Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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5

»Haben Sie ihn schon gesehen?« fragte Meals.

»Wen?« brummte der alte Sergeant Stevens gleichmütig zurück, der ebenso grau und vergilbt aussah wie seine Akten, mit denen er seit mehr als zwanzig Jahren hauste.

»Nun, Kommissar Conway. Er soll schon drei Tage im Dienst sein, aber es hat ihn noch niemand zu Gesicht bekommen.«

Meals steckte die Nase in einen der Strafauszüge und fuhr mit dem Finger suchend über die einzelnen Spalten.

»Er hat das Zimmer Nummer 7 im Erdgeschoß eingeräumt bekommen«, fuhr er fort, als der andere schwieg. »Sie wissen, das mit den zwei Ausgängen. Man kann über ein paar Stufen direkt ins Freie gelangen . . .«

Der Detektivsergeant mußte jedoch wahrnehmen, daß Stevens für das Thema tatsächlich nicht das geringste Interesse hatte, und vertiefte sich daher wieder in seine Arbeit. Nach einer Weile fühlte er aber doch das Bedürfnis, sich über die eigenartige Sache weiter auszusprechen.

»Es ist wohl in Scotland Yard noch nicht dagewesen, daß man vor den eigenen Leuten Verstecken gespielt hätte. Nicht einmal bei den Oberen hat sich Conway bisher sehen lassen, und es ist kein Wunder, daß diese darüber verschnupft sind. Als ich heute vor Kommissar Bates seinen Namen nannte, machte der ein Gesicht, als ob er Essigsäure geschluckt hätte. – Nun, mir kann es recht sein. Aber ich bin neugierig, wie der Herr Kommissar auf diese Weise mit dem Fall Dawson fertig werden will. Allein kann er die Geschichte doch nicht gut machen.«

Meals seufzte hörbar und wischte sich rasch über die Augen.

»Aber jetzt ist unsereiner anscheinend ganz überflüssig geworden«, fuhr er mit leichter Bitterkeit fort. »Und selbst wenn man aus eigenem Antrieb etwas tun wollte oder etwas zu melden hätte, wüßte man nicht, wie das anfangen. Der Herr Kommissar hat eine Diensteinteilung, nach der man sich nicht gut richten kann. Einmal kommt er um sieben Uhr morgens, das nächstemal um zwölf Uhr nachts . . .«

»Es ist unter Nummer 2755 der Befehl erlassen worden, alle Meldungen an Kommissar Conway schriftlich im Protokoll zu hinterlegen«, bemerkte Stevens trocken, »Er läßt sich seine Mappe immer von dem diensthabenden Wachmann holen.«

Der Sergeant erwiderte nichts, aber er hob vielsagend die Schultern, womit er zu verstehen geben wollte, daß dies kein dienstlicher Verkehr für Scotland Yard sei. Die ganze Geheimnistuerei paßte ihm nicht. Am meisten wurmte es ihn aber, daß ihm bei der Verfolgung der Mörder Dawsons anscheinend auch nicht die geringste Rolle zufallen sollte. Er hatte gestern und heute wohl schon zwanzigmal versucht, sich selbst in Erinnerung zu bringen, aber sein hartnäckiges Klopfen an der verschlossenen Tür von Nummer 7 war stets unbeantwortet geblieben.

»Sergeant Meals, Kommissar Conway will Sie sprechen«, hörte er da plötzlich eine rauhe Stimme sagen.

Er fuhr unwillkürlich zusammen, weil er glaubte, daß ihm seine Nerven einen Streich gespielt hätten. Aber an der Tür stand tatsächlich ein Schutzmann, dem es zu lange zu dauern schien, bis Meals sich in Bewegung setzte.

»Sputen Sie sich«, riet er wohlmeinend, »denn der Kommissar hat es eilig, und ich glaube, es ist mit ihm nicht gut Kirschen essen.«

Meals lief hastig durch die Gänge, als er aber diensteifrig die Tür von Nummer 7 aufriß, mußte er unwillkürlich an der Schwelle haltmachen und die Hand über die Augen legen.

Von dem Schreibtisch im Hintergrund des langgestreckten Zimmers warfen zwei starke Lampen ihren Schein direkt auf den Eingang, und der Sergeant war einige Sekunden wie geblendet.

Erst allmählich gewöhnten sich seine Augen an das scharfe, konzentrische Licht, aber da die großen schwarzen Schirme nach rückwärts gedreht waren, vermochte er nur bis zum Tisch zu sehen. Was dahinter war, lag in völligem Dunkel, und nur das Mauerwerk des gewölbten Raumes zeichnete sich in schattenhaften Umrissen ab. Der Sergeant sagte sich, daß der Schreibtisch unmittelbar vor dem Bogen stehen müsse, der das Zimmer eigentlich in zwei Räume teilte, von denen jeder einen besonderen Ausgang hatte.

In dem Büro herrschte lautlose Stille, aber Meals wagte keinen Schritt weiter zu tun, obwohl er sich in dem blendenden Lichtkegel höchst unbehaglich fühlte.

»Sie haben mit Inspektor Dawson gearbeitet?« fragte plötzlich eine kalte, herrische Stimme.

»Jawohl«, erwiderte der Sergeant eifrig, und seine Augen bemühten sich, das Dunkel zu durchdringen, um wenigstens einen Schatten des Sprechers wahrzunehmen. Aber er sah nichts und hätte nicht einmal angeben können, woher die Stimme gekommen war.

»Wann haben Sie Dawson zum letzten Male gesehen?« klang es endlich wieder aus dem Dunkel.

»Einige Stunden vor seinem Tode. Unmittelbar bevor er Scotland Yard verließ.«

»Hat er mit Ihnen irgendwelche dienstliche Angelegenheiten besprochen?«

»Jawohl«, sagte Meals eifrig. »Er tat dies immer. So ziemlich bei allen Fällen, die er gehabt hat, mußte ich ihm jedesmal die verschiedenen Recherchen besorgen.«

»Auf welchen Fall bezogen sich seine letzten Mitteilungen?«

»Mitteilungen waren es eigentlich nicht«, stellte der Sergeant bescheiden fest. »Inspektor Dawson sprach nie davon, worum es eigentlich ging, und das hat mir zuweilen meine Arbeit sehr erschwert. Er hat mir auch am letzten Abend nur einen Auftrag erteilt, ohne mir Näheres zu sagen.«

»Und worin bestand dieser Auftrag?«

»Mrs. Irvine, die Besitzerin des Warenhauses ›Zu den tausend Dingen‹, möglichst unauffällig zu überwachen.«

»In welchem Zusammenhang hat Ihnen Dawson diesen Auftrag erteilt?«

Sergeant Meals mußte erst wieder einige Sekunden nachdenken.

»Ich hatte ihm gemeldet, daß ich im ›Klub der Siebenundsiebzig‹ ein Paar Damenhandschuhe und einen Ring gefunden hatte«, sagte er dann bedächtig. »Die Sachen befinden sich im Depot. Und daraufhin gab er mir den Auftrag wegen Mrs. Irvine.«

Wieder entstand eine Pause, die dem Sergeanten unendlich lang schien und ihn immer nervöser werden ließ. Solch eine Unterredung mit einem Vorgesetzten war ihm in seiner Dienstzeit noch nicht vorgekommen.

»Was haben Sie an jenem Abend gemacht?« wollte der Unsichtbare plötzlich weiter wissen.

»Ich habe mich nach Mrs. Irvine umgesehen.«

»Haben Sie etwas ausgerichtet?«

»Leider nicht viel«, sagte Meals und hob bedauernd die Schultern. »Ich erfuhr nur, daß Mrs. Irvine an dem betreffenden Tag bereits kurz nach fünf Uhr das Geschäft verlassen hatte, aber bis gegen elf Uhr war sie noch nicht nach Hause gekommen. Sie solle überhaupt immer erst nach Mitternacht heimkehren, wie man mir sagte, und manchmal auch gar nicht«, fügte er hinzu. »Ich wollte dies Inspektor Dawson mitteilen und bin deshalb noch einmal nach Scotland Yard zurückgekommen. Aber« – Meals senkte seine Stimme und begann etwas zu schlucken – »er war nicht mehr hier, und ich konnte ihn auch telefonisch nirgends erreichen.«

»Wann war das?«

»Um elf Uhr vierzig Minuten.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Weil ich unter der Lampe im Flur auf die Uhr gesehen habe. Inspektor Dawson sprach meist um Mitternacht noch einmal in Scotland Yard vor, bevor er nach Hause ging, und ich wollte wissen, ob ich ihn noch erreichen würde. Zuweilen pflegte er vorher in einem der Lokale in Pall Mall zu speisen, und ich sah daher unterwegs auch dort überall nach.«

»Um welche Zeit?«

»Zwischen elf und elf Uhr fünfundzwanzig«, gab Meals prompt zurück.

»Haben Sie die Überwachung von Mrs. Irvine seitdem fortgesetzt?«

»Nein«, gestand der Sergeant unsicher. »Ich wußte nicht, ob es dabei bleiben sollte, und . . .«

»Es bleibt dabei«, unterbrach ihn die kalte Stimme. »Ich will über Mrs. Irvine bis auf weiteres täglich genaueste Mitteilungen haben.«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte der Detektiv eifrig. »Und wann soll ich immer zum Bericht erscheinen?«

»Wenn ich Sie rufen lasse«, erhielt er kurz zur Antwort, und das knappe »Danke«, das folgte, sagte ihm, daß er gehen konnte.

Meals war von dieser ersten Begegnung mit seinem neuen Vorgesetzten sehr enttäuscht, und sein sonst so freundliches Gesicht zeigte einen sehr mißmutigen Ausdruck.

Während seiner allerdings erst sehr kurzen Dienstzeit in Scotland Yard hatte er schon manchen unangenehmen Vorgesetzten kennengelernt, und auch Dawson war nicht gerade von der gemütlichsten Sorte gewesen, aber der Kommissar von Dover schien alle zu übertreffen.

Auf dem Heimweg, den er in tiefem Grübeln zurücklegte, kam Meals am »Klub der Siebenundsiebzig« vorüber. Er blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und sah nach den hellerleuchteten Fensterfronten.


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