Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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7

Muriel Irvine saß gerade bei ihrem Frühstück, von dem sie aber kaum etwas berührte, als ihr Raphael Summerfield gemeldet wurde.

Summerfield war ein großer, knochiger Mann mit einer mächtigen Adlernase, die etwas ins Rötliche spielte, und mit einem krausen Kopf, der im ersten Viertel jeden Monats tiefschwarz, im dritten blaugrün und im letzten Viertel in allen erdenklichen Farben schillerte. Der buschige, ebenfalls gekräuselte Schnurrbart unter der gebogenen Nase war dagegen immer von tadellosem Schwarz, da er sich mit Hilfe einer alten Zahnbürste viel leichter instand halten ließ als ein ganzer Haarwald. Die Haarpflege war eine der vielen kleinen Schwächen von Raphael Summerfield. Er war ein sehr gescheiter Anwalt, und er war mit dem, was er erreicht hatte, vollkommen zufrieden, obwohl seine Einkünfte äußerst bescheiden waren. Das kam daher, daß er drei gleich undankbare Sorten von Klienten hatte: Solche, die er sofort hinauswarf, solche, von denen er sich nicht bezahlen ließ, und solche, die ihm von selbst nichts zahlten.

Mrs. Irvine hatte es bei ihm durchgesetzt, in die Sonderklasse einer wirklich zahlenden Klientin eingereiht zu werden, aber sie war genötigt, die lächerlichen Honorarforderungen, die er ihr halbjährlich überreichte, durchschnittlich um fünfzig Prozent zu erhöhen.

Dadurch war allerdings zwischen ihr und Mr. Summerfield ein ziemlich schwieriger Rechtsstreit entstanden, indem sich der Anwalt auf die für Fulham geltenden Taxen berief, während Mrs. Irvine darauf beharrte, daß für sie als Geschäftsinhaberin in Westend unbedingt nur die für diesen Distrikt festgesetzten Gebühren in Betracht kommen könnten.

Der Streit war zur Zeit noch immer in der Schwebe und wurde von beiden Teilen mit großer Erbitterung geführt.

Der Anwalt blieb einen Augenblick an der Tür stehen, streckte mit der Rechten seinen vorsintflutlichen, aber tadellos gebügelten Zylinder, mit der Linken eine dicke Aktentasche weit von sich und neigte feierlich den Kopf.

»Ich habe mich um neuneinhalb Minuten verspätet, Mrs. Irvine«, entschuldigte er sich mit hohler Stimme, »aber die Verkehrsmittel von heute sind eben unberechenbar. Solange die Omnibusse noch von vernünftigen lebendigen Geschöpfen in Bewegung gesetzt wurden, waren sie weit rascher und zuverlässiger. Ich hatte mir seinerzeit eine Fahrzeittabelle nach allen Richtungen angelegt, daraus das arithmetische Mittel gezogen, und es kam damals in den allerseltensten Fällen vor, daß ich eine Verspätung von eineinhalb bis zwei Minuten zu verzeichnen hatte.«

»Grämen Sie sich nicht darüber, Mr. Summerfield«, tröstete ihn die junge Frau mit einem schalkhaften Lächeln, das man ihrem kühlen Gesicht gar nicht zugetraut hätte. »Die Hauptsache ist, daß ich Sie nicht verpaßt habe, denn hier plaudert es sich gemütlicher und ungestörter als im Kontor.«

Sie deutete einladend auf einen der Stühle am Frühstückstisch und klingelte.

»Sie werden eine Tasse Tee mit mir nehmen.«

»Eine Tasse Tee?« meinte er überlegend, während er den Zylinder umständlich zu Boden stellte. »Vielleicht. Ich habe zwar bereits um 6 Uhr 13 Minuten gefrühstückt und bin ein entschiedener Anhänger einer streng geregelten Lebensweise, aber bei der Unregelmäßigkeit, die nicht nur im Verkehr, sondern in unserem ganzen öffentlichen Leben eingerissen ist, läßt sich dieses Prinzip heute nicht mehr so unbedingt aufrechterhalten.«

Er ließ sich steif am Frühstückstisch nieder und sah zu, wie das Mädchen den goldgelben Tee eingoß. Dann begann er in der Tasse zu rühren, und seine etwas kurzsichtigen Augen irrten verlegen und erwartungsvoll in dem reizenden Raum umher. Muriel erinnerte sich plötzlich. Sie stand auf und brachte selbst eine kostbare alte Karaffe herbei und füllte mit deren Inhalt die Tasse des Anwalts.

Summerfields große Nase blähte sich zu einem wollüstigen Schnuppern, und über sein Gesicht glitt ein verzücktes Lächeln.

»Oh, irgendein Fruchtsaft«, lispelte er und begann heftig zu blinzeln.

»Ja, ein Fruchtsaft aus Jamaika«, erklärte die junge Frau.

Er kostete mit Behagen, und als ihm die schöne Frau die appetitlichen Brötchen zuschob, griff er verträumt und ganz mechanisch zu.

Mr. Summerfield hatte bereits die dritte Tasse Tee geleert, als er plötzlich aus seinen Träumen aufschreckte.

»Sie machen viel zuviel Geschichten mit mir, Mrs. Irvine. Komme ich zu Ihnen als Anwalt oder als Gast? Als Anwalt«, stellte er fest. »Und einem Anwalt hat man nicht einen herrlichen Tee mit einem köstlichen Fruchtsaft aus Jamaika vorzusetzen, sondern man hat ihm einfach zu sagen: Nehmen Sie Platz und legen Sie los!«

Er war mit einem Male ein ganz anderer, sachlich und bestimmt, und seine sonst so gespreizte Redeweise wurde kurz, klar und bündig.

»Hier, Mrs. Irvine«, sagte er, indem er seine große Hand auf ein dickes Aktenbündel legte, »ist unsere Gegenschrift. Ich habe sie nur mitgebracht, damit Sie wissen, wie so etwas beiläufig aussieht. – Lesen müssen Sie sie nicht, denn Sie würden sie ohnehin nicht verstehen«, fügte er beruhigend hinzu und schob die riesigen Manschetten, die aus den etwas zu kurzen Ärmeln geglitten waren, sorgfältig wieder zurück. »Zu solch einer gewundenen Logik gehört ein gewundenes Juristengehirn. Unsere Gerichte wollen nun einmal, daß selbst der einfachste und klarste Fall möglichst kompliziert wird, damit er nach etwas aussieht. Sonst hätte ich mich viel kürzer gefaßt.«

Er rückte seinen Rock zurecht und setzte sich in Positur, als ob er im Begriff stünde, vor den Schranken eines Gerichtshofes ein Plädoyer zu halten.

»Ich habe mich schon lange darauf gefreut, einmal meine Meinung über die Versicherungsgesellschaften öffentlich sagen zu können, und nun ist der Augenblick gekommen. Ich glaube, es wird diesen Herren nicht sehr angenehm klingen, und sie werden bedauern, mit uns angebändelt zu haben«, meinte er mit sichtlicher Befriedigung.

»Auf der einen Seite«, fuhr er fort, »die Versicherungsgesellschaften mit ihrem Riesenkapital und ihren stolzen Palästen – auf der anderen Seite der Bürger, der Beamte, der Angestellte, der gezwungen ist, sich und seine Angehörigen für eine Zeit sicherzustellen, da er nicht mehr imstande sein wird zu arbeiten. Unablässig, Tag und Nacht, werden ihm die Lockungen der Versicherungsgesellschaften in die Ohren gebrüllt, in die Augen geschleudert, und wenn er einen Agenten hinauswirft, stehen bereits zwei andere vor der Tür. Er wird umworben, bedrängt, gequält, bis sein Widerstand zusammenbricht und er unterschreibt. – Nun ist er glücklich versichert, und da lernt er seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft gründlich kennen. Er wird gemahnt, wenn er mit seinen Zahlungen säumig ist, er wird gepfändet, wenn er nicht zahlen kann. Die Gesellschaft pocht auf ihr verbrieftes Recht.«

Summerfield schnappte nach Luft, bevor er fortfuhr.

»Aber einmal kommt endlich die Stunde, da die Versicherungssumme fällig wird – und in dieser Stunde, hochehrenwerte Richter, ändert sich mit einem Male das bisherige Bild. Die Versicherungsgesellschaft hat nun, da ihre Pflichten beginnen, sehr viel Zeit. Und wenn dies, wie in unserem Falle, auch nur halbwegs möglich ist, beginnt sie zu prozessieren. Sie kann warten, sie kann prozessieren«, konstatierte er mit erhobener Stimme, »denn sie hat Geld. Der arme Versicherte aber oder seine Hinterbliebenen durchleben eine Zeit qualvollen Bangens.«

Der Anwalt schlug in höchster Erregung auf den Tisch, daß die Tassen sprangen, und rollte entrüstet mit den Augen.

»Ist das Moral, hochverehrte Richter«, brüllte er, »ist das gleiches Recht – und gibt es da einen Zweifel, welche Seite der schirmende Arm des Gesetzes schützen muß?«

Summerfield atmete tief auf, fing die flüchtig gewordenen Röllchen wieder ein und blickte Muriel stolz und erwartungsvoll an.

»Ich danke Ihnen, daß Sie sich meiner Sache so annehmen«, sagte sie, aber es klang etwas kühl, und auch während seines temperamentvollen Plädoyers war sie nicht sehr begeistert gewesen.

»Sie haben nichts zu danken«, wehrte er kurz ab. »Ich vertrete nur das Recht und meine innerste Überzeugung.«

Die schöne Frau hob langsam den Blick und ließ ihn mit einem gequälten Ausdruck des Zweifels auf dem Anwalt haften.

»Sie wissen, daß ich mich leider zu dieser Überzeugung nicht so ganz durchringen kann«, wandte sie leise ein, aber der energische Summerfield hatte dafür nur eine überlegene Handbewegung.

»Jawohl, ich weiß. Sie haben mir das schon einmal gesagt. Sie haben zwar seinerzeit die Effekten, die man Ihnen vorlegte, als Eigentum Ihres Mannes anerkannt, aber nachher sind in Ihnen allmählich Bedenken aufgestiegen, ob der Verunglückte wirklich Ihr Gatte war. – Was hat Sie auf diese seltsame Idee gebracht?« forschte er.

Diese direkte Frage versetzte Mrs. Irvine offensichtlich in Verlegenheit. Sie schwieg einen Augenblick und hob dann ratlos die Schultern.

»Ein gewisses Gefühl«, meinte sie unbestimmt.

»Ein gewisses Gefühl!« echote Summerfield geringschätzig. »Da haben wir's.« Er tippte mit dem gewaltigen Zeigefinger auf seine Akten und sah Muriel mißbilligend an. »Ein Gefühl ist kein Argument in einem Prozeß«, erklärte er entschieden.

»Hier handelt es sich um Beweis und Gegenbeweis. – Wir haben die Behauptung aufgestellt, daß Mr. Richard Irvine verunglückt ist, und wir haben hierfür den Beweis erbracht, soweit dies unter den besonderen Umständen eben möglich war. Natürlich kann man einen Mann, der unter die Räder eines Zuges geraten ist, den Herren Direktoren der Versicherungsgesellschaft nicht als wohlerhaltene Leiche auf den Schreibtisch legen. Wir haben ihnen aber zumindest den Wahrscheinlichkeitsbeweis geliefert, daß der Mann tot ist – und wenn sie nicht wenigstens gleich gewichtige Wahrscheinlichkeitsbeweise dafür erbringen, daß er am Leben ist, müssen sie bezahlen. Verstehen Sie, Mrs. Irvine?«

»Ich verstehe«, sagte sie und nickte nachdrücklich. »Und ich bin unausgesetzt bemüht, neue Beweise zu sammeln – ob sie nun für mich oder für die anderen von Nutzen sein mögen.«

Der Anwalt starrte sie aus großen Augen an.

»Machen Sie keine Dummheiten«, grollte er ärgerlich. »Erstens ist das überflüssig, und zweitens verstehen Sie nichts davon. – Oder haben Sie vielleicht jemanden, der Ihnen bei dieser Sache an die Hand geht?« forschte er mißtrauisch. »Dann sagen Sie mir's ruhig, und ich trete ihm den ganzen Prozeß ab. Ich habe keine Lust, mir den Karren in den Dreck fahren zu lassen. Daß Sie nicht so ganz aufrichtig zu mir sind, weiß ich ja schon längst. Solange es sich hierbei um Ihre Vermögensverhältnisse handelt, die mir nicht recht klar sind, habe ich nichts gesagt, denn die gehen mich nichts an. Meinetwegen lassen Sie sich übers Ohr hauen, von wem und wie Sie wollen«, bemerkte er bissig, »aber wenn Sie mir mit Ihren Nachforschungen« – die Art, wie er das Wort betonte, verriet, wieviel er davon hielt – »in meinen schönen Prozeß hineinpfuschen, dann mache ich Schluß. Jawohl.«

Er richtete sich kerzengerade auf und begann mit gereiztem Gesicht seine Akten zusammenzuraffen, ohne die junge Frau eines weiteren Blickes zu würdigen.

Mrs. Irvine verharrte wortlos mit der verlegenen und schuldbewußten Miene eines gescholtenen Schulmädchens und schien einen schweren Kampf zu bestehen. Sie schätzte den originellen Summerfield, sie wußte, daß sie an ihm nicht nur einen vortrefflichen Anwalt, sondern auch einen aufrichtigen Freund hatte, und eine Stimme in ihr drängte sie, sich ihm in diesem günstigen Augenblick rückhaltlos anzuvertrauen. Aber die Furcht vor seinen gescheiten Augen, die sie bereits in starrer Bestürzung auf sich ruhen fühlte, verschloß ihr die Lippen.

Der Anwalt war über ihr Schweigen nicht gekränkt, denn er war ein guter Menschenkenner und wußte, daß er seine Klientin, für die er in seinem einsamen Herzen sehr viel übrig hatte, erst mit sich selbst fertig werden lassen mußte.

Er griff nach Zylinder und Mappe, um sich zu verabschieden.

»Der Umstand, daß Sie mir die Ehre erwiesen haben, mich an Ihrem köstlichen Frühstück teilnehmen zu lassen«, begann er mit Würde, indem er einen Blick auf seine eiförmige silberne Taschenuhr warf, »sowie die Wichtigkeit und Kompliziertheit der Prozeßmaterie haben es mit sich gebracht, daß ich Sie um ungefähr zwölf Minuten länger in Anspruch genommen habe, als ich ursprünglich vorhatte. Wollen Sie dies entschuldigen.«

Er verbeugte sich steif, aber auf einmal stand Muriel vor ihm und streckte ihm mit einem warmen, bittenden Blick in den dunklen Augen die Hand entgegen.

»Wenn Sie mich dringend brauchen sollten, so rufen Sie mich«, sagte er nachdrücklich und schüttelte Mrs. Irvines Rechte sehr kräftig. »Trotz der Unberechenbarkeit unserer heutigen Verkehrsmittel glaube ich, Ihnen doch innerhalb sechsundfünfzig Minuten jederzeit zur Verfügung stehen zu können.«


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