Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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36

Lucy Rowe war eine robuste und zähe Natur, und das bequeme Leben, das sie seit mehr als einem Jahr in Skidemore-Castle führte, hatte ihrer Widerstandsfähigkeit und ihren Kräften nichts anzuhaben vermocht.

Seitdem sie in ihren Zimmern als unfreiwillige Gefangene lebte, hatte sie doch ihre Kräfte auch unausgesetzt betätigt und zunächst einmal so ziemlich alle Einrichtungsgegenstände kaputt geschlagen. Dann war immer die kräftige Betty gekommen, um sie zu beruhigen, und es begann regelmäßig eine Balgerei, bei der es unter einem Schwall von nicht wiederzugebenden Schmeichelworten stets sehr heiß herging. Und wenn auch Lucy schließlich immer klein beigeben mußte, so hielt sie das doch nicht ab, am nächsten Tag einen neuen Streit zu beginnen, denn sie war nicht gesonnen, sich endgültig kleinkriegen zu lassen.

In den Pausen zwischen diesen Scharmützeln beschäftigte sich die blonde Frau ununterbrochen damit, einen Weg und eine Gelegenheit zur Flucht zu finden. Aber die einzige Tür, die aus ihren Zimmern führte, war an drei Zoll dick und hatte ein massives Schloß, und vor den Fenstern befanden sich starke Eisengitter, mit denen nichts anzufangen war.

Da es also mit Gewalt nicht ging, verlegte sich die unternehmende Lucy auf die Geschicklichkeit und begann zunächst einmal das Schloß in Arbeit zu nehmen. Sie bohrte mit allen möglichen Nägeln, Nadeln und sonstigen Dingen in dem Schlüsselloch herum und ließ sich nicht entmutigen, als ihre Bemühungen zunächst völlig erfolglos blieben. Schließlich stöberte sie alle Kästen und Laden durch, um ein anderes brauchbares Werkzeug zu finden, und stieß dabei auf einen Schlüsselbund. Sofort probierte sie mit fieberhaftem Eifer die Schlüssel aus. Unter den drei letzten fand sie endlich einen, der den Riegel zu greifen schien, und sie ließ sich die Mühe nicht verdrießen, wenigstens eine halbe Stunde behutsam zu drehen und dabei zu überlegen, wie sie da mithelfen könnte. Endlich kam sie auf den Gedanken, dem zweiteiligen Bart mit ihren Nagelfeilen zu Leibe zu rücken. Erhitzt und erregt schob sie den Schlüssel ins Schloß, und sie hatte Mühe, einen Triumphschrei zu unterdrücken, als sie merkte, daß er faßte und daß der schwere Riegel zurückwich. Minutenlang stand sie zitternd still, bevor sie es wagte, die Klinke niederzudrücken und die Tür ein wenig zu öffnen.

Mit dem Erfolg ihrer Bemühungen war über Lucy eine entschlossene Ruhe gekommen. Sie versperrte wiederum die Tür und begann, alle Vorbereitungen für ihre Flucht zu treffen. Man hatte ihr bereits vor einer Stunde ihr Abendbrot gebracht, und sie durfte daher damit rechnen, nun nicht mehr gestört zu werden. Sie suchte alles zusammen, was sie an kostbarem Schmuck und Geldeswert besaß, und legte sich dann auf die Lauer, um den Augenblick für ihre Flucht abzupassen. Sie hatte das Licht in dem ersten Zimmer immer abgedreht, nur aus ihrem Schlafzimmer drang ein gedämpfter Schein herüber.

Plötzlich glaubte sie mit ihren geschärften Sinnen von der Treppe her ein leises Geräusch zu vernehmen, das sich nach kurzen Zwischenräumen wiederholte. Sie wußte sofort, daß das Schritte waren, die sich vorsichtig über die knarrenden Stufen herauftasteten. Es konnte der schurkische Strongbridge sein, der da heraufgeschlichen kam, oder das widerwärtige Frauenzimmer, oder der Pförtner, dessen höhnisch grinsende Fratze sie immer in maßlose Wut versetzte.

Lucy überlegte blitzschnell, was sie tun solle. Die Vernunft riet ihr, sich ruhig zu verhalten und abzuwarten, bis die Luft wieder rein war, die Rachsucht in ihr aber drängte sie, diese günstige Gelegenheit zu einer gründlichen Abrechnung nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Es war ganz gleich, welcher von ihren Peinigern da draußen herumschlich, jeder von ihnen hatte eine gehörige Lektion verdient.

Der Rachedurst siegte über die Vernunft. Blitzschnell zog sie aus einem Versteck neben dem Kamin ein abgebrochenes Tischbein hervor, öffnete geräuschlos die Tür, schlüpfte hinaus und drückte sich mit gespannten Muskeln an die Wand des stockdunklen Flurs.

*

Hubbard war froh, als er die knarrende Treppe hinter sich hatte, und blieb einen Augenblick stehen, um zu lauschen und sich zurechtzufinden.

Unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, tastete er sich nach der gegenüberliegenden Wand, aber kaum hatte er einige Schritte getan, als ihn seine Sinne vor einer nahen Gefahr warnten. Er fühlte, daß unweit von ihm ein lebendes Wesen atmete, und das erregte leise Fauchen, das aus seiner Handtasche drang, bestätigte ihm, daß er sich nicht irrte.

Er wich auf seinen lautlosen Gummisohlen rasch aus, und schon in der nächsten Sekunde schnellte sich jemand dicht an ihm vorbei. Gleichzeitig vernahm er einen wuchtigen Schlag, der die Mauer getroffen zu haben schien; und gleich darauf polterte ein schwerer Gegenstand zu Boden.

Hubbard stürzte mit ausgebreiteten Armen in die Dunkelheit, und als er einen Körper fühlte, griff er hastig zu.

Die Gestalt wehrte sich unter seiner Umarmung mit allen Kräften, aber außer einem wütenden Knirschen kam kein Laut von ihren Lippen. Plötzlich fühlte Hubbard einen stechenden Schmerz in seinem Arm, doch ließ er nicht los, sondern schleifte den geschmeidigen Körper rasch den Gang entlang, als er plötzlich einen dünnen Lichtspalt gewahrte. Kurz entschlossen stieß er gegen die Tür, zog seinen Gefangenen, der sich in seinen Arm verbissen hatte, in den halbdunklen Raum und schleuderte ihn dort mit einem kräftigen Ruck von sich.

In der nächsten Sekunde suchte seine Taschenlampe nach dem Lichtschalter, und als dieser einschnappte, lehnte sich Hubbard gegen die Tür und erwartete mit dem Browning in der Hand die Dinge, die da kommen würden.

Lucy lag einige Augenblicke strampelnd auf dem Rücken, dann schnellte sie elastisch auf, kam aber nicht ganz auf die Füße. Ihre Überraschung war zu groß. Als sie ihr Gegenüber erblickt hatte, blieb sie sprachlos sitzen. Das war weder Strongbridge noch jemand von seinem Gesindel, sondern ein völlig fremder Mann, der sehr gut aussah. Er konnte zwar auch ein Gauner sein, aber wenn er nicht zur Bande Strongbridges gehörte, machte ihr das weiter nichts aus. Jedenfalls war ihre Furcht vor ihm nicht so groß, daß sie nicht vor allem daran gedacht hätte, ihre etwas derangierte Toilette mit einigen hastigen Griffen in Ordnung zu bringen, worauf sie sofort mit dem Verhör begann.

»Was suchen Sie hier?«

»Sie, Miss Rowe«, gab Hubbard höflich zurück, aber Lucys Blick verlor nichts von seinem Mißtrauen, denn sie erinnerte sich nicht, diesem Mann je begegnet zu sein.

Sie stand auf und zog sich vorsichtig gegen die Tür zu ihrem Schlafzimmer zurück.

»Da hätten Sie sich schon eine etwas schicklichere Zeit aussuchen können«, sagte sie spitz. »Wenn Sie eins über den Kopf bekommen hätten, wäre das nur Ihre Schuld gewesen. Und wenn Sie vielleicht etwas im Schilde führen sollten«, fügte sie nachdrücklich hinzu, ohne ihn aus den Augen zu lassen, »so kann Ihnen das noch immer passieren.«

»Sie verkennen mich, Miss Rowe«, beruhigte sie der Sekretär. »Ich habe zwar nicht die Ehre, von Ihnen gekannt zu werden, aber wir haben einige gemeinsame Freunde. Der ›lange Lord‹ . . .« Er hielt inne, aber die blonde Frau machte rasch zwei Schritte auf ihn zu, und in ihren Augen leuchtete es auf. Der »lange Lord« war eine der wenigen wirklich gefährlichen Schwächen, die sie in ihrem Leben gehabt hatte. Kam der Mann etwa mit einer Botschaft von ihm? Sie fuhr sich mit zwei Fingern der Rechten glättend über die Brauen, und als der Fremde mit Daumen und Zeigefinger leicht über die Nasenflügel strich, wurde sie überaus lebendig.

»Kommen Sie herein«, flüsterte sie ihm hastig zu und deutete nach ihrem Schlafzimmer. »Die Bande hat mich hier eingesperrt, und es ist möglich, daß jemand spionieren kommt. – Wissen Sie etwas von ihm?«

»Jawohl, Miss Rowe«, sagte der Besucher. »Er führt sich ausgezeichnet, und ich kann Ihnen mitteilen, daß er in sechs Wochen entlassen werden wird.«

Die Botschaft war für Lucy so überraschend, daß sie sie nicht zu glauben vermochte. Sie hatte fast täglich an den ›langen Lord‹ gedacht und immer wieder mit stillem Kummer berechnet, daß sie mindestens noch ein Jahr auf ihn würde warten müssen.

»Halten Sie mich wirklich nicht zum besten?« fragte sie erregt. »Das wäre nicht schön von Ihnen.«

»Sie dürfen mir glauben«, versicherte ihr Hubbard, und in dem ehrlichen Ton seiner Stimme lag etwas, was ihre letzten Zweifel verscheuchte.

»Und Sie sind eigens hierhergekommen, um mir das zu sagen?« meinte sie dankbar.

Er schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf.

»Nein, Miss Lucy, so selbstlos bin ich nun gerade nicht. Ich habe Ihnen diese für Sie so erfreuliche Nachricht überbracht, um einen Gegendienst von Ihnen zu erbitten. – Außer Ihnen weilt seit gestern abend noch eine Frau in Skidemore-Castle. Würden Sie mir sagen, wo ich sie finden könnte?«

»Jedenfalls wird sie ganz gut aufgehoben sein«, sagte sie höhnisch. »Solange der Kerl liebestoll ist, läßt er es einem ja an nichts fehlen. Aber das dauert nicht lange. Sie wird schon auch noch ihre Erfahrungen mit dem Schuft machen.«

»Sie sind in einem Irrtum befangen«, sagte der Besucher ruhig. »Es handelt sich da nicht um eine Liebesgeschichte, sondern um ein Verbrechen. Man hat die Frau unter irgendwelchen Vorspiegelungen hierhergelockt und dann wahrscheinlich hier festgehalten. Um das festzustellen, bin ich gekommen, und dazu möchte ich mir Ihre Unterstützung erbitten.«

Nun war Lucy plötzlich ganz bei der Sache. Einer Rivalin hätte sie alles mögliche gegönnt, aber da es sich um eine Niederträchtigkeit gegen eine Frau handelte, erwachte in ihr das weibliche Solidaritätsgefühl.

»Sehen Sie im Turmzimmer nach«, flüsterte sie endlich geheimnisvoll. »Die letzte Tür an der rechten Seite. Irgend etwas werden Sie vielleicht dort finden. Hier oben ist niemand, und ich werde mich an die Treppe stellen und aufpassen, damit Sie nicht überrascht werden. – Aber es fragt sich«, fügte sie zweifelnd hinzu, »ob Sie hineinkommen. Es sind drei Schlösser da.«

»Ich werde Ihre Liebenswürdigkeit gewiß nicht zu lange in Anspruch nehmen«, sagte Hubbard lächelnd.

Auf dem Korridor nahm er den Lederbeutel auf, den er vor dem Ringkampf rasch beiseite gestellt hatte, und schritt beim Schein der Taschenlampe direkt auf die letzte Tür zu.

Sie vernahm sekundenlang ein ganz leises Klirren, dann war es still, und sie lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit.

Hubbard sah sich erst einige Augenblicke in dem weiten Raum um, dann öffnete er die Tasche, und der kleine Jim turnte mit einem Satz auf seine Schulter und blinzelte in das Licht. Als er sich daran gewöhnt hatte, gewahrte er vergnügt die verschiedenen Dinge, die es da zu untersuchen gab, und er machte sich mit einem eleganten Schwung auf eine selbständige Entdeckungsreise.

Mittlerweile schritt sein Herr von Gegenstand zu Gegenstand, und selbst die unscheinbarsten Kleinigkeiten schienen sein Interesse zu finden.

Als er endlich in einem Winkel auf die Puppe stieß, betrachtete er das seltsame Ding eine Weile sehr nachdenklich, dann stieß er einen leisen Pfiff aus, der Jim sofort wieder auf seine Schulter springen ließ. Aber so war es anscheinend gar nicht gemeint gewesen, wie der kleine Affe zu seiner größten Verwunderung feststellen mußte. Sein Herr kümmerte sich nämlich nicht um ihn, sondern besah und befühlte das seltsame Gestell von allen Seiten und betastete mit einem eisigen Lächeln die zahlreichen Einkerbungen, die an der linken Brustseite kreuz und quer liefen. Jim fand das sehr langweilig und begab sich wieder auf Wanderschaft, während sein Herr einer Schminkkassette, einer Schachtel mit Bärten und Perücken und den verschiedenen Kleidungsstücken an den Ständern besondere Aufmerksamkeit schenkte. Aber so interessant alle diese Dinge auch waren und soviel sie ihm auch sagten, empfand Hubbard doch eine arge Enttäuschung, als er bemerkte, daß das saalartige Gelaß keinen Zugang zu einem Nebenraum aufwies. Wie sollte er nun in der kurzen Zeit Muriel Irvine in dem riesigen Bau suchen?

Mehr mechanisch und gewohnheitsmäßig als mit sonderlichen Erwartungen begann er schließlich die hohe Holzbekleidung an der Turmseite zu untersuchen und abzuklopfen.

Das war eine Sache, die den kleinen Affen aufhorchen ließ, und da ihm das leise Trommeln gefiel, mußte er dabei sein. Er turnte geschäftig die Holzwand hinauf und hinunter und machte es dann mit seinen winzigen Fingerchen seinem Herrn nach, wobei er lauschend die Ohren spitzte.

Aber plötzlich stutzte er, denn dort, wo er eben geklopft hatte, war irgend etwas Besonderes. Jim hatte eine unendlich feine Witterung für alle Verstecke, denn in solchen Verstecken fanden sich gewöhnlich die köstlichsten Dinge. Er preßte zunächst noch einmal sein Näschen dicht an das Holz, um fauchend die Luft einzuziehen, und begann dann mit seinen Nägeln eifrig und gespannt zu kratzen.

Hubbard kannte die Eigenheiten seines kleinen Freundes sehr genau und war sofort an seiner Seite, um ihm die Arbeit abzunehmen. Nun, da er wußte, wo er zu suchen hatte, gab es für ihn keine besonderen Schwierigkeiten mehr, denn er war mit derartigen Spielereien vertraut, und wenige Minuten später lag die gepolsterte Tür bloß.

In fieberhafter Eile machte er sich mit seinen winzigen Instrumenten an dem Schloß zu schaffen, aber schon, als er die Tür mit einem Ruck öffnete und ihm aus den Turmluken die kalte Nachtluft entgegenstrich, wußte er, daß ihn auch diese Entdeckung nicht ans Ziel gebracht hatte.

Er sah sich nur flüchtig in dem Raum um und ahnte, daß dieser Strongbridge als sicherer Zufluchtsort dienen sollte. Aber er war nicht gesonnen, den Mann in dieses Loch schlüpfen zu lassen, und es kam ihm ein Einfall, der auf den Herrn von Skidemore-Castle wie ein Donnerschlag wirken mußte.

Er schloß das Turmgemach sorgfältig ab, schob die Wandverkleidung wieder zu und stellte dann zunächst die Puppe genau der Tür gegenüber auf. Dann schrieb er eilig zwei Zettel und heftete den einen an die Puppe, den andern an die Wand vor der verdeckten Tür.

Die Zettel enthielten nichts als in großer, deutlicher Schrift das Datum des übernächsten Tages und die Zeitangabe:

»11 Uhr 40 Minuten.«

Als Hubbard zu der erwartungsvollen Lucy zurückkehrte, zog sie ihn nochmals in ihr Zimmer, und hinter verschlossener Tür hielten sie neuerlich Kriegsrat. Es kam jetzt nur noch der andere Flügel in Betracht, der aber, soviel Lucy sich erinnerte, nicht einmal möbliert war. Von irgendwelchen sonstigen Räumen wußte sie nichts, und Hubbard mußte daher seine Suche aufs Geratewohl fortsetzen.

Plötzlich fiel ihm Jim ein, der seine Findigkeit eben wieder einmal so überraschend bewiesen hatte. Mit dem klugen Äffchen mußte er einen neuen Versuch machen.

Während Lucy bereitwilligst wieder die Wache bezog, nahm er aus seiner Brusttasche ein sorgfältig in Papier eingeschlagenes Taschentuch und hielt es dem aufmerksam blinzelnden Jim unter die Nase. Dieser schnupperte begierig und seine verständigen Augen funkelten, denn er ahnte, daß es nun eine neue Unterhaltung geben würde.

Mit einem gewaltigen Satz schoß Jim unternehmungslustig in die Dunkelheit.

Hubbard schritt den Gang langsam wieder hinab und ließ diesmal vorsichtig seine Lampe spielen. Aber er konnte nirgends etwas Auffälliges entdecken, und wie überall in dem unheimlichen Bau herrschte auch hier Totenstille. Nicht einmal Jim, der irgendwo vor ihm sein mußte, war zu hören, und Hubbard fand dies immer auffälliger, da er sich allmählich der Mauer näherte, die den Flügel abschloß.

Aber plötzlich klang ein leises Klappern an sein Ohr, und als er das Licht suchend vorangleiten ließ, gewahrte er an der letzten Tür ein dunkles Etwas, das mit lebhaften Bewegungen auf- und niederschaukelte.

Mit einigen lautlosen Sätzen stand er bei dem eifrigen Jim, der die Hinterbeine fest an die Tür gestemmt hatte und bemüht war, mit seinen Händchen die Klinke niederzudrücken. So etwas mußte ja ein intelligenter Affe unbedingt können, wenn er von einem Zimmer in das andere gelangen wollte, und Jim hatte das auch schon lange weg, aber bei dieser Tür ging das seltsamerweise nicht so leicht. Und doch mußte er sie aufbringen, denn er war überzeugt, daß sein Herr hier das Ding versteckt hatte, das er bringen sollte, denn sein Näschen trog ihn nie.

Er wurde auf die dumme Tür immer wütender, und während er immer grimmiger an der Klinke rüttelte, ließ er ein böses Fauchen hören, und er fauchte sogar noch, als ihn sein Herr zärtlich am Nacken faßte und auf die Schulter setzte.

Der Sekretär klopfte leise an, aber er mußte es dreimal wiederholen, bevor er drinnen eine angstvolle Stimme vernahm, bei deren Klang er am liebsten aufgejubelt hätte.

»Wer ist da?«

»Ich, Hubbard«, flüsterte er hastig und eindringlich, indem er den Mund dicht an die Tür brachte. »Bitte, öffnen Sie. Ich muß Sie sprechen.«

Mrs. Irvine bedurfte sehr langer Zeit, um sich schlüssig zu werden, was sie tun solle. Daß es gerade Hubbard war, der draußen stand, ließ sie zögern, denn mit ihm war eine der empfindlichsten Enttäuschungen verbunden, die sie je erlebt hatte.

Trotzdem drehte sie schließlich den Schlüssel im Schloß, und gleich darauf glitt eine dunkle Gestalt ins Zimmer, die sie mit einem seltsam bangen und forschenden Blick umfaßte.

»Ist Ihnen nichts Schlimmes geschehen?« war seine erste hastige Frage, und als sie ihn etwas verständnislos ansah, ging eine leichte Röte über sein Gesicht, und er atmete tief auf.

Die junge Frau war aber nicht so sehr über seine Frage erstaunt, wie über seine ganze Erscheinung, denn der Mann in dem enganliegenden schwarzen Anzug aus Trikotstoff ähnelte so gar nicht dem eleganten Hubbard, den sie zu sehen gewohnt war, und der kleine Affe auf seiner Schulter vervollständigte den ungewöhnlichen Anblick.

Jim verschwand allerdings sehr rasch, denn kaum hatte er sich wieder an das Licht gewöhnt, als er auch schon Dinge entdeckte, die ihm das Wasser im Mäulchen zusammenlaufen ließen.

Muriel und Hubbard standen einander Aug in Aug gegenüber, und er konnte in ihrem blassen, leidvollen Gesicht lesen, welche Qualen sie in den letzten vierundzwanzig Stunden durchlebt hatte.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie plötzlich hart und kurz, und ihre Stimme hatte einen rauhen, feindlichen Klang. »Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mich unablässig verfolgen und daß Sie mir keine Ruhe gönnen?«

Er sah sie aus großen Augen erstaunt an.

»Ich weiß nicht, was Sie veranlaßt, so von mir zu denken. – Ich bin gekommen, um Sie aus einer Gefahr zu befreien, der Sie sich allerdings gar nicht bewußt zu sein scheinen. – Es war sehr unvorsichtig von Ihnen, Mrs. Irvine, sich in diese Falle locken zu lassen, aber Gott sei Dank ist noch nichts geschehen.«

Er sprach sehr herzlich und besorgt, aber ihr Mißtrauen ließ sie hierfür nur ein verächtliches Lächeln finden.

Die Komödie, die er spielte, empörte sie, und sie war entschlossen, ihr ein Ende zu bereiten.

»Wenn Sie mir nichts anderes zu sagen haben, hätten Sie sich die Mühe dieses seltsamen nächtlichen Besuches ersparen können«, sagte sie frostig. »Ich bin mir selbst genug, um für mich zu sorgen. Wenn es sich für Sie aber um die Bestellung an Mr. Corner gehandelt haben sollte, so habe ich mir diesen Entschluß sehr wohl überlegt, und er ist unabänderlich.«

Hubbard lächelte sie höchst vergnügt an.

»Das tut mir leid, Mrs. Irvine, denn ich habe den Mann bereits vor die Tür gesetzt.«

»Wie kamen Sie dazu?« fuhr sie empört auf.

»Ihr Anwalt hat mich dazu veranlaßt«, erklärte er. »Ich hielt nämlich die Sache für so wichtig, daß ich Mr. Summerfield zu Rate zog, und er fand gleich mir, daß Mr. Corner nicht die geeignete Persönlichkeit für eine derartige Vertrauensstellung sei.«

Muriel hob den Kopf und sah den Sekretär an.

»Das zu entscheiden ist allein meine Sache«, bemerkte sie, aber ihre Stimme klang nicht mehr so scharf wie früher, denn es war ihr äußerst peinlich, daß Summerfield eingegriffen hatte.

»Übrigens«, fuhr sie nachdrücklich fort, »halte ich Corner jedenfalls für vertrauenswürdiger, als Sie mir scheinen.«

Deutlicher konnte sie nicht mehr werden, aber Hubbard nahm die Bemerkung mit dem größten Gleichmut hin.

»Wenn Sie wüßten, welch ein durchtriebener Gauner dieser Corner ist, würden Sie verstehen, daß ich Ihr Urteil sehr wenig schmeichelhaft finde. Und ich zerbreche mir vergeblich den Kopf, was Sie zu Ihrer schlechten Meinung über mich veranlaßt hat.«

»Dieser Mühe will ich Sie entheben. Ich habe den Brief in Händen gehabt, dem ich die« – sie zögerte einige Sekunden, bevor sie das Wort aussprach – »Hausdurchsuchung zu verdanken hatte, und bin mir nun vollkommen im klaren, wer ihn geschrieben hat.«

Sie spielte ihren Trumpf mit großem Nachdruck aus, aber der Sekretär schien ihr nur mit halbem Ohr zuzuhören. Seine Augen hafteten auf irgendeinem Punkt hinter ihrem Rücken, und als sie sich umwandte, gewahrte sie den kleinen Affen, der mitten auf dem gedeckten Tisch saß und eben dabei war, das eine Händchen vorsichtig in die Zuckerdose zu versenken und mit dem andern nach einem Biskuit zu greifen.

»Pfui, Jim, schäme dich.«

Jim fuhr bei der Stimme seines Herrn entsetzt herum und ergriff eiligst die Flucht.

Muriel war nicht gesonnen, Hubbard durch dieses Zwischenspiel über ihre Anschuldigung hinweggehen zu lassen.

»Haben Sie mich verstanden? Es würde mich interessieren, was Sie darauf zu sagen haben?«

»Daß Strongbridge bei all seiner Schlauheit die unglaublichsten Dummheiten macht und daß man nicht nach dem Schein urteilen soll, Mrs. Irvine«, sagte er leichthin und lächelte sie dabei so offen und unbefangen an, daß sie den letzten Rest ihrer Sicherheit verlor. »Ich will Ihnen dafür ein Beispiel anführen: Sie haben mir gestern einen Brief geschickt, der ein so tückisches Gift enthielt, daß ich in wenigen Augenblicken erledigt gewesen wäre, wenn ich das Blatt auch nur flüchtig mit dem Finger berührt hätte. – Trotzdem ist es mir nicht einen Augenblick eingefallen, Sie zu verdächtigen, daß Sie mir nach dem Leben getrachtet hätten.«

Sie war totenblaß geworden, und ihre Augen hingen mit einem Ausdruck verständnislosen Entsetzens an ihm. Dann begann es in ihrem Gesicht plötzlich zu zucken, und sie suchte mit verstörten Augen nach einem Halt. Er sprang ihr hilfreich bei und geleitete sie fürsorglich zu dem Sofa.

»Es tut mir leid«, sagte er, »daß Sie dies so aufgeregt hat, denn ich wünsche Sie in dieser Stunde ruhig und gefaßt zu sehen, weil der Augenblick gekommen ist, da ich Ihnen eine Geschichte erzählen möchte. – Die Geschichte der weißen Spinne.«

Sie hob schnell den Kopf, und in ihrem unruhigen Blick lagen Überraschung und Furcht.

»Ich werde mich so kurz und schonend wie möglich fassen, Mrs. Irvine«, begann Hubbard, »und so schmerzlich Ihnen vielleicht auch manches sein dürfte, so hoffe ich doch, daß Ihnen meine Mitteilungen endlich die Befreiung von jener bedrückenden Last bringen werden, an der Sie so lange und so schwer getragen haben. – Also, um wie im Märchen zu beginnen, wenn es auch leider keines ist: Es war einmal ein reicher Mann, der von Jugend auf der Spielleidenschaft verfallen war. Auch die Ehe vermochte ihn von dieser Besessenheit nicht zu heilen, und nach seinem eigenen Vermögen floß das seiner Frau in die unergründlichen Taschen eines Ausbeuterkonsortiums, das sich aus Strongbridge, Corner und Phelips zusammensetzte. Eines Abends hatte der halb irre Mann sein letztes Pfund verloren und warf als Einsatz ein Bild auf den Tisch das Bild seiner Frau. Strongbridge nahm die Fotografie auf, und sie gefiel ihm. – Das war der eine Grund, weshalb man den ausgeplünderten Mann nicht einfach wie eine ausgepreßte Zitrone wegwarf. Der zweite Grund war der, daß er auf eine ziemlich bedeutende Summe versichert war, die man auch noch ergattern konnte, wenn man es geschickt anfing. Zu diesem Zweck mußte der Mann allerdings ums Leben kommen, damit die Auszahlung der Versicherungssumme an seine Witwe erfolgte – er mußte aber doch am Leben bleiben, damit man die Frau in der Hand behielt und von ihr den Betrag wieder erpressen konnte. So wurde der Unfall auf der Untergrundbahnstrecke in Hampstead in Szene gesetzt, bei dem ein Fremder daran glauben mußte. Die Frau aber wurde durch die weißen Spinnen ständig in quälenden Zweifeln gehalten. Der nicht vorhergesehene Umstand, daß die Versicherungsgesellschaft die Auszahlung der Versicherungssumme verweigerte, zog das Spiel in die Länge und machte es notwendig, die Frau bei dem Prozeß finanziell zu unterstützen. Strongbridge sprang mit einem Darlehen ein, in der stillen Hoffnung, dadurch auch seinem anderen Ziele eher näher zu kommen, aber die Tatkraft der Frau machte ihm einen Strich durch diese Rechnung. Und schließlich wurde dadurch, daß er die weiße Spinne auch noch anderen Zwecken dienstbar machen wollte, sein Erfolg im ersten Falle völlig gefährdet. Er mußte rasch handeln, wenn er wenigstens die Frau in seinen Besitz bringen wollte – und deshalb, Mrs. Irvine, hat er Sie hierhergebracht. Ich weiß ganz genau, durch welche Mittel er dies erreichte, und ich weiß auch, warum er seine entscheidende Karte schon jetzt ausspielte. Aber das wird erst das letzte Kapitel in der Geschichte der weißen Spinne sein, und soweit sind wir noch nicht. – Sie wissen aber nun, Mrs. Muriel, weshalb ich gekommen bin, kommen mußte.«

Sie saß regungslos wie eine Statue, und aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen. Erst als sich Hubbard besorgt vorbeugte, schlug sie plötzlich die Hände vors Gesicht und warf sich mit einem wilden Aufschluchzen in die Kissen.

Hubbard beugte sich über die weinende Frau und strich ihr beruhigend über das herrliche Haar. »Muriel . . . liebste Muriel . . .«

Er wußte selbst nicht, was er sagte, und sie verstand ihn nicht und ließ alles ruhig geschehen, aber das krampfhafte Schluchzen, das ihren Körper erschütterte, wollte nicht verstummen.

Diese seltsamen, ergreifenden Laute waren für Jim etwas ganz Neues. Er begnügte sich vorläufig damit, neugierig unter der Tischdecke hervorzublinzeln, und als er sah, daß die Hand seines Herrn mit dem Streicheln des dunklen Kopfes beschäftigt war, turnte er frech und unbefangen heran. Erst vorsichtig auf eine Ecke, als aber nichts Schlimmes geschah, immer näher, bis auch er mit seinem Händchen über das glänzende feine Haar fahren konnte, was ein besonderes Vergnügen sein mußte, weil sein Herr damit gar nicht aufhören wollte. Es war auch wirklich ein sehr angenehmes Spiel, wie Jim mit Befriedigung feststellte, denn das Haar war so seidig weich, und es knisterte so sonderbar, daß es ihm in den Fingern kribbelte.

Plötzlich aber durchfuhr ihn ein arger Schreck, denn er fühlte sich stürmisch umfaßt, und er wollte schon entsetzt Reißaus nehmen, als er im letzten Augenblick entdeckte, daß dies eigentlich sehr behaglich war. Es lag sich so gut in den Armen, die ihn sanft umfangen hielten, und die Hände, die ihm über das Köpfchen strichen, waren so ganz anders, als die Hände Andrés und sogar als jene seines Herrn und verstanden das Kosen weit besser.

»Mrs. Irvine«, sagte Hubbard jetzt etwas verlegen, indem er auf die Uhr sah, »es wird Zeit, daß Sie sich fertigmachen. In fünf Minuten hole ich Sie ab. Und Sie müssen mir gestatten, Sie in London irgendwo unterzubringen, wo Sie völlig sicher sind.«

*

Eine Viertelstunde später huschten über den dunklen Hof von Skidemore-Castle drei flüchtige Schatten, während Hubbard, dicht an den Torbogen gelehnt, den Rückzug deckte. Erst als die Frauen in Sicherheit waren, nahm auch er den Weg zur Parkmauer und konnte gerade noch gewahren, wie Jessie als erste mit fliegenden Röcken flink darüber hinwegsetzte. Dann tauchte oben das strahlende Gesicht des Gärtnerburschen auf, und mit seiner Beihilfe wurden Mrs. Irvine und Lucy hinüberbefördert.

Etwa eine halbe Meile weiter stand in einem kleinen Hohlweg ein großer geschlossener Kraftwagen mit gelöschten Lichtern, und ein untersetzter Mann öffnete hastig den Schlag. Dann schwang sich Hubbard ans Steuer, der Mann neben ihn, und pfeilschnell schoß das Auto auf die breite Landstraße.

Halbwegs zwischen Skidemore-Castle und London glaubte Muriel ein verbissenes Lächeln in Hubbards Gesicht wahrzunehmen, als plötzlich zwei kleine Lichter an ihnen vorüberflitzten.

Strongbridge fuhr nach Skidemore-Castle. Corner hatte ihm grinsend die Botschaft Hubbards ausgerichtet, und sie klang ihm noch immer unheimlich in den Ohren. Er war da zum erstenmal an einen Mann geraten, aus dem er nicht klug werden konnte, den er aber zur Strecke bringen mußte, wenn sein Spiel nicht verloren sein sollte.

Er atmete erleichtert auf, als der schlaftrunkene Pförtner ihm wie immer das Tor öffnete.

Aber kaum zehn Minuten später stürzte sich Strongbridge mit aschfahlem, verzerrtem Gesicht lautlos auf den Mann, faßte ihn an der Gurgel und versetzte ihm einen Faustschlag gegen die Schläfe, daß er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Dann flog der Wagen aus dem Tor, und Strongbridge fuhr, als ob die Hölle hinter ihm her sei.


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