Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

30

»Ich habe heute nacht von Ihnen geträumt«, lispelte Miss Babberly Hubbard verschämt zu.

Aber der Sekretär sah zur größten Enttäuschung Constancias starr geradeaus auf die alberne Preisliste, in die er vertieft war, und lächelte nur.

Es hatte eine Zeit gegeben, da Constancia sich in dieses Lächeln rettungslos verliebt hatte, aber allmählich begann sie es zu hassen, denn es versprach alles und hielt nichts.

»Hoffentlich etwas Angenehmes«, meinte er endlich, indem er in dem Katalog Keksdosen zu einem Schilling fünfzehn das Stück mit Rotstift anstrich.

Miss Babberly ließ einen Seufzer hören, der angetan war, jedes Männerherz in seinen tiefsten Tiefen aufzuwühlen.

»So etwas fragt man eine Frau nicht«, hauchte sie nur schamhaft.

Aber sie hatte mit ihren großen, entscheidenden Momenten nun einmal ausgemachtes Pech, denn in diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes ganz in Anspruch genommen.

Im Chefzimmer hatte kurz vorher das Telefon geläutet.

Aber heute wurde die Stimme von Mrs. Irvine plötzlich so erregt, daß sie bis in den Nebenraum hallte und einzelne abgerissene Worte deutlich zu hören waren.

»Um Gottes willen . . . Sprechen Sie doch . . . rasch . . .«

Dann kam eine kleine Pause; und gleich darauf gellte ein Aufschrei aus dem Chefzimmer: »Unmöglich . . .«

Man vernahm noch, wie der Hörer krachend auf den Apparat fiel, dann flog auch schon Hubbard in das Zimmer, und Constancia trippelte mit großen, neugierigen Augen hinter ihm drein.

Die junge Frau lief wie eine Wahnsinnige in ihrem Kontor auf und nieder und schien nicht zu wissen, was sie beginnen solle. Sie hatte die Hände an die Schläfen gepreßt, und ihre dunklen Augen starrten mit einem irren Glanz ins Leere.

Hubbards Lippen preßten sich hart zusammen, als er die verzweifelte Verfassung der Frau sah, und zum erstenmal zeigte sich an ihm eine gewisse Unruhe.

»Kann ich etwas für Sie tun, Mrs. Irvine?« fragte er warm und drängend, und der Ton seiner Stimme schien Muriel endlich wieder zum Bewußtsein ihrer Umgebung zu bringen. Sie sah sich sekundenlang verstört um, dann griff sie in einem plötzlichen Entschluß nach ihrem Hut, warf den Pelzmantel über den Arm und stürzte wie ein gehetztes Wild durch die Korridortür.

Einen Augenblick machte der Sekretär Miene, ihr zu folgen, dann aber besann er sich anders.

»Sie ist verrückt geworden«, lispelte Miss Babberly verstört.

»Beruhigen Sie das Personal«, raunte ihr Hubbard zu, indem er sie sanft zur Tür hinausdrängte, und Constancia gehorchte eilig.

Der Sekretär stand bereits am Apparat, und obwohl kaum eine Minute verging, bis sich die Nummer meldete, knirschte er vor Ungeduld mit den Zähnen.

»Auf dem Posten?« flüsterte er hastig. »Ihr Glück. – Passen Sie auf Mrs. Irvine auf. Es ist etwas Entscheidendes geschehen. Sie hat eben das Warenhaus verlassen. Nehmen Sie sofort einen Wagen zu ihrer Wohnung, und wenn sie nicht dort ist, zu Miss Mariman und zum Theater. Fahren Sie wie der Teufel, und wenn Sie sie erreicht haben, lassen Sie sie nicht mehr aus den Augen. Wenn Sie Nachrichten haben oder mich brauchen, können Sie mich durch André erreichen.«

Als er gegen 19 Uhr ans Telefon gerufen wurde, war er im ersten Augenblick enttäuscht, weil er eine andere Stimme hörte als jene, die er erwartet hatte, aber dann nahm sein Gesicht plötzlich einen sehr erregten und gespannten Ausdruck an.

»Mr. Turner?« fragte er überrascht. – »Hier Hubbard, ja. – Wie? Was für eine fatale Geschichte?«

Der kleine zappelige Theaterdirektor sprudelte seine Verzweiflung in einem solchen Tempo in das Telefon, daß es schwer war, ihm zu folgen.

»Eine sehr fatale Geschichte, mein Lieber, und warum ich Sie anrufe, statt mich einfach aufzuhängen, weiß ich nicht. Aber ein Theaterdirektor tut nie das, was er tun sollte. Natürlich handelt es sich wieder um Miss Mariman.«

»Was ist denn mit ihr?«

»Das möchte ich eben wissen«, klang es verzweifelt zurück. »Sie ist bis jetzt nicht im Theater erschienen, obwohl sie sich sonst stets pünktlich eine Stunde vor der Vorstellung einfindet. Und jetzt fehlen nur noch vierzig Minuten. – Knapp, daß sie da fertig werden könnte.«

»Haben Sie einen Ersatz?« fragte Hubbard plötzlich.

»Allerdings. Sie haben mir ja doch selbst geraten, mich umzuschauen. Aber bevor ich ihn heranbringe! Die Dame wohnt in Kennington.«

»Lassen Sie den schnellsten Wagen los, den Sie bei der Hand haben«, riet der Sekretär dringlich.

»Sie glauben also wirklich, daß . . .?« gab Turner in höchster Erregung zurück.

»Ich glaube, daß Sie keine Sekunde verlieren sollten. Miss Mariman kommt bestimmt nicht mehr. Ich habe meine Gründe dafür, das anzunehmen. Übrigens bin ich in einer halben Stunde bei Ihnen.«


 << zurück weiter >>