Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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18

In diesem Moment tauchte, geschäftig wie immer, Sergeant Meals auf, und kaum hatte er die schöne Frau erblickt, als er auch schon an ihrer Seite war.

»Zimmer Nummer 7? Bitte, Madam«, sagte er höflich und hastig und lud sie ein, ihm zu folgen, wobei sein Gesicht und seine blauen Augen noch freundlicher lächelten als sonst.

Endlich bogen sie in den kurzen Seitengang ein, und Meals klopfte bescheiden an.

Als sich keine Antwort vernehmen ließ, wiederholte der Sergeant das Klopfen etwas lauter, und als sich auch jetzt noch immer nichts rührte, drückte er kopfschüttelnd auf die Klinke, aber die Tür war verschlossen.

Meals sah die junge Frau etwas ratlos an, aber in diesem Augenblick stand, wie aus dem Boden gewachsen, die untersetzte Gestalt des Sergeanten Gibbs neben ihm.

»Lassen Sie nur«, sagte er, indem er die Pfeife aus dem Mund nahm, »Mrs. Irvine wird sofort vorgelassen. Ich habe etwas anderes für Sie.«

Er faßte den Kollegen am Arm und zog ihn kurzerhand mit sich, obwohl Meals eine recht unfreundliche Miene machte. Als sie einige Schritte gegangen waren, wandte sich Gibbs plötzlich um und sagte zur größten Überraschung des anderen sehr höflich:

»Sie können eintreten, Madam.«

Im Zimmer Nummer 7 war alles so wie immer, wenn irgend jemand zu Captain Conway vorgelassen wurde. Die Fensterläden waren trotz des Tageslichtes dicht verschlossen, und als Muriel die Tür hinter sich zugemacht hatte, stand sie plötzlich in dem blendenden Lichtkegel, der aus dem Hintergrund hervorstach.

Sie schloß unwillkürlich die Augen, und ihre Erregung stieg so, daß sie am ganzen Körper zu zittern begann.

»Nehmen Sie, bitte, Platz, Mrs. Irvine«, sagte eine andere Männerstimme. »Sie finden zu Ihrer Rechten einen Stuhl.«

Sie tastete sich schwankend zu dem bequemen Fauteuil, der heute neben einem kleinen Tischchen an Stelle des einfachen Sessels stand, und ließ sich kraftlos nieder. Alle die bangen Befürchtungen, die sie vor dieser Stunde gehegt hatte, waren nichts gegen das furchtbare Gefühl, von dem sie in diesem Augenblick befallen wurde. Es kam ihr vor, als ob das schreckliche Licht durch ihren Kopf dringe und als ob alle ihre geheimsten Gedanken bloßgelegt würden.

Aber der Kommissar ließ ihr Zeit, sich zu fassen, denn es dauerte ziemlich lange, bevor seine erste Frage an ihr Ohr drang. Und dann war die Stimme sehr leise.

»Sie sind Witwe, Mrs. Irvine?«

Sie nickte und befeuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge.

Der Unsichtbare schien das zu bemerken.

»Wollen Sie sich ein bißchen erfrischen? Es ist etwas schwül und dumpf hier. Auf dem Tisch steht alles bereit.«

Sie fühlte sich so schwach, daß sie automatisch gehorchte und sich mit zitternden Händen aus der kleinen Flasche eines der Gläser halbvoll schenkte. Als sie getrunken hatte, merkte sie, daß es ein ausgezeichneter, gekühlter Fruchtsaft war, und diese Aufmerksamkeit überraschte sie.

»Sie müssen entschuldigen«, begann die Stimme plötzlich wieder, »wenn ich auf Dinge zu sprechen komme, die Sie vielleicht schmerzlich berühren werden, aber es ist dies leider unvermeidlich. – Waren Sie damals, als Sie vor der verstümmelten Leiche des auf der Untergrundbahnstrecke in Hampstead Verunglückten standen, wirklich völlig überzeugt, daß es sich um Ihren Gatten handelte? Hatten Sie dafür außer den Effekten, die man Ihnen vorlegte, noch irgendwelche andere zuverlässige Anhaltspunkte?«

Der Unsichtbare brach ebenso unvermittelt ab, wie er begonnen hatte. Sie begriff sofort, wie gefährlich die Frage war, aber sie mühte sich vergeblich, ihre Gedanken zu sammeln, um den drohenden Angriff schon mit dem ersten Zuge abzuwehren.

»Ich war natürlich überzeugt davon«, sagte sie nach einer kleinen Pause mit leiser, gepreßter Stimme. »Mein Mann war etwa drei Wochen vorher verschwunden und trotz wiederholter Aufforderungen in den Zeitungen und der Inanspruchnahme der Polizei nicht zu finden. – Eines Tages erhielt ich dann plötzlich die Mitteilung, daß er tot aufgefunden worden sei.«

»Von wem erhielten Sie diese Nachricht?« klang es plötzlich scharf aus dem Dunkel, und die junge Frau zuckte zusammen. Sie wußte, daß sie eine große Unvorsichtigkeit begangen hatte und überlegte blitzschnell, wie sie diese verfängliche Frage umgehen könne.

Aber der Kommissar enthob sie dieser Verlegenheit. Allerdings auf eine Art, die sie noch unruhiger und verstörter werden ließ.

»Also der Mann mit der Binde über dem linken Auge – oder es kann auch einer seiner Freunde gewesen sein – verständigte Sie eines Tages, daß Ihr Gatte verunglückt sei. Und Sie gingen hin und fanden tatsächlich nichts, was dieser Annahme widersprochen hätte. So war es doch wohl, Mrs. Irvine?«

Sie erwiderte nichts, sondern sah starr auf ihre Hände, die sie fest ineinander verschlungen hatte.

»Sie befanden sich damals in sehr mißlichen finanziellen Verhältnissen«, stellte der Unsichtbare fest. »Wie war es da möglich, daß Sie bereits drei Monate später das Warenhaus ›Zu den tausend Dingen‹ für einen Betrag von zweiunddreißigtausend Pfund erwerben und den Kaufpreis bar bezahlen konnten?«

»Ich hatte eine Erbschaft gemacht«, gab sie trotzig zurück.

»Das war einige Monate früher«, bemerkte der geheimnisvolle Kommissar höflich, aber bestimmt. »Und diese Erbschaft ist ebenso wie das Geld, das Sie in die Ehe mitgebracht haben und wie der Verdienst, den Sie mit Ihrem ersten Geschäft erzielten, am Spieltisch geblieben. – Aber ich nehme an, daß Ihnen der Mann mit der Binde ein Darlehen vermittelt hat. Ist es so?«

Muriel begann sich vor dem rätselhaften Mann, der das Gespinst ihrer Geheimnisse in Fetzen riß, zu fürchten, und sie bangte vor dem, was noch kommen würde.

»Wie verhielt es sich mit der Lebensversicherungspolice Ihres Mannes? Wann war diese abgeschlossen worden, und wie kam es, daß sie auf einen so verhältnismäßig hohen Betrag lautete?«

Zum erstenmal war Mrs. Irvine in der Lage, eine rückhaltlose Antwort geben zu können.

»Es war dies eine Bedingung, die mein Vater bei meiner Verheiratung gestellt hatte«, erklärte sie.

»Ihr Vater war General Sir Hartwell Grimley«, fiel der Kommissar ein. »Er starb im Jahre 1938.«

Die junge Frau senkte den Kopf, und ein leises Zucken um ihren hübschen Mund verriet die schmerzlichen Gedanken, die sie bei dieser Erinnerung überkamen.

»Also Ihr Vater wünschte, daß Ihr Gatte, der ziemlich vermögend, aber etwas leichtsinnig war, diese Versicherung zu Ihren Gunsten eingehe, damit Sie für alle Fälle sichergestellt seien«, fuhr der Unsichtbare fort. »Das genügt mir. – Haben Sie vielleicht diese Police für das Darlehen als Pfand gegeben?«

»Nein«, erklärte sie bestimmt, »ich habe andere Sicherheiten geboten.«

»Ich nehme an, daß diese sehr gut sein mußten, denn Mr. Strongbridge ist ein sehr genauer und vorsichtiger Mann«, sagte Captain Conway.

»Haben Sie je mit Strongbridge selbst gesprochen?« forschte der anscheinend Allwissende hartnäckig weiter.

»Zweimal«, gab sie völlig verwirrt zu.

»Wo?«

»Im ›Klub der Siebenundsiebzig‹.«

»Also wohl in demselben grünen Salon, in dem Sie an dem gewissen Abend auch die Unterredung mit Lewis hatten? – Waren Ihre Verhandlungen mit Strongbridge rein geschäftlicher Natur, oder« – der Kommissar schien einen Augenblick nach den rechten Worten zu suchen – »kamen hierbei auch private Dinge zur Sprache?«

Muriel zuckte wieder zusammen, und trotz des scharfen Lichtes war die dunkle Röte zu bemerken, die jäh ihr Gesicht übergoß.

»Ich nehme an, daß Ihnen Strongbridge bei diesen Zusammenkünften gewisse Anträge gestellt hat. Und ich nehme weiter an, daß Sie hierdurch derart in Angst und Schrecken versetzt wurden, daß Sie um jeden Preis der Verpflichtungen gegen ihn ledig werden wollten. Diesem Zweck galt wohl auch Ihr letzter Besuch bei Lewis. Und ich schließe aus gewissen Vorkommnissen, daß dieser Ihnen seine Unterstützung zugesagt hat. – Stimmt das, Mrs. Irvine?«

Die seltsame Stimme klang so ruhig und bestimmt, daß Muriel keinen Widerspruch aufzubringen vermochte. Es schien nichts in ihrem Leben zu geben, was diesem unheimlichen Mann, dem sie gegenübersaß, verborgen gewesen wäre, und der kühlen, selbstbewußten Frau war es, als ob man ihr alle Hüllen von Leib und Seele gerissen hätte.

»Wir kommen nun zu der weißen Spinne, Mrs. Irvine«, sagte Captain Conway gelassen. »Die erste legte man Ihnen mit dem Nachlaß Ihres Gatten vor. – Wann erfuhren Sie von den übrigen? Vor oder nach Ihrer ersten Zusammenkunft mit Strongbridge?«

»Nachher«, erwiderte sie leise.

»Also, nachdem Sie Strongbridge zu verstehen gegeben hatten, daß er nichts zu hoffen habe, kamen plötzlich die Spinnen zum Vorschein. Und es war wohl wieder der gefällige Corner, der Sie davon verständigte? – Was dachten Sie sich dabei?«

»Ich dachte mir«, erklärte sie leise und stockend, »daß mein Mann vielleicht doch noch am Leben sein könnte. – Und daß er vielleicht in die schrecklichen Dinge verwickelt sein könne«, fügte sie nach einer kleinen Pause kaum hörbar hinzu. »Deshalb habe ich auch Mr. Corner ersucht, nochmals genau nachzuforschen.«

»Ah . . .« Der Ausruf bekundete, daß Captain Conway endlich ein wenig überrascht war. »Und was hat Ihnen Corner berichtet?«

»Er hat herausgefunden, wo mein Mann die letzten Wochen verbracht hat, und ich habe mich überzeugen können, daß alles stimmte. Nur über die letzte Nacht konnten wir bisher keine zuverlässige Feststellung machen. Aber auch dann . . .«

Sie vollendete den Satz nicht, sondern sah mit unruhig flackernden Augen ins Leere.

»Auch dann wären Sie die Zweifel, die nun einmal in Ihnen aufgestiegen waren, nicht losgeworden, wollten Sie sagen«, ergänzte der Kommissar. – »Warum haben Sie das alles nicht schon Inspektor Dawson mitgeteilt, als er bei Ihnen war, Mrs. Irvine?«

Die Stimme aus dem Dunkel hatte einen teilnahmsvollen, herzlichen Klang, aber Muriel brach unter den letzten Worten völlig zusammen. Durch ihren Körper ging ein fieberhaftes Schütteln, und plötzlich rang sich von ihren Lippen ein tiefer Wehlaut, und sie barg aufschluchzend das verstörte Gesicht in den Händen.

»Weil ich mich fürchtete«, stöhnte sie – »und weil ich mich schämte.«

Eine Zeitlang war in dem düsteren Raum nur das leise krampfhafte Weinen der jungen Frau zu hören, die nach endlosen Monaten für ihr maßloses Leid und ihre erdrückenden Sorgen endlich erlösende Tränen fand. Und selbst der geheimnisvolle und gefürchtete Kommissar Conway schien vor diesem Schmerz Achtung zu haben, denn er verhielt sich so still, daß Muriel Irvine glauben konnte, sie sei allein mit sich und ihrer Verzweiflung.


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