rief mit lauter Stimme einen Namen, einen Frauen- oder Männernamen. Und der Betreffende erhob sich still von seinem Platz und schlich scheu durch die Tür, die hinter ihm geschlossen wurde. Oder es wurde geantwortet: Hier! und der Angerufene fuhr mit einem Ruck und einem nervösen Zittern in die höhe, als erwache er aus einem Traum.

Die Tür zum Treppenflur ging unaufhörlich auf und zu, und immer neue Gesetzesverächter schlichen hinein, sahen sich verzagt um und sanken still auf die nächste Bank nieder oder blieben mit dem Hut in der Hand an der Wand stehen.

Plötzlich ertönten die Schritte vieler Füße in dem halbdunklen Flur.

Gunnar wandte sich um und sah hinein:

Eine Menge barhäuptiger Männer und Frauen in Gefängniskleidung scharte sich unruhig in einer Ecke zusammen. Einige starrten versonnen zu Boden. Andere warfen die Köpfe zurück und sahen sich trotzig um. Vorn in dem Schwarm stand ein kleiner, kräftig gebauter junger Mensch, ein Knabe von sechzehn, siebzehn Jahren. Sein Gesicht war bleich, und sein blondes Haar fiel ihm wirre in die Stirn. Aber seine Augen leuchteten vor Trotz. Er blickte gleichgültig durch die Tür und in den Saal. Aber als sein Blick auf die kleine schwarzgekleidete Frau draußen fiel, glitt es wie ein Schleier darüber hin, er errötete und wandte das Gesicht ab. Aber die Frau preßte verzweifelt das Taschentuch zwischen den Fingern und rückte auf der Bank hin und her, während ihr große stille Tränen über die Wangen rannen.

Auch Gunnar wandte den Kopf ab und mußte plötzlich, ganz unmotiviert, wie es ihm schien, an seinen Vetter Benjamin denken. Jetzt kam der lange magere Beamte zurück mit der Vorladung in der Hand.

»Bitte schön«, sagte er höflich, »wollen Sie sich hier an den Tisch setzen.«

Und er stellte ein paar Stühle an den langen Tisch, wo schon die anderen Beamten saßen und die geflüsterte Beichte der beiden armselig gekleideten und verhungerten Sünder niederschrieben.

Gunnar nahm Platz, und der Beamte setzte sich neben ihn.

»Was haben sie gemacht?« fragte er schnell und leise und streckte seine Iltisfratze vor, Warberg direkt ins Gesicht.

Gunnar blickte ihn verständnislos an.

»Ja, wir fangen am besten gleich an«, sagte der andere, ohne sich genieren zu lassen, legte einen Bogen Papier vor sich hin und tauchte die Feder ein.

»Was wünschen Sie zu wissen?« fragte Warberg.

»Ihr vollständiges ›vita‹, mein Herr ... Ist es ein politisches Verbrechen?«

»Wie beliebt?«

»Ihren ganzen Lebenslauf muß ich aufschreiben.«

Gunnar lächelte.

»Das ist ein bißchen viel!«

»Tja, aber billiger können wir's nicht machen! ... Doch nur so im großen und ganzen, natürlich!«

»Wollen Sie mich nicht examinieren, mein Herr? Denn so, glaube ich, wird es besser gehen.«

»Ja, mit Vergnügen! ... wann sind Sie geboren?«

»Achtzehnhundertundachtundfünfzig!«

»Und Datum und Geburtsort?«

Warberg gab beides an.

»Getauft und konfimiert ebendaselbst?«

»Ja.«

Der Mann schrieb:

»Na ... Und dann?«

»Dann kam ich zu einem Buchhändler in die Lehre, erst in Nakskov und dann hier.«

»Jahreszahl?«

»Die weiß ich wirklich nicht mehr.«

»Ja, aber, das müssen wir unbedingt erfahren! ... Na, das kriegen wir schon heraus! Und dann?«

»Und dann bereitete ich mich zum Abiturium vor und fiel durch, und dann ging ich als Hauslehrer aufs Land ...«

»Wo?«

»Auf Fühnen.«

»Bei wem?«

»Bei Graf Mangletrae in Broby ... Und dann arbeitete ich bei einem Rechtsanwalt und wurde als unbrauchbar entlassen, und dann versuchte ich mich als Schauspieler, und dann wurde ich wieder Buchhändler, und dann ...«

»Hui! Hui! Die Jahreszahlen, lieber Herr!«

»Ich kann mich nicht auf die Jahreszahlen besinnen. Die habe ich nie behalten können!«

»Dann müssen wir uns zu helfen suchen ... Sie wurden also mit vierzehn Jahren konfirmiert! ... Das wären also ... vierzehn und ... acht ... und fünfzig ... das wären ...«

Und nun begannen sie gemeinsam die verschiedenen Jahreszahlen auszurechnen.

Plötzlich veranlaßte der Laut klappernder Pantoffeln Gunnar, sich nach dem Saale umzuwenden:

Durch die Tür zu dem halbdunklen Flur, wo die schwarzgekleidete Witwe saß, trat ein junges Mädchen ein, hinter ihr ein Mann in einer Art Wächter- oder Pförtneruniform und mit einem großen Schlüsselbund in der Hand. Das Mädchen trug Pantoffeln und weiße Strümpfe. Ihr Kleid ließ einen großen Teil des Knöchels frei. Es war aus hellem Schirting, die Taille dagegen war grellrot mit schwarzen Punkten und stand vorn offen. Und an dem bloßen Halse hing ein goldenes Medaillon an einem blauseidenen Bande. Das Haar fiel ihr lang und ungekämmt in blauschwarzem Gewirr ins Gesicht.

Binse! ... Das heißt, es glich Binse, wie Gunnar sie zuweilen in seinen Träumen gesehen hatte.

Sie ging lächelnd und mit lebhaften Augen durch den Saal und nickte den an den Pulten vor den Fenstern sitzenden Männern vertraulich zu. Und manche von ihnen nickten wieder und lachten: »Guten Tag, Marianne!«

Plötzlich begann sie sich in den Hüften zu wiegen und zu summen:

O Sophus, o Sophus, du bist mein bester Freund,
du lehrtest mich, wie solch
ein Herze lieben muß ...

Und als sie durch die zum Treppenflur führende Tür hinausging, stieß sie mit dem einen Fuß nach hinten aus, daß man ihre dünnen Waden sehen konnte.

Und dann schloß der Gefangenenwärter die Tür hinter ihr.

Gunnar sah den Beamten fragend an.

»Tja«, sagte dieser und zuckte die Achseln.

»Ist sie irrsinnig?«

»Och nee, sie ist bloß jemütlich! Sie ist zum fünften Male hier ... Nächtlicher Unfug, Diebstahl! ... übrigens ein flottes Mädel! ... Und siebenundachtzig wurden Sie also Kandidat der Philosophie?«

»Ja, und seit der Zeit bin ich als Lehrer an der Schule von Möller und Bigum draußen in Amager angestellt.«

»Dann wären wir also fertig«, sagte der Iltis. »Bloß noch eines« (er kniff ein Auge zu und gab sich Mühe, verschmitzt auszusehen) ... »ja, entschuldigen Sie, aber ich muß Sie danach fragen ...« »Fragen Sie nur!«

»Sind Sie ... sind Sie niemals ... Sind Sie etwa schon mal im Zuchthaus gewesen?« Der Beamte lächelte und schien außerordentlich zufrieden mit der humoristischen Form, die er für seine delikate Frage gefunden hatte.

»Nein, noch nicht«, lächelte Gunnar wieder.

»Hi, hi!«

»Ha, ha ... Kann ich nun gehen?«

»I bewahre, nein! Sie müssen erst herein und dem Assessor präsentiert werden! ... Sagen Sie mal, was haben Sie getan?«

Der Mann war jetzt wieder Iltis vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Nasenflügel dehnten sich vor Begierde, der Leute auf die Spur zu kommen.

»Soll das auch in die Personalakten?« fragte Gunnar.

»Nein, das nicht ...«

»So ... Ja, ich kann es Ihnen schließlich ebensogut sagen ... Sie erfahren es ja doch ...«

»Ja ...«

Warberg beugte sich zu dem Mann hinüber und flüsterte hastig:

»Ich soll meinem Onkel Gift gegeben haben.«

Der Beamte blickte ihm einen Moment starr in die Augen. Dann brach er in ein Gelächter aus.

»Das ist recht«, sagte er, »immer jemütlich! Es kommt ja doch, wie es kommen soll!«

Und dann stand er auf und ging, Warbergs Lebenslauf in der Hand schwingend, durch die Tür neben der Delinquentenbank.

Er kehrte gleich wieder zurück.

»Sie werden sofort herankommen«, sagte er und stieß einen langen Zeigefinger in Warbergs Schultern, während er an ihm vorbeiging und durch die gegenüberliegende Tür verschwand.

Warberg sah auf seine Uhr:

»Zwanzig Minuten nach Zwei! ... Sie geht ein bißchen langsam, diese Dreschmaschine der Gerechtigkeit!«

Und er begann wieder im Saale auf und ab zu wandern. Die Schreiber an den Pulten unter den Fenstern warfen ihm neugierige Blicke zu. Einer von ihnen hatte den »Kopenhagener« vor sich ausgebreitet, deutete darauf und sprach flüsternd mit seinem Nachbar. Es stand gerade an diesem Tage eine Novelle von Gunnar in der Zeitung. Man wußte also, wer er war.

Infolgedessen streckte er die Brust heraus, setzte die Füße auswärts und schritt majestätisch umher wie ein Hahn auf einem gräflichen Misthaufen.

Er sah sich nach der kleinen schwarzen Dame um. Sie war fort. Nun saß sie wohl zu Hause und weinte. Er blieb stehen und blickte durch die Tür in den dunklen Flur. Auch der Knabe mit den trotzigen Augen war nicht mehr da. Dafür hatte sich ein Haufen anderer trister Sünder eingefunden ... Plötzlich sah er einen Beamten eine Schranktür in der Wand öffnen und einen alten gebeugten Mann herausziehen:

»Hier entlang!« sagte der Beamte.

Und der Alte folgte ihm mit unsicheren Schritten und mit einem Blick wie ein Hund, der Prügel erwartet.

Warberg schüttelte den Kopf. Ein tiefes niederdrückendes Mitleid erfüllte ihn. Nicht gerade Mitleid mit diesem einzelnen Mann, sondern mit allen. Mit der kleinen schwarzgekleideten Frau, mit dem trotzigen, halbwüchsigen Knaben, mit dem frechen, singenden Mädel – mit sich selbst, mit der ganzen Menschheit. Und es entstand in ihm ein brennender Drang, allen zu helfen (und dadurch natürlich auch sich selbst), sie von Not und Schande und Kummer zu erlösen und zu frohen und glücklichen Menschen zu machen ...

Aber dann lächelte er:

»Nur nicht sentimental, Alter! Wenn du erst in deiner Sofaecke oben im »Schweizer« sitzest, dann ist alles vergessen ... Du hast Hunger!«

Ein kleiner Mann kam ihm entgegen mit dünnen Beinen, strammen Hosen, glattrasiertem Gesicht und die einzelnen Haupthaare in einem pomadisierten Scheitel über den Kopf verteilt. Der kleine Mann blieb plötzlich stehen, wandte sich dann rasch ab, ehe er Gunnar erreicht hatte und verschwand eiligst durch eine Tür im Hintergrunde des Saales.

Auch Warberg stutzte:

»Zum Kuckuck, wer war das?«

Dann glitt mit einem Male ein breites Lächeln über sein Gesicht.

»Kammerjunker Torskemund! ... Das war ja der kleine Kammerjunker Torskemund!«

Und nun entsann sich Gunnar deutlich, ihn während eines Ferienaufenthaltes zu Weihnachten drüben auf Broby kennengelernt zu haben, wo sie Abend für Abend ihre drei Partien Whist mit dem Grafen und der »Gnädigen« gespielt hatten.

Der Kammerjunker hatte sich jammernd bei Warberg beklagt, wenn sie unter vier Augen waren, daß er immer verlor; denn Torskemund war geizig wie eine Stiftsdame. »Das steckte den Torskemunds im Blute«, sagte die Gnädige.

Und dann sein Bericht über den Schloßbrand von Kristiansborg! (Gunnar lachte in sich hinein.)

Der Kammerjunker wohnte damals bei seinem Vater, der eine Hofcharge bekleidete und seine Wohnung im Schlosse hatte. »Der Ausbruch des Feuers versetzte meine Familie in die größte Verwirrung«, erzählte er mit seiner lispelnden Stimme. – »Aber ich eilte in mein Schlafzimmer hinauf und hatte das Glück, meine Uniform zu retten. Und mit dieser unter dem Arm begab ich mich nach Amalienborg. Dort kleidete ich mich in den Zimmern des Kavallerieleutnants Nelkenwurzel um. Und während der ganzen Katastrophe verweilte ich bei den Damen des Hofes. Man konnte ja bei den damaligen radikalen politischen Verhältnissen nie wissen, was passiert ... dieser Berg und seine Bande!«

Und Gunnar entsann sich ferner darauf, was die alte Gräfin Thrane, die Mutter der Gnädigen, ihm erzählt hatte: Torskemund hatte sich dreimal zur juristischen Staatsprüfung gestellt. Aber er hatte kein Glück. Da hatte seine bekümmerte Mutter »höheren Orts« eine Audienz nachgesucht und sich über die hartherzigen Professoren beschwert. Und als das Examen sich zum vierten Male näherte, hatte man von oben her den Herren bedeutet, daß man es gern sähe, wenn der junge Torskemund reussierte.

Und der junge Torskemund reussierte.

Und ein Jahr später würde er zum Kammerjunker ernannt und erhielt eine Anstellung an einem der Gerichte.

Auf die Art »macht man Karriere«.

»Sind Sie noch nicht drin gewesen, Herr Warberg?«

»Nein.«

»Hm! ... Das heißt wirklich, die Geduld des Publikums auf die Probe stellen!«

Es war der Iltis, der auf seiner Reise durch den Raum Gunnar wieder angelaufen war.

Warberg setzte sich auf die Delinquentenbank unter dem Fenster. Es war nun drei Uhr, und das Lokal war ziemlich leer geworden. Die Schreiber an den Pulten schienen ans Mittagessen zu denken, denn sie sahen alle sehr tiefsinnig aus. In weiter Entfernung wurden in dem großen Gebäude Türen geöffnet und geschlossen, und auf den Treppen draußen erklangen hastige, enteilende Schritte.

Aber in dem halbdunklen Lokal rechts von der Bank, auf der Gunnar sah, war immer noch ein ununterbrochenes Kommen und Gehen von bejammernswerten Männern, Frauen und halbwüchsigen Kindern, die unter Bewachung uniformierter Mummelgreise abgeführt wurden, um hinter geschlossenen eichengestrichenen Flügeltüren ihrer von Gott eingesetzten irdischen Obrigkeit zu beichten.

Und Warberg sah die Schranktüren drinnen sich öffnen und schließen für diese tristen Menschenwracks. Und er empfand wieder dieses niederdrückende Mitleid mit der ganzen Erde. Aber zugleich ertappte er sich auf einer aufreizenden Neugierde nach den Stimmungen, die in ihm aufkommen würden, wenn er drinnen stand und der Schlüssel umgedreht wurde.

»Wissen Sie, Herr Warberg, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich einfach gehen!«

Der lange Beamte, der sich in ihn verliebt zu haben schien, hatte sich über Gunnar gebeugt und flüsterte ihm erregt diese Worte ins Ohr.

Warberg lächelte:

»Ach nein?«

»Ja, wahrhaftig, das würde ich! Ich würde, weiß Gott, meiner Wege gehen, wenn ich eine Privatperson wäre!«

Und dann war der Iltis wieder weit fort, durch eine andere Tür verschwunden.

Was hat er wohl, zum Kuckuck, hier immer herumzutrieseln? dachte Gunnar.

»Wenn ich fragen darf ... Herr Warberg ...?«

»Ja.«

»Jetzt sind Sie daran – Bitte ...«

Der Mann öffnete eine Tür in dem dunklen Flur, Gunnar trat ein, und die Tür wurde hinter ihm geschlossen.

Er stand in einem geräumigen Zimmer, das durch eine dunkle Mahagonischranke, die sich durch das ganze Zimmer von einer Wand zur anderen erstreckte, in zwei Teile geteilt war.

Hinter der Schranke saßen an einem großen, mit grünem Tuche bezogenen Schreibtisch zwei jüngere Männer, die ihre neugierigen Augen auf den Eintretenden hefteten.

Vor der Schranke auf einem Stuhl hart an der Wand saß eine alte zusammengesunkene Männergestalt, deren Gesicht wie verstaubt aussah, und in deren Auge kein Fäserchen von Interesse für das, was ringsum vorging, zu merken war. Es war ein alter Beisitzer, der vermutlich hier auf diesem Stuhl gesessen hatte, seit das Reich unter Gorm dem Alten gesammelt worden.

»Herr Gunnar Warberg?« fragte der Ältere der beiden hinter der Schranke, ein mild und freundlich aussehender Mann von sechs- bis siebenunddreißig Jahren.

»Ja.«

Dann wurde der draußen angefertigte Rapport verlesen, Gunnar bestätigte ihn, und das wurde von dem anderen Beamten zu Protokoll genommen.

»Ja, dann sind Sie für heute fertig, Herr Warberg«, sagte der milde Mann höflich. »Aber ich muß Sie bitten, sich wieder hier heraufzubemühen am ... wollen sehen ... am Donnerstag nächster Woche zum Beispiel, wir müssen ja den Rapport mit Attesten belegen, und das wird wohl reichlich eine Woche in Anspruch nehmen.«

»Soll ich um dieselbe Zeit kommen wie heute?«

»Ja, danke, um dieselbe Zeit ... Und dann werden Sie schon etwas schneller expediert werden, wir hatten heute eine Sache, die sich länger hinzog als ich gedacht hatte ... Sie können einem der Beamten Ihre Karte geben und ihn bitten, sie mir zu bringen, dann werden Sie sofort expediert.«

»Danke«, sagte Gunnar und verbeugte sich.

»Adieu.«

Die beiden Herren hinter der Schranke erhoben sich höflich. Aber der uralte eingestaubte Beisitzer hockte unbeweglich auf seinem Stuhl, krumm und vornübergebeugt und starrte wie ein Buddha der Gerechtigkeit auf seinen eigenen verschimmelten Nabel ...

 


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