Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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14

Gabriels Unterkiefer fiel herab, und der gute Mann mußte sich vor Schreck auf den nächsten Stuhl setzen, als er den Gast erblickte, der elegant und selbstsicher wie immer in die Halle trat.

»Fehlt Ihnen etwas, Gabriel?« fragte der Herr teilnehmend, als er bemerkte, daß der »Erzengel« an allen Gliedern zitterte und nicht imstande schien, sich zu erheben.

Aber Gabriel starrte ihn nur an wie ein Wesen aus einer anderen Welt, und sein Mund öffnete und schloß sich einige Male, bevor er auch nur einen Laut hervorzubringen vermochte.

»Mr. Hubbard . . .«, lallte er endlich, aber sein Blick verriet, daß er an das, was er sah, noch immer nicht zu glauben vermochte.

Der Sekretär des Warenhauses »Zu den tausend Dingen« entledigte sich selbst seiner Garderobe und legte sie vor den Fassungslosen hin. Dann tat er einen Griff in die Westentasche und zog mit zwei Fingern etwas hervor, was die Lebensgeister des »Erzengels« wieder zu wecken schien. Gabriels Augen bekamen plötzlich einen leuchtenden Ausdruck, und er war nun sogar imstande, sich auf den zitternden Beinen aufzurichten.

»Sir . . .!« murmelte er erstaunt und befreit. »Oh, wie ich mich freue. – Ich dachte schon, Sie nie mehr wiederzusehen«, fügte er kaum hörbar und mit schmerzlicher Miene hinzu.

»Weshalb?« fragte Hubbard mit großen Augen.

»Wegen des grünen Zimmers«, flüsterte Gabriel.

Aber der Herr schien ihn nicht zu verstehen.

»Wie meinen Sie das? – Hat es wieder etwas gegeben?«

Der »Erzengel« schüttelte etwas verwundert den Kopf.

»Sie wissen doch, Sir . . . Wir hatten ja verabredet, daß Sie den Schlüssel von außen steckenlassen sollten, aber als ich hinaufkam, war das Zimmer von innen versperrt. Und die Balkontür auch. – So, wie damals bei Mr. Lewis. Ich habe an jenem Abend die schrecklichste Stunde meines Lebens durchgemacht, denn ich dachte, ich würde Sie auch so dort finden. Aber es hing nur eine Portierenschnur am Nagel, und Sie waren verschwunden.«

Hubbard machte ein höchst überraschtes Gesicht.

»Sonderbar, lieber Gabriel. – Selbstverständlich hatte ich mich daran gehalten, wie es zwischen uns ausgemacht war. Was geschehen ist, nachdem ich mich entfernt hatte, weiß ich natürlich nicht.«

Ohne einen Blick in die Klubräume zu werfen, stieg Hubbard an den scharfäugigen Dienern auf den Treppenabsätzen vorbei ins zweite Stockwerk und betrat die Spielzimmer des Klubs.

Es waren fast alle Plätze besetzt, und auch der kleine Roulettetisch im letzten Raum, der durch einen einfachen Hebeldruck innerhalb weniger Sekunden versenkt werden konnte, war dicht umlagert.

Der Croupier hatte ein verwittertes Galgengesicht, und einige Schritte von ihm saß als sehr gelangweilter Zuschauer Mr. Edward Phelips und zog gedankenvoll an einer dicken Zigarre. Der Mann am Roulette entwickelte eine Geschicklichkeit, die von langjähriger Übung zeugte, und vor jedem neuen Spiel setzte er sich in seinen Stuhl zurück und beobachtete regungslos die Einsätze.

In diesen Augenblicken pflegte auch Mr. Edward Phelips etwas interessierter zu werden.

Dann erhob sich der Croupier rasch, schnarrte gewohnheitsmäßig sein »Rien ne va plus«. Das Spiel begann.

An dem Tisch saß jenes bunte Gemisch von Besessenen, Glücksrittern und Narren, wie man es überall an solchen Orten findet, und nachdem Hubbard fünf Spiele sehr aufmerksam verfolgt und entdeckt hatte, daß immer jene Farbe gewann, die am schwächsten besetzt war, beschloß er mitzutun.

Er wählte den Moment, da der Croupier sich erhoben hatte und eben die Lippen öffnete, um seine stereotype Phrase loszuwerden. Ehe er aber noch einen Laut hervorzubringen vermochte, schob der neue Gast zehn Pfund auf Schwarz, das eben dreimal gewonnen hatte und dem daher die meisten Spieler diesmal keine Chance gaben.

Der Bankhalter blickte Hubbard betroffen und mißtrauisch an, und seine Verwirrung währte so lange, daß die Spieler bereits ungeduldig zu werden begannen. Endlich ließ er seinen ratlosen Blick unauffällig zu Phelips schweifen, der heftig an seiner Zigarre kaute und nun ein ganz klein wenig den Kopf neigte.

Eine Minute später steckte Hubbard gelassen ein dickes Bündel Banknoten in die Tasche und nahm wieder seinen früheren Platz ein.

»Sie haben ein Schweineglück«, begrüßte ihn Phelips mit einem süßsauren Lächeln. »Weshalb hören Sie da schon auf?«

»Weil ich mit dem, was mir Ihre Bank eben ausgezahlt hat, vollkommen zufrieden bin«, erwiderte der Sekretär bescheiden. »Ich bin nicht geldgierig, und die paar Pfund genügen bei meinen Ansprüchen für einige Zeit. – Übrigens ein wunderbarer Tisch, den Sie da haben«, fügte er harmlos hinzu.

Der Mann mit der gepflegten Glatze nickte flüchtig und beeilte sich, auf ein anderes Thema zu kommen.

»Corner erzählte mir, daß er Sie heute getroffen hat. Haben Sie ihn mit Ihrer Anstellung im Warenhaus ›Zu den tausend Dingen‹ wirklich nicht bloß zum besten gehalten?«

»Was fällt Ihnen ein? Es ist so, wie ich gesagt habe, und Sie können sich ja jederzeit telefonisch davon überzeugen.«

»Sie sind großartig«, kicherte der hagere Mann etwas gezwungen, indem er sich heftig den Schädel polierte. »Auf welche Einfälle Sie kommen. – Natürlich steckt da noch irgend etwas anderes dahinter?« forschte er mit zusammengekniffenen Augen.

Hubbard begegnete dem lauernden Blick mit einem verständnislosen Lächeln.

»Ich wüßte wirklich nicht, was das sein könnte. Es genügt mir vollkommen, daß ich mir dabei sieben Pfund wöchentlich verdiene.«

»Wegen solch einer Kleinigkeit sollten Sie sich wirklich nicht derart deklassieren«, ereiferte sich Phelips. »Sie brauchen nur ›ja‹ zu sagen, und ich verschaffe Ihnen schon morgen eine Stelle, die Ihnen mindestens das Fünffache einbringt. – Wie wäre es beispielsweise hier im Klub? Sie würden eine großartige Figur machen, und solche Leute können wir gebrauchen.«

Er erwartete die Antwort mit sichtlicher Ungeduld, aber Hubbard überlegte sehr lange und lehnte dann energisch mit einer Kopfbewegung ab.

»Danke. Das ist mir zu gefährlich.«

»Warum? – Seien Sie doch nicht kindisch. Erstens haben wir unsere Vorsichtsmaßregeln getroffen, und zweitens können selbst im allerschlimmsten Fall nicht mehr als ein paar Wochen herausschauen. Und das ist doch für unsereinen eine Kleinigkeit.«

»Sie irren sich. Schon der wunderbare Roulettetisch allein dürfte unbedingt drei Jahre einbringen.«

Phelips sah plötzlich höchst gleichgültig ins Leere.

»Davon versteh' ich nichts«, sagte er. »Ich vertrete eigentlich nur provisorisch Lewis. Aus reiner Gefälligkeit, weil man doch solch ein Unternehmen nicht ganz ohne Leitung lassen kann.«

»Und wo ist der Besitzer?«

»Mr. Guy Strongbridge?« meinte der Mann mit dem Pferdekopf leichthin. »Fragen Sie mich, wo diese reichen Leute sich aufhalten. Heute ist er in London, morgen auf dem Kontinent, übermorgen in Ägypten. Ich habe ihn überhaupt noch nie zu Gesicht bekommen. – Aber ich habe in gewisser Hinsicht unbeschränkte Vollmacht, und da wir gute alte Bekannte sind, bin ich entschlossen, etwas für Sie zu tun. Sie wären ein Narr, wenn Sie nicht zugreifen würden. Jedenfalls müssen Sie aus dem Warenhaus von Mrs. Irvine heraus«, schloß er plötzlich etwas ungeduldig und unüberlegt.

Hubbard klemmte mit einem Ruck das Monokel ins Auge.

»Wer sagt das?« fragte er gelassen.

»Corner. – Er hat mir aufgetragen, Ihnen das mitzuteilen, wenn ich Sie sehen sollte, und soviel ich weiß, ist er gerade auf der Suche nach Ihnen, um Sie selbst deshalb zu sprechen. Seien Sie vernünftig und lassen Sie mit sich reden. Sie können, wie ich Ihnen vorschlug, schon morgen hier eintreten, und wir werden gute Freunde bleiben. Aber gerade auf dem Posten, den Sie sich ausgesucht haben, passen Sie uns nicht, und damit werden Sie sich abfinden müssen.«

»Und wenn ich mich damit nicht abfinde?«

Phelips schlug das eine Bein über das andere, und in sein bisher so biederes Gesicht kam ein tückischer Zug.

»Dann werden Sie sich die Unannehmlichkeiten, die daraus entstehen können, selbst zuzuschreiben haben«, sagte er kühl. »Und ich werde sie Ihnen gönnen. Denn schließlich und endlich gibt es auch unter uns so etwas wie ein fair play. Man bricht nicht in ein Gehege ein, in dem bereits ein anderer an der Arbeit ist. Aber Sie scheinen sich etwas zuviel einzubilden, junger Mann, weil Sie Ihre Nase fast schon in alle unsere staatlichen Pensionen auf einige Wochen hineingesteckt haben. Das macht's jedoch nicht, und deshalb sollten Sie nicht zu übermütig werden, denn es könnte Ihnen übel bekommen. – Ihr Trick vorhin am Roulettetisch war eine Gemeinheit, über die wir vielleicht auch noch sprechen werden. So etwas tut man nicht, wenn man etwas auf sich hält. – Was soll ich also Corner ausrichten?«

Der Mann mit der strahlenden Glatze hatte sich in ehrliche Entrüstung geredet, und seine Geduld war offenbar zu Ende.

»Was Sie Corner ausrichten sollen?« wiederholte endlich Hubbard und schien gründlich zu überlegen. – »Sagen Sie ihm, daß er sich beizeiten um einen Platz in einem Blindenheim umsehen soll, weil ich ihn unbedingt um das zweite Auge bringen werde, wenn er mir im Warenhaus ›Zu den tausend Dingen‹ irgendwie in die Quere kommen sollte.«


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