Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

40

In den dunklen, sonst so stillen Gang vor dem Zimmer Nummer 7 hatte der neue rätselhafte Fall von Islington Leben gebracht. Neben drei riesigen uniformierten Schutzleuten standen mehrere Detektive, und Meals schoß geschäftig von einer Gruppe zur andern und trachtete, weitere Einzelheiten über den Fall zu erfahren.

Er konnte es nicht erwarten, bis Conway endlich erscheinen werde, aber dieser war offenbar durch nichts aus seiner gemächlichen Ruhe zu bringen, und Gibbs hatte von dem Gleichmut seines Chefs schon sehr viel angenommen, denn er saß seelenruhig auf einer Bank und paffte aus seiner kurzen Pfeife, daß dicke Rauchschwaden zur Decke stiegen.

Erst als Mrs. Irvine und Hubbard in den Gang einbogen, stand er schwerfällig auf, klopfte die Pfeife an der Stiefelsohle aus und winkte, während er vor der jungen Frau den Hut lüftete, durch einen raschen Blick einen der Detektive herbei.

»Führen Sie diesen Herrn durch die gewissen Stationen«, befahl er kurz und deutete auf Hubbard. »Wenn alles besorgt ist, ist er zu Kommissar Conway zu bringen.«

Nach einer Weile faßte Gibbs plötzlich nach der Klinke von Zimmer Nummer 7, und Meals erlebte zum zweitenmal die Überraschung, daß die Tür unter dem Druck des Kollegen nachgab, obwohl er selbst sie noch kurz vorher bei wiederholten verstohlenen Versuchen verschlossen gefunden hatte.

Der »Zauberlehrling« forderte zunächst die junge Frau mit eckiger Höflichkeit auf einzutreten, dann winkte er Meals und den Polizisten sowie den Detektiven und schloß hinter ihnen wieder die Tür.

Wie immer warfen die beiden starken Lampen vom Schreibtisch her ihr blendendes Licht in den Vorderraum, und hinter ihnen lag undurchdringliche Dunkelheit.

Gibbs bot der jungen Frau einen Stuhl an, und als sie sich gesetzt hatte, herrschte minutenlang eine beklemmende Ruhe und Schwüle in dem Zimmer. Die Beamten standen regungslos wie Statuen, Gibbs lehnte mit verschränkten Armen gelangweilt neben der Tür, und nur Meals verriet durch seine Zappeligkeit, wie ungeduldig er die weitere Entwicklung der Dinge erwartete.

»Mrs. Irvine«, brach plötzlich eine klare Stimme das unheimliche Schweigen, »ich muß Ihnen von Amts wegen die Eröffnung machen, daß Ihr Gatte nicht am 11. Juni vorigen Jahres in Hampstead verunglückt ist, sondern erst gestern in Islington durch einen Schuß seines Begleiters Corner ums Leben kam. Weiter kann ich Ihnen nicht vorenthalten, daß gewisse Umstände den Verdacht aufkommen lassen, Richard Irvine sei der Urheber oder wenigstens Mitbeteiligte an den verschiedenen Kapitalverbrechen gewesen, die als ›die Fälle der weißen Spinne‹ bekanntgeworden sind. – Stimmt das, Sergeant Meals?«

Der freundliche Sergeant reckte sich selbstbewußt.

»Jawohl, Captain.«

»Wir haben auch tatsächlich die Spinnen, die uns noch fehlten, bei Ihrem Gatten gefunden«, fuhr der Unsichtbare in kühlem Amtston fort, »aber es wird natürlich Sache einer eingehenden Untersuchung sein, die vorliegenden Verdachtsmomente genauestens zu prüfen. Ich wollte Sie nur auf diesen Umstand aufmerksam machen, Mrs. Irvine, weil Sie vielleicht einige sehr wichtige Angaben zu machen haben werden. – Wieviel Uhr haben wir, Meals?«

Der Sergeant, der sich in der Rolle einer Hauptperson dieser Szene ungemein wichtig und glücklich fühlte, riß hastig seine Uhr heraus und sah auf das Zifferblatt.

»11 Uhr und . . .«, stieß er dienstbeflissen hervor, aber plötzlich versagte ihm die Stimme, und er ließ seinen verstörten Blick blitzschnell durch den Raum gleiten.

»Nun?« drängte Kommissar Conway scharf und ungeduldig.

»11 Uhr 40 Minuten«, murmelte Meals, am ganzen Leibe zitternd.

»All right.«

Wie auf ein Stichwort griffen sechs kräftige Hände nach dem freundlichen Sergeanten Meals, und Gibbs, der ihm die Arme zurückgerissen hatte, legte liebevoll und mit großer Sorgfalt zwei völlig neue Spangen um die Gelenke seines Kollegen.

Einen Augenblick bäumte sich der Mann mit erstaunlichen Kräften auf, aber die sechs Fäuste umklammerten ihn wie Schraubstöcke, unter deren Druck er schmerzhaft aufstöhnte.

»John Meals«, sagte der geheimnisvolle Mann im Dunkel, der ihn zur Strecke gebracht hatte, »ich verhafte Sie unter dem Verdacht des Mordes an Lewis, Inspektor Dawson und Corner, sowie unter dem Verdacht der Täterschaft aller weiteren Verbrechen der weißen Spinne. Die übrigen Dinge, die noch gegen Sie vorliegen, will ich nicht erst aufzählen, und öfter als einmal kann man Sie leidet nicht hängen. Aber das eine Mal werden Sie baumeln, und damit habe ich das Versprechen erfüllt, das ich Ihnen vor einiger Zeit gegeben habe: Ihnen zu einer Beförderung zu verhelfen, wie sie noch selten einem Mann von Scotland Yard zuteil geworden ist.«

Der torkelnde Sergeant, dessen immer so freundliches und liebenswürdiges Gesicht totenblaß und zu einer grauenhaften Fratze verzerrt war, wurde von sechs starken Armen aus dem geheimnisvollen Zimmer Nummer 7 geschleift, und nur der gleichmütige Gibbs und Mrs. Irvine blieben zurück. Die junge Frau saß regungslos auf ihrem Platz und starrte ununterbrochen in die Finsternis hinter den Lichtkegeln, aber dort war es plötzlich ganz still.

Endlich räusperte sich der »Zauberlehrling« etwas ungeduldig, und als dies nichts nützte, tippte er Mrs. Irvine sehr ehrerbietig auf den Arm.

»Sie werden nicht mehr benötigt, Madam«, meinte er höflich.

Muriel fuhr aus ihren Gedanken auf, sah sich etwas hilflos um und schritt dann zur Tür.

In diesem Augenblick ging diese auf, und der Sekretär wurde von dem Detektiv vorgeführt. Er wollte mit einem stummen Neigen des Kopfes Mrs. Irvine an sich vorüberlassen, aber die junge Frau blieb stehen und reichte ihm in jähem Impuls die Hand.

»Auf Wiedersehen!« sagte sie klar und bestimmt, aber Hubbard konnte nur mit einem verlegenen Achselzucken antworten.

Der Tagesbefehl von Scotland Yard, der an diesem Abend ausgegeben wurde, enthielt folgende kurze, aber inhaltsschwere Verlautbarungen:

›Kommissar Captain Conway nach Erledigung seiner Spezialmission zurückberufen auf seine Dienststelle nach Dover unter Bewilligung eines vierwöchigen Erholungsurlaubs.

Sergeant Tom Gibbs unter Beförderung zum wirklichen Detektiv und unter Zuerkennung der für den Fall Dawson ausgesetzten Prämie einrückend zur Überwachungsstelle in Dover.

Sergeant John Meals wird seines Dienstes enthoben und aus den Listen der A-Abteilung gestrichen.‹


 << zurück weiter >>