Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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19

Etwa eine Viertelstunde später trat Mrs. Irvine wieder durch das Portal von Scotland Yard.

Erst jetzt, da sie wieder der Lärm des Lebens umtoste, begann allmählich der Bann von ihr zu weichen, und während sie langsam gegen Whitehall schritt, versuchte sie sich zu erinnern, wie eigentlich alles gekommen war.

Sie hatte eine rückhaltlose Beichte abgelegt und doch fast gar nichts gesprochen, denn Captain Conway hatte dies für sie besorgt. Noch immer klang ihr die männliche Stimme im Ohr, die solche Gewalt über sie bekommen hatte, und unwillkürlich versuchte sie, sich ein Gesicht vorzustellen, das zu dieser Stimme gepaßt hätte. Es war entschieden nicht das grollende und drohende Organ eines alten Polizeibeamten, das sie bezwungen hatte, sondern der Unsichtbare hatte weit wirkungsvollere Register gezogen. Es kam ihr nun vor, als ob das alles gar keine polizeiliche Vernehmung, sondern eine allerdings etwas peinliche und schmerzvolle Aussprache gewesen wäre – und während sie träumend ihren Weg fortsetzte, ertappte sie sich plötzlich bei der lebhaften Frage, ob sie wohl noch einmal in das Zimmer Nummer 7 gerufen würde.

Sie fühlte sich mit einem Male so müde, daß sie beschloß, in dem nächsten Restaurant den Lunch einzunehmen. Sie wollte einmal eine ruhige Stunde verbringen und der seelischen Erleichterung froh werden, die über sie gekommen war.

Sie nahm in einem stillen Winkel Platz und vergaß wirklich alles.

Nur die Stimme aus dem Dunkel konnte sie nicht loswerden aber Muriel Irvine schien darüber nicht ungehalten zu sein, sondern schüttelte nur mit einem leisen Lächeln den Kopf.

*

Auch Corner hatte sie völlig vergessen, sollte aber daran erinnert werden. Als sie gegen vier Uhr ins Kontor kam, konnte sie der Einäugige endlich erreichen, und seine rauhe Stimme verriet, in welcher Erregung er sich befand.

»Was soll das heißen?« stieß er ungeduldig hervor. »Weshalb melden Sie sich denn nicht? Ich sitze seit halb zwei Uhr am Apparat.«

»Ich will hoffen, daß Sie dadurch nicht etwas Nützlicheres versäumt haben, denn ich kann Ihnen leider gar nichts berichten«, erwiderte sie gelassen.

»Wieso nicht?« fragte er rasch und mißtrauisch zurück. »Es muß doch über etwas gesprochen worden sein, und Sie können sich denken, daß mich alles interessiert.«

»Das kann ich mir allerdings denken«, gab sie etwas anzüglich zurück, »aber das kann mich nicht veranlassen, Dinge zu wiederholen, die völlig belanglos sind.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie einfach den Hörer auf und lächelte vor sich hin. Der Unsichtbare, der ihr beim Abschied in einem so freundschaftlichen Ton geraten hatte, über die Unterredung im Zimmer Nummer 7 Stillschweigen zu bewahren, konnte mit ihr zufrieden sein.

Corner war weniger erbaut über den Verlauf dieses Telefongesprächs. Die kurz angebundene Art, in der sie eben mit ihm gesprochen hatte, stimmte ihn höchst bedenklich. Was war in Scotland Yard vorgegangen, daß sie ihn plötzlich so von oben herab abfertigte? Und daß sie es vermied, auch nur ein Wort darüber fallenzulassen.

Aber es war seine Art, sich in solchen Fällen möglichst rasch Gewißheit zu verschaffen.

Mrs. Irvine gab Hubbard eben eine Liste von Bestellungen auf, als es an der Kontortür klopfte und der Einäugige eintrat. Er schien im ersten Augenblick durch die Anwesenheit des Sekretärs peinlichst berührt zu sein, aber dann sah er einfach über ihn hinweg und begrüßte die junge Frau mit gemessener Höflichkeit.

Hubbard nahm seine Papiere auf, um sich zurückzuziehen, als Muriel ihn plötzlich zurückhielt.

»Bleiben Sie«, sagte sie mit einem eigentümlichen Lächeln, »ich möchte die Herren miteinander bekannt machen.«

Corner war von diesem Einfall sichtlich wenig begeistert, aber Hubbard sah sehr vergnügt drein.

»Das ist nicht notwendig, Mrs. Irvine«, bemerkte er, »denn ich habe bereits seit langem das Vergnügen, Mr. Corner zu kennen. Wir haben erst heute um 6 Uhr morgens wieder ein sehr freundschaftliches Telefongespräch geführt.«

Sie ließ ihre Blicke forschend zwischen dem mißmutigen Corner und ihrem gutgelaunten Sekretär hin und her gehen und beschloß, reinen Tisch zu machen.

»Ich bin sehr froh, daß sich diese Gelegenheit ergeben hat«, sagte sie nun wieder in ihrer kühlen, hochfahrenden Art, »weil sie mir viele Umständlichkeiten erspart.« Sie sah den Sekretär plötzlich durchdringend an. »Mr. Corner hat mir nämlich heute mitgeteilt, daß Sie bereits einige Freiheitsstrafen verbüßt hätten.«

»Das kann ich leider nicht in Abrede stellen«, erwiderte Hubbard mit einem leichten Achselzucken, »da ich ebendiesem Umstand die ehrenvolle Bekanntschaft mit Mr. Corner verdanke. Ich glaube, es war im Februar vorigen Jahres, als wir uns in Dartmoor kennenlernten. Er saß damals wegen eines kleinen Heiratsschwindels, ich wegen einer Meinungsverschiedenheit mit der Polizei.«

»Sie haben auch noch andere Dinge auf dem Kerbholz«, brauste der Einäugige wütend auf.

»Soviel ich weiß, auch Sie«, gab der andere höflich zurück.

Mrs. Irvine zog die Brauen hoch und beendete mit einer energischen Geste das interessante Zwiegespräch.

»Ich danke, Mr. Hubbard. Wir werden darüber noch sprechen.«

Als der Sekretär gegangen war, vergaß Corner zum ersten Male die tadellose Höflichkeit, die er ihr gegenüber bisher immer bewahrt hatte.

»Was, zum Teufel, ist in Sie gefahren?« zischte er. »Was sollte die Komödie bedeuten, die Sie eben aufgeführt haben? Und wie konnten Sie mich vorhin am Telefon so niederträchtig abfertigen? Betrachten Sie mich bereits als so überflüssig?«

»Ich betrachte Sie als so überflüssig«, sagte Muriel ruhig, »daß ich Sie die Treppe hinunterwerfen lassen werde, wenn Sie noch einmal einen derartigen Ton anschlagen. – Ich glaube, Mr. Hubbard wird sich ein besonderes Vergnügen daraus machen, mir diesen Dienst zu erweisen, wenn ich ihn darum ersuche.«

Corner lenkte mit gekränkter Miene ein.

»Entschuldigen Sie, Mrs. Irvine – aber Sie haben mich wirklich schlecht behandelt. Das habe ich doch gewiß nicht verdient. Sie müssen doch zugeben, daß ich mich seit Monaten bemühe, Ihnen in uneigennützigster Weise dienlich zu sein, und plötzlich scheinen Sie mich ohne weiteres beiseite schieben zu wollen.«

Er fühlte den Blick der jungen Frau mit einem Ausdruck auf sich ruhen, der ihm nicht gefiel und der ihn noch unsicherer machte.

»Nicht so ohne weiteres«, sagte sie. »Ich denke eben darüber nach, wie ich mich für Ihre Dienste erkenntlich zeigen könnte, und es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mir eine Summe nennen würden.«

Der Einäugige fuhr auf, und sein gelbes Gesicht verzerrte sich zu einer bösartigen Fratze.

»Also, Sie bieten mir Geld?« fragte er höhnisch. »Das ist kein guter Einfall; denn ich glaube kaum, daß Sie die Summe bezahlen könnten, die ich fordern müßte.«

»Sie scheinen Ihre uneigennützigen Dienste denn doch etwas zu überschätzen.«

»O nein«, gab er mit einem tückischen Lächeln zurück. »Sie werden sich schon noch überzeugen, welch hohen Preis diese Dienste wert waren.«

Mrs. Irvine schien die verbissene Drohung zu überhören und hob nur leicht die Schultern.

»Dann will ich natürlich nicht vorgreifen, sondern es Ihnen überlassen, sich diesen Preis zu sichern«, gab sie kühl zurück und neigte verabschiedend den Kopf. »Guten Tag, Mr. Corner.«

Corner vermochte sich vor Enttäuschung und Wut kaum mehr zu beherrschen, und der Blick, mit dem er wortlos ging, sagte der jungen Frau, was sie zu gewärtigen habe.

Aber sie hatte plötzlich jedes Gefühl der Furcht verloren und nur den einen Wunsch, alle Schlacken der Vergangenheit von sich abzustreifen. »Wenn Sie eines Rates oder eines Beistandes bedürfen«, hörte sie unausgesetzt die gewisse Stimme mit seltsamer Wärme sagen, »so wissen Sie, wohin Sie sich zu wenden haben.«

Nun wollte sie gleich auch die Sache mit Hubbard erledigen. Sie hatte zwar nicht den geringsten Anlaß, mit seinem Verhalten und seiner Arbeit unzufrieden zu sein, aber es paßte ihr nicht, daß er eine Maske trug, die ein falsches Spiel bedeutete, und noch weniger wollte ihr seine Vergangenheit gefallen.

»Es tut mir leid«, sagte sie, als er korrekt und unbefangen wie immer vor ihr stand, »aber nach dem, was ich über Sie erfahren habe und was Sie nicht in Abrede stellen können, kann ich Sie natürlich nicht behalten. Solche Dinge sind keine Empfehlung für einen Angestellten und schaden auch dem Ruf des Hauses. Das werden Sie wohl einsehen. Natürlich bleiben die Gründe unter uns, und Sie können sagen, daß Sie selbst Ihre sofortige Entlassung gewünscht haben.«

Er war sehr ernst, nahm aber ihre Mitteilung mit Fassung auf.

»Sie sind sehr gütig, Mrs. Irvine. Allerdings hatte ich gehofft, daß Ihre Güte noch weitergehen würde. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich mir im Geschäft nicht das geringste hätte zuschulden kommen lassen.«

Muriel sah interessiert in das gebräunte männliche Gesicht ihres Sekretärs, und es imponierte ihr fast, daß er in dieser peinlichen Situation eine so tadellose Haltung zu bewahren wußte.

»Ja«, erwiderte sie mit einem Anflug guter Laune, »aber das tut es nicht allein. Dafür scheinen Sie dann draußen alles mögliche anzustellen, und ich möchte nicht warten, bis man Sie eines Tages aus dem Kontor abführt.«

Um Hubbards Mund spielte sekundenlang ein feines Lächeln. »Das wäre gewiß sehr unangenehm«, gab er kleinlaut zu. »Aber ich würde Ihnen auch in dieser Hinsicht Besserung geloben. Sie dürfen mir glauben, daß Sie weder durch meine Vergangenheit noch durch meine weitere Führung irgendwelche Unannehmlichkeiten haben werden. Und das Geschwätz von Leuten vom Schlage Corners kann Ihnen doch wirklich gleichgültig sein. Es gefällt mir hier ausgezeichnet, und ich fühle mich so wohl, daß es mir sehr schmerzlich wäre, schon so bald wieder gehen zu müssen. Schließlich tun Sie auch ein gutes Werk, Mrs. Irvine, wenn Sie einem Menschen, der auf dem engen Pfad der bürgerlichen Moral allzu leicht ausgleitet, einen Halt bieten.«

Er hatte sich mit seiner sympathischen Stimme immer mehr in Wärme geredet – aber die junge Frau hörte schon längst nicht mehr, was er eigentlich sagte . . .

Sie hatte plötzlich den Kopf zurückgeworfen und Hubbard aus großen, verwunderten Augen lange angeblickt. Nun aber saß sie mit gesenkten Lidern und schien an wer weiß was zu denken.

»Muß ich also wirklich gehen, Mrs. Irvine?« fragte er bescheiden.

»Nein«, entschied sie plötzlich kurz, »Sie können bleiben. Ich will Ihren Versprechungen Glauben schenken.«

»Ich danke Ihnen«, sagte er herzlich. »Ich hoffe, daß Sie Ihre Güte nicht zu bereuen haben werden.«

»Das hoffe ich auch«, meinte sie, indem sie sich in einer Schublade zu schaffen machte, um das eigentümliche Lächeln nicht sehen zu lassen, das auf ihrem Gesicht lag.

Bevor Mrs. Irvine das Kontor verließ, ging sie noch einmal durch alle Geschäftsräume, und Miss Babberly wunderte sich, für welch nebensächliche Dinge sich die sonst so stolze Herrin plötzlich interessierte. Es kam ja selten vor, daß Mrs. Irvine eine Teilnahme entwickelte, die über das Notwendige hinausging, und das vor allem zu einer Stunde, die für eine persönliche Unterhaltung so wenig geeignet schien.

»Um welche Zeit machen Sie Ihre Mittagspause?« fragte Muriel so ganz nebenbei.

»Von halb eins bis zwei«, gab Constancia etwas spitz zurück, da sie irgendeine Zurechtweisung erwartete.

»Das ganze Kontor?«

»Jawohl. Es ist die günstigste Zeit. Nur das Ladenpersonal geht in zwei Gruppen«, erklärte Constancia.

»Und wo pflegen Sie zu speisen?« fragte die junge Frau sehr neugierig weiter.

»In meiner Pension«, sagte sie hastig. »Das heißt . . .«, sie sah eine Gelegenheit, sich in Szene zu setzen, und wollte diese nicht ungenützt vorübergehen lassen –, »zuweilen pflege ich auch mit Mr. Hubbard zu lunchen. Hier ganz in der Nähe. Es ist ein sehr vornehmes kleines Restaurant«, erklärte sie. »Eben heute wollten wir wieder hingehen, aber Mr. Hubbard hatte leider eine andere dringende Verabredung.«

Mrs. Irvine hörte äußerst aufmerksam zu, und bei den letzten Worten zog sie etwas die Brauen hoch und lächelte so freundlich, daß auch Constancia liebenswürdig ihre blendenden Zähne zeigte.


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