Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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37

Pünktlich wartete Corner am nächsten Abend zur angegebenen Stunde an dem vereinbarten Treffpunkt in Islington.

Als Strongbridge etwa zehn Minuten später seinen Wagen knapp vor Corner stoppte und diesen durch eine Kopfbewegung zu sich heranwinkte, war er von einer auffallenden, ängstlichen Unrast, und der Einäugige sah in ein Gesicht, das trotz der Maske von fahler Blässe und seltsamer Starre war.

Er schien es sehr eilig zu haben und kam sofort auf den eigentlichen Zweck zu sprechen.

»Ich habe Ihnen den Mann gebracht«, sagte er mit gepreßter Flüsterstimme. »Er braucht etwas Bewegung in der frischen Luft, und ich habe niemanden, dem ich ihn anvertrauen könnte. Führen Sie ihn eine Stunde herum, dann hole ich ihn mir wieder ab. – Seien Sie jedoch vorsichtig«, warnte er, »denn der Arme hat zuweilen seine Anfälle und wird dann gefährlich. Aber wenn Sie sich vorsehen, werden Sie mit ihm leicht fertig werden.«

»Nette Beschäftigung, die Sie für mich haben«, knurrte der Einäugige.

»Zu etwas anderem sind Sie ja nicht zu gebrauchen«, gab Strongbridge bissig zurück.

Der Mann mit der Binde biß die Zähne zusammen und machte sich wortlos daran, Richard Irvine aus dem Wagen zu bringen. Der Kranke stellte sich höchst unbeholfen an, und als er endlich mit zitternden Beinen auf dem Boden stand, vermochte er vorerst keinen Schritt zu tun. Dann aber raffte er sich doch auf und schritt mit seinem Begleiter schwerfällig davon.

Strongbridge lenkte seinen Wagen kreuz und quer durch dunkle, fast menschenleere Gassen, bis er die gedrungene Gestalt Billy Knox' gewahrte, der breitbeinig an einer Ecke stand und rauchend und spuckend Ausschau hielt.

»Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht«, sagte der Herr von Skidemore-Castle zu dem Exmatrosen, »aber der Arzt, bei dem ich eben mit Sten war, meint, daß er doch in einer Anstalt am besten aufgehoben sein werde. Da habe ich ihn denn gleich dortgelassen. Holen Sie sich also aus der Wohnung Ihre Sachen und geben Sie den Schlüssel beim Hausverwalter ab. Damit Sie aber für die nächsten Wochen versorgt sind, nehmen Sie das.« Der Herr Wohltäter drückte Billy, der ihn mit offenem Mund anstarrte, rasch einige Geldscheine in die Hand und ließ im selben Augenblick auch schon wieder den Wagen anlaufen.

Mittlerweile war Strongbridge am Steuer seines Wagens plötzlich der Gedanke gekommen, daß er vielleicht vor wenigen Minuten einen Fehler begangen hatte, der ihm verhängnisvoll werden konnte. Er starrte noch einige Augenblicke mit verkniffenen Lippen vor sich hin, dann warf er das Auto an der nächsten Ecke herum und fuhr in rasendem Tempo den ganzen Weg zurück, den er eben gekommen war.

Als Billy, selig lächelnd, gerade die Fahrbahn überquerte, sauste der Tod haarscharf an ihm vorbei. – Daß er nicht als ein blutiges Bündel Fleisch und Knochen auf dem Pflaster lag, hatte er einem netten Mann zu verdanken, der ihn gerade noch im letzten Augenblick beim Kragen erfaßt und zurückgerissen hatte.

»Verdammt knapp gewesen«, meinte Billy, indem er den anderen etwas verlegen, aber dankbar anblinzelte. Es war ihm, als ob er dieses Gesicht am heutigen Abend schon einige Male flüchtig gesehen hätte.

»So 'ne Sache muß man begießen«, sagte der Mann, und Billy fand, daß der Gentleman nicht nur sehr wacker, sondern auch vernünftig war. Schließlich mußte er ja einmal seine zwanzig Pfund anreißen, wenn er damit überhaupt je fertig werden wollte.

»Das soll ein Wort sein«, pflichtete er seinem Lebensretter eifrig bei und schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Und ich bezahle, denn ich kann es mir Gott sei Dank leisten.«

»Nein«, widersprach der andere bestimmt, »erst das nächste Mal. Heute ist die Reihe an mir.«

Auch dagegen hatte Billy Knox nichts einzuwenden, und eine halbe Stunde später war er vom Whisky und von seinem neuen Freund so begeistert, daß er dem netten Mann von Sten und dem Wohltäter Pringle erzählte, was jener nur wissen wollte . . .

Mittlerweile schritt Corner in Gedanken versunken an der Seite Richard Irvines, bis er plötzlich bemerkte, wie dessen Augen ihn drohend anstarrten.

»Wo haben Sie mein Pulver?« brachte Irvine mit schwerfälliger Zunge hervor. »Pringle hat mir gesagt, daß Sie mir mein Pulver geben.«

Corner hielt das für ein wirres Gerede und achtete nicht weiter darauf, aber der Kranke wurde immer erregter und faßte ihn krampfhaft am Arm.

»Geben Sie mir mein Pulver«, keuchte er.

»Seien Sie ruhig«, zischte ihn der Einäugige an und schüttelte mit einem kräftigen Ruck seinen Arm ab, »oder ich stopfe Ihnen den Mund.«

Richard Irvine duckte sich unwillkürlich, aber in seinen Augen glomm es tückisch auf, und plötzlich fühlte Corner sich an der Kehle gepackt. Er hob die Hand, um den Irren abzuwehren, aber im selben Augenblick verspürte er einen heftigen Schlag und einen seltsamen Schmerz im Rücken, vor seinen Augen flackerten flimmernde Kreise, und er vermochte nur noch die Waffe aus seiner Tasche zu reißen und blindlings loszudrücken . . .

Der junge Detektiv von Scotland Yard, der kaum eine Viertelstunde später atemlos in die Polizeiwache von Islington stürzte, war mehr erregt, als es einem Polizeibeamten zustand.

»Es ist vor meinen Augen geschehen«, meldete er dem Inspektor zerknirscht. »Ich hatte den Auftrag, Corner zu beobachten, und das ging auch ganz glatt, bis plötzlich die Katastrophe eintrat. Ich war kaum zwanzig Schritte entfernt, aber eigentlich kann ich doch nicht genau sagen, wie es zugegangen ist. – Der Einäugige hat ein Messer im Rücken stecken, der andere eine Kugel von unten durch den Kopf.«

Der Mann stürzte zum Telefon im Nebenraum und kam erst nach einer langen Weile schweißtriefend und verstört wieder zum Vorschein.

»Ist es eine besondere Geschichte?« fragte der Inspektor.

»Die weiße Spinne«, gab der Detektiv geheimnisvoll zurück. »Der Erschossene hat auch einige davon in der Tasche gehabt.«

Der Beamte zog die Brauen hoch.

»Der Fall des Captain Conway, was? Ich habe davon schon gehört. – Es tut mir leid, aber ich glaube, Sie werden sich nach einem anderen Beruf umsehen müssen, mein Lieber.«


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