Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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17

Noch vor wenigen Stunden hatte Muriel Irvine sich vorgenommen, Hubbard das Gehalt für einen Monat anzuweisen und ihm mitteilen zu lassen, daß ihr seine weitere Anwesenheit im Geschäft nicht erwünscht sei. Es stand für sie zwar völlig außer Zweifel, daß der Mann nicht das war, wofür er gelten wollte, aber sie vermochte sich nicht zu erklären, welche Absichten und Zwecke ihn in ihre Nähe geführt hatten. Gehörte er zu dem Kreis um Strongbridge, der an ihr ein so besonderes Interesse nahm, oder verkörperte er eine neue Gefahr, die sich erst offenbaren würde?

Ihre Lage war durch eine unselige Verkettung von Umständen so verzweifelt geworden, daß sie sich oft am Ende ihrer Kräfte fühlte, und wenn hier ein neuer Gegner aufgetreten war, der ihre Hilflosigkeit ausnützen wollte, so war sie einem derartigen Kampf auf die Dauer nicht mehr gewachsen. – Dabei hatten ihr die Blumen, die gestern zu Füßen von Miss Mariman geflogen waren, gesagt, daß dieser Mann nicht nur einen außerordentlichen Spürsinn, sondern auch eine seltene Unverfrorenheit besaß, und daß er rücksichtslos auf sein Ziel losging.

In der ersten Bestürzung über die Entdeckung ihres so sorgsam gehüteten Geheimnisses war es Muriel unmöglich erschienen, Hubbard sein seltsames Spiel weiter treiben zu lassen. Aber dann war die kühle Überlegung gekommen, und sie hatte sich gesagt, daß dies keineswegs eine zweckdienliche Lösung der Sache bedeuten würde. Der Mann würde deshalb von der Verfolgung seines Zieles gewiß nicht ablassen, für sie aber würde es dann bedeutend schwerer sein, seine Absichten und Pläne zu erraten, als wenn sie in unmittelbarer Verbindung mit ihm blieb. Was hinderte sie aber, seinem Komödienspiel ein gleiches entgegenzusetzen und ihn mit derselben Unverfrorenheit zu verblüffen, die er an den Tag legte?

Die Möglichkeiten, die sich hieraus ergaben, beschäftigten die junge Frau sehr eingehend, und sie sah etwas blaß und schmal aus, als sie an diesem Morgen zeitiger als sonst im Kontor erschien.

Die Vorladung nach Scotland Yard lautete auf ein Uhr, und Muriel empfand vor dieser Stunde ein solches Bangen, daß sie irgendwie tätig sein mußte, um den Befürchtungen, die auf sie einstürmten, zu entgehen.

Sie suchte an diesem Vormittag sogar mehrmals die Verkaufsräume auf, was sehr selten vorzukommen pflegte, und selbst das Personal war überrascht, wie wunderbar sie aussah. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid, das zu ihrem brünetten Teint und ihrem dunklen Haar prächtig paßte und ihrer ganzen Erscheinung eine außerordentliche Vornehmheit verlieh.

Nur Miss Babberly gefiel es nicht.

Constancia sah selbstgefällig an ihrer dunkelgrünen Kreation mit der schottischen Schleife herab und erwartete wenigstens einen verständnisvollen Blick des Sekretärs, aber dieser war wieder einmal so beschäftigt, daß er für solche Dinge kein Auge hatte.

Als er nach einer Weile mit seiner Arbeit fertig war, nahm er seine Mappe und klopfte an die Tür des Chefzimmers.

Mrs. Irvine sah etwas befremdet auf, als er eintrat, aber sie schien unbefangen und gelassen wie immer, und Hubbard begann diese Frau zu bewundern.

»Sie wünschten gestern einen Auszug des Kontos Strongbridge«, sagte er, indem er ihr das Blatt überreichte. »Der Saldo ist ungefähr der gleiche, den ich Ihnen genannt habe.«

Sie nahm den Bogen wortlos entgegen, und die Zahlen schienen sie so zu interessieren, daß sie die Anwesenheit des Sekretärs ganz vergaß. Endlich faltete sie das Papier sorgfältig zusammen und barg es in ihrer Handtasche.

»Bitte, nehmen Sie einige Zeilen auf«, sagte sie leichthin. »Aber ich wünsche nicht, daß der Brief auf unserem Geschäftspapier geschrieben wird, und die Kopie wollen Sie nicht ablegen lassen, sondern mir aushändigen.«

Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück, und ihre Augen ruhten plötzlich mit einer gewissen Herausforderung auf Hubbard.

»Ich möchte Sie ersuchen«, begann sie zu diktieren, indem sie jedes Wort überlegte, »mir Gelegenheit zu geben . . .«

»Welche Anrede?« fragte er geschäftsmäßig.

»Eine Anrede ist nicht notwendig«, bemerkte sie kurz. »Also . . . mir Gelegenheit zu geben, Ihnen einen Vorschlag zur Regelung Ihres Kontos machen zu können. Der schriftliche Weg scheint mir zu diesem Zwecke nicht geeignet. Ich erwarte also Ihren Bescheid.«

»Die gewöhnliche Schlußfloskel?« fragte Hubbard wieder, als er merkte, daß sie zu Ende war.

»Nein«, sagte die junge Frau etwas spöttisch, »gar keine. – Das dürfte Sie gewiß befriedigen, da Sie solch ein Feind des schwulstigen Geschäftsstils sind. – Und einer Adresse bedarf es ebenfalls nicht«, fügte sie rasch hinzu. »Wenn der Brief fertig ist, wollen Sie ihn mir bringen.«

Sie nickte verabschiedend, und er war bereits an der Tür, als sie ihn noch einmal aufhielt.

»Sie werden in der heutigen Post die Antwort von Hawker & Sons auf unser letztes Schreiben finden. Ich denke natürlich nicht daran, mich mit einem so lächerlichen Ausgleich zufriedenzugeben, aber ein weiterer Briefwechsel würde kaum etwas nützen. Übergeben Sie die Sache also Mr. Summerfield, Fulham, 7 Hulingham Road. Er ist mein Anwalt«, fügte sie erklärend hinzu, als sie merkte, daß er sie fragend ansah.

Gegen 12 Uhr verließ Mrs. Irvine das Kontor. Sie war sich vollkommen klar, daß sie einer kritischen Stunde entgegenging, die alles, was sie sich unter so großen Opfern aufgebaut hatte, mit einem Schlage vernichten und sie vielleicht in eine furchtbarere Lage denn je bringen konnte. Aber sie sah nun keinen anderen Ausweg mehr, als Corners Rat zu befolgen. Sie legte den weiten Weg längs des Victoria-Embankments zu Fuß zurück. Je mehr sie sich dem mächtigen Bau von Scotland Yard näherte, desto langsamer und unsicherer wurden ihre Schritte, und als sie feststellte, daß ihr fast noch eine halbe Stunde Zeit blieb, atmete sie erleichtert auf.

Plötzlich gewahrte sie Corner, der sie offenbar erwartet hatte, und so unliebsam ihr sonst eine Begegnung mit ihm gewesen wäre, heute bedeutete dieses Zusammentreffen für sie eine Erleichterung.

»Beunruhigen Sie sich nicht, Mrs. Irvine«, sagte er, »es kann Ihnen gar nichts geschehen, wenn Sie nicht selbst Dinge berühren, die die Polizei stutzig machen könnten. Es ist höchstens eine Vernehmung und kein Verhör. Also lassen Sie sich ja nicht in die Enge treiben, und wenn Sie über die Tragweite einer Frage im Zweifel sein sollten, so sagen Sie einfach, Sie müßten sich erst mit Ihrem Anwalt beraten.«

»Vielleicht hätte ich das überhaupt tun sollen«, bemerkte sie unsicher.

»Wahrscheinlich hätten Sie dadurch die Sache nur schlimmer gemacht. Die Anwälte sind durchwegs große Wichtigtuer, und man sieht sie in Scotland Yard nicht gerne. Man wird mit Ihnen gewiß viel rücksichtsvoller verfahren«, fuhr er fort, indem er einen bewundernden Blick über ihre Erscheinung gleiten ließ, »wenn Sie allein kommen, als wenn Sie sich in Begleitung irgendeines Paragraphenmenschen eingefunden hätten. Wenn einer gleich mit einem Verteidiger aufmarschiert, so sagt dies, daß er sich nicht ganz sicher fühlt.«

»Sie wissen sehr wohl, daß dies bei mir auch der Fall ist«, erwiderte die junge Frau. »Mag es sich nun handeln, worum es will, ich fürchte, daß ein unbedachtes Wort die ganze Geschichte aufrollen kann.«

Corner schüttelte etwas unwillig den Kopf.

»Deshalb müssen Sie sich eben zusammennehmen«, sagte er scharf. »Das kann doch für Sie nicht so schwer sein. Da Sie seinerzeit Dawson so standgehalten haben, ist es ja schließlich auch nichts Neues für Sie.«

»Ich glaube, daß dies die letzte Gelegenheit war, aus dem Labyrinth herauszukommen«, meinte sie plötzlich halblaut, »und ich habe sie verpaßt. Wenn ich damals gesprochen hätte . . .«

»So würden Sie sich heute sehr unbehaglich fühlen«, fiel er gereizt ein.

»Aber Dawson wäre vielleicht noch am Leben«, entfuhr es ihr, und sie bemerkte, wie er mit einem Ruck den Kopf wandte und sie aus seinem einen Auge mißtrauisch ansah. Aber dann zuckte er mit den Achseln.

»Auf welche komischen Ideen Sie manchmal kommen. Ich verstehe wirklich nicht, wie das zusammenhängen sollte.« Er stieß mit seinem Spazierstock bei jedem Schritt nervös auf den Boden, und sein stechender Blick hing wieder an ihrem blassen Gesicht.

»Ich will zu Ihrem Besten hoffen«, fuhr er vorsichtig fort, »daß Sie von dieser Sache nicht zu sprechen beabsichtigen. Daß Sie danach gefragt werden, halte ich für ausgeschlossen. – Seit wann ist Mr. Hubbard in Ihrem Geschäft?« fragte er dann plötzlich unvermittelt, und sie sah ihn befremdet und sichtlich unwillig an.

»Was soll diese Frage?«

»Sie haben da eine eigenartige Wahl getroffen«, bemerkte er ausweichend. »Wenn Sie mich gefragt hätten, hätte ich Ihnen entschieden abgeraten, diesem Mann eine solche Vertrauensstellung einzuräumen.«

Die junge Frau war plötzlich sehr interessiert und suchte in Corners Mienen zu lesen.

»Was wissen Sie von ihm?« fragte sie hastig.

»Einiges, was ihn nicht sehr empfiehlt. Er hat bereits manches Üble auf dem Kerbholz. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine genaue Zusammenstellung seiner bisherigen Strafen besorgen. Sie ist ziemlich umfangreich.«

Sie war sehr bestürzt, und zwischen ihren Brauen zeigte sich eine tiefe Falte.

»Was will er von mir?« forschte sie gespannt.

»Das weiß ich leider noch nicht. Aber wenn Sie mir helfen wollen, werde ich es bald heraushaben«, erwiderte er.

»Lassen Sie das«, lehnte sie hastig und schroff ab. »Ich werde schon meine Maßnahmen zu treffen wissen.«

Sie warf einen nervösen Blick auf ihre Armbanduhr und sah, daß es kurz vor eins war. Sie nickte ihrem Begleiter verabschiedend zu, aber dieser blieb noch einige Schritte an ihrer Seite.

»Es wäre möglich, daß Sie meines Rates bedürfen«, sagte er leise und eindringlich, »und es würde mich überhaupt interessieren zu erfahren, was eigentlich los war. Dürfte ich Sie bitten, mich sofort anzurufen? Ich werde bis 3 Uhr in meiner Wohnung warten.«

Sie neigte zustimmend den Kopf und betrat wenige Augenblicke später den Haupteingang von Scotland Yard.


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