Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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33

»Wir haben Ihren Gatten gefunden. Halten Sie sich bereit, Corner wird Sie in einigen Minuten abholen . . .«

Die Worte, die ihr Strongbridge durchs Telefon hastig und erregt zugeraunt hatte, waren auf Muriel Irvine wie betäubende Keulenschläge niedergesaust.

Sooft sie auch in ihren Gedanken diese Möglichkeit bangend und schaudernd in Erwägung gezogen hatte, war sie ihr doch so unwahrscheinlich erschienen, daß sie sie immer wieder abgetan hatte.

Nun aber war diese Möglichkeit Wirklichkeit geworden, und der jungen Frau war es, als ob ihr der Boden unter den Füßen entzogen würde und sie in eine unendlich grauenvolle Tiefe stürzte. Sie sah das neue Leben, das sie sich in rastloser Arbeit unter Sorgen und Mühen aufgebaut hatte, jäh zusammenbrechen und eine Zukunft drohen, auf der die furchtbaren Schatten der Vergangenheit lagen.

Ihre Ehe war für die stolze Frau vom ersten Tag an zu einer ununterbrochenen Kette von Enttäuschungen und Demütigungen geworden und hatte sie schließlich in so trostlose und drückende Verhältnisse verstrickt, daß sie oft der Verzweiflung nahe gewesen war.

Die seinerzeitige Nachricht von dem Tode ihres Gatten hatte für sie eine Erlösung bedeutet und ihr die Kraft gegeben, von vorn zu beginnen. Corner, der eines Tages als teilnahmsvoller Freund ihres verschollenen Mannes aufgetaucht war, hatte ihr von Strongbridge ein namhaftes Darlehen vermittelt, und wenn sie es auch mit Wucherprozenten verzinsen mußte, bedeutete es für sie doch eine tatsächliche Hilfe. Sie konnte das Warenhaus »Zu den tausend Dingen« erwerben, das glänzend ging, und als ein Zufall ihr auch noch das Engagement am Central-Theater bot, war sie imstande, sich ihrer finanziellen Verpflichtungen weit rascher zu entledigen, als sie ursprünglich hatte hoffen dürfen.

Und nun sollte Richard Irvine wieder in ihr Leben treten, das er bereits einmal zerstört hatte. Es fiel ihr nicht einen Augenblick ein, an der Richtigkeit der Mitteilung Strongbridges zu zweifeln. Wie würde sie den Mann wiederfinden, nachdem er länger als ein Jahr spurlos verschwunden war? Als er das Haus ohne Abschied verließ, war er bereits ein seinen Leidenschaften und Lastern rettungslos verfallener Kranker – was hatten die Monate, die seither verstrichen waren, weiter aus ihm gemacht? Wo war er untergetaucht, und was hätte er getrieben?

Völlig verstört und gejagt von tausend bangen Fragen, war Muriel aus ihrem Kontor gestürzt und die Treppe hinabgeflogen, so daß die Angestellten, die ihr begegnet waren, betroffen hinter ihr dreingeblickt hatten. Und als ein Bild ratloser Verzweiflung war sie ziel- und planlos auf der Straße weitergerannt, bis Corner sie einholte und seine Hand leicht auf Ihren Arm legte.

Die Berührung brachte sie zu sich, und sie ließ es geschehen, daß er ihr in den Pelz half und sie zu dem wartenden Auto geleitete. Er war dabei von einer ehrerbietigen Zurückhaltung, und in seiner Miene war noch immer die schwere Kränkung zu lesen, die ihm jüngst angetan worden war.

»Sie haben mich sehr schlecht behandelt, Mrs. Irvine«, sagte er leise, »aber ich werde Sie trotzdem überzeugen, daß ich Ihr aufrichtiger und ergebener Freund bin. – Seien Sie auf der Hut«, fuhr er hastig fort, »und wenn Sie Hilfe benötigen, so rufen Sie mich.«

Der Wagen fuhr um den Aberdeen Park herum in eine der nächsten Seitengassen, wo Phelips, der ihn dicht vermummt lenkte, unmittelbar hinter einem anderen Auto hielt, das hier bereits wartete.

Corner sprang heraus und trat zu dem Mann im ersten Wagen.

»Alles in Ordnung?« fragte dieser gespannt.

»Jawohl«, gab der Einäugige zurück. »Aber ich mache Sie nochmals darauf aufmerksam, Strongbridge . . .«

Er erhielt einen Stoß, daß er förmlich zurücktaumelte.

»Sind Sie des Teufels, daß Sie Namen nennen?« zischte der Mann. »Lassen Sie Ihr albernes Gewäsch und trachten Sie, die Frau so rasch und unauffällig wie möglich herüberzuschaffen. Phelips soll Ihnen helfen.«

Wieder einmal kämpfte Corner sekundenlang mit dem Entschluß, sich auf Strongbridge zu werfen und mit ihm abzurechnen, aber auch diesmal brachte er nicht den Mut dazu auf. Gleich darauf verschwand Mrs. Irvine, von ihm und Phelips hilfreich geleitet, in dem anderen Wagen. Sie schien sich nicht bewußt zu werden, was mit ihr vorging, sondern ließ alles ruhig mit sich geschehen und sank kraftlos in die Polsterung.

Strongbridge hatte bereits den Motor angelassen, als er Corner durch einen Wink nochmals zu sich heranrief.

»Sehen Sie zu, daß im Warenhaus alles klappt und ohne viel Aufsehen verläuft«, sagte er leise und eindringlich. »Die notwendigen Vollmachten von Mrs. Irvine schicke ich Ihnen noch im Laufe des heutigen Abends in den Klub. Sie haben nichts anderes zu tun, als sich morgen früh in das Geschäft zu begeben, die Papiere vorzuweisen und darauf zu sehen, daß der Betrieb so weitergeht wie bisher. Sollten sich irgendwelche Schwierigkeiten ergeben, so verständigen Sie mich.«

Der Mann mit der Binde machte ein bedenkliches Gesicht.

»So einfach, wie Sie das sagen, wird die Geschichte sicher nicht gehen«, meinte er bissig. »Hubbard wird schon dafür sorgen.«

»Nein, nicht mehr«, gab Strongbridge zurück. »Und Sie brauchen sich auch nicht zu fürchten, daß er Ihnen weiter in die Quere kommen wird.«

*

Muriel war in einer seelischen Verfassung, die es ihr ganz gleichgültig erscheinen ließ, wohin die Fahrt ging und was mit ihr geschah. Auch als das Auto endlich in der Einfahrt des unheimlichen Gebäudes hielt, erwachte sie nicht aus ihrer Lethargie, und Strongbridge hatte Zeit, einige leise Worte mit dem Pförtner zu wechseln.

»Was ist mit der Frau?« raunte er ihm hastig zu.

»Betty ist bei ihr«, erwiderte der Mann mit einem vielsagenden Blick, und Strongbridge war beruhigt, denn auf das Weib konnte er sich verlassen. Sie war eine große knochige Person ohne irgendwelche Sentimentalität, aber dafür mit Riesenkräften, und er hatte sie herangeholt, damit er von Lucys Seite keine Störung seiner wichtigen Pläne zu befürchten hatte.

»Ist im linken Flügel alles in Ordnung?« fragte er weiter.

»Wie Sie es angeordnet haben, Sir. Jessie hat alles hergerichtet.«

»War sie neugierig?«

Der Alte zuckte mit den Achseln.

»Die Weiber sind immer neugierig«, brummte er verächtlich. »Aber gefragt hat sie nichts.«

»Ist sie in ihrem Zimmer?«

»Jawohl. Und den Schlüssel habe ich in der Tasche.«

»Und der Mann?«

»Der sitzt noch immer in meiner Stube, wie Sie ihn am Nachmittag verlassen haben, und starrt vor sich hin. Man könnte sich vor ihm fürchten, denn er sieht wie der leibhaftige Tod aus.«

»Wenn ich zweimal läute, so bringen Sie ihn in das kleine Zimmer«, sagte Strongbridge und wandte sich ab, um Mrs. Irvine aus dem Wagen zu helfen.

Der Raum neben dem westlichen Turm war ebenso riesig wie jener im andern Flügel, nur sah es hier weit komfortabler und heimischer aus als dort.

In einer der Ecken stand unter einer großen Stehlampe ein sorgfältig gedeckter Teetisch mit bequemen Fauteuils, und nachdem Strongbridge der Frau beim Ablegen behilflich gewesen war, geleitete er sie zum Sessel.

»Sie werden müde sein und einer Stärkung bedürfen«, meinte er besorgt und machte sich eifrig daran, den Wirt zu spielen.

Muriels Gesicht war von erschreckender Blässe, und die letzten Stunden hatten um ihre Augen und ihren Mund scharfe Linien gegraben. Sie ließ den Tee, den er ihr eingeschenkt hatte, unberührt stehen, und erst nach einer Weile netzte sie ihre Lippen an einem Glas Wasser, das sie mit zitternder Hand an den Mund führte.

»Wo ist er?« fragte sie plötzlich, und ihre Augen richteten sich mit einem unruhigen Flimmern auf Strongbridge.

»Sie werden ihn sehen«, beruhigte er sie. »Deshalb habe ich Sie ja herbemüht. Aber ich möchte, daß Sie sich vorher von mir beraten lassen«, fuhr er eindringlich fort. »Es wird alles weit besser ausfallen, als Sie augenblicklich zu befürchten scheinen.«

Sie strich sich über die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Oh, ich bin vollkommen gefaßt. Auf alles. Nur möchte ich endlich Gewißheit haben.«

Strongbridge sah sie lauernd von der Seite an. Sie war nun in der Verfassung, in der er sie haben wollte, aber trotzdem bangte ihm vor der Szene, die er seit langem vorbereitet und in ihren Wirkungen genauestens berechnet hatte. Es stand für ihn dabei nicht nur der Besitz dieser Frau auf dem Spiel, sondern noch weit mehr, und er fühlte eine gewisse Furcht, ob ihm bei seinen Berechnungen nicht ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen war.

Er drückte zweimal auf einen Klingelknopf, und als er nach einer Weile ein leises Geräusch in dem Nebenzimmer vernahm, beugte er sich ganz nahe zu der jungen Frau.

»Sie werden ihn sehr verändert finden«, bereitete er sie schonend vor. »Er muß Schweres durchgemacht haben und wird einiger Zeit bedürfen, um sich wieder zu erholen. Es wäre auch wünschenswert, daß ihm die heutige Begegnung nicht zuviel Aufregung bringt, und ich möchte Sie daher bitten, sich damit zu begnügen, daß Sie ihn nur einige Augenblicke sehen. Sie werden dann ja selbst sofort merken, wie es um ihn steht.«

Muriel nickte ungeduldig und erhob sich etwas mühsam. Strongbridge nahm ihren Arm und führte sie zu der großen Flügeltür am anderen Ende des Raumes, die er mit einer leichten Handbewegung aufstieß.

Es war alles auf das eindrucksvollste und wirksamste inszeniert. In dem kleinen Zimmer gerade gegenüber der Tür saß Sten Moore, sog mit tiefen Zügen an seiner Zigarette und lächelte mit einem verlorenen Ausdruck vor sich hin. Er sah sehr gepflegt aus, aber das grelle Licht, das auf ihn fiel, zeigte mit erschreckender Deutlichkeit die Spuren seines körperlichen und geistigen Verfalls. Sein hageres Gesicht war von aschgrauer Farbe, die Augen hatten einen fieberhaften Glanz und lagen tief in den Höhlen, und das stark angegraute Haar schien tot und brüchig.

Der Mann, der wenig mehr als dreißig Jahre zählte, machte den Eindruck eines hinfälligen Greises, aber trotzdem erkannte ihn Muriel Irvine auf den ersten Blick. Sie stützte sich an dem Türrahmen und sah mit großen, entsetzten Augen auf das Bild des Jammers, das sich ihr bot.

Sten nahm von den beiden Personen nur mit einem flüchtigen Blick Notiz und ließ sich in seinen Träumereien nicht stören. Erst als Strongbridge zu sprechen begann, wandte er ein wenig den Kopf.

»Sten Moore, ich habe Ihnen einen Besuch gebracht. Erkennen Sie ihn?«

Strongbridge gab Muriel einen leisen Wink, etwas vorzutreten, und sie gehorchte; aber der Kranke sah sie fremd und verlegen an.

»Richard . . .«

All das Erbarmen eines mitfühlenden Frauenherzens lag in diesem Ausruf, und Strongbridge zuckte jäh zusammen. Wenn diese warme Stimme in dem Mann die Erinnerung weckte, war sein Spiel verloren. Sein Blick hing mit Spannung an dem Gesicht Moores, aber Sten hatte die Augen geschlossen und lächelte schon wieder verträumt.

»Die Stimme . . .!« murmelte er halblaut vor sich hin.

»Richard!« klang es abermals von Muriels Lippen, und sie machte unwillkürlich einen Schritt auf die regungslose Gestalt zu, aber Strongbridge hielt sie mit einem warnenden Blick zurück.

»Die Frau . . .«, flüsterte Sten geheimnisvoll. »Eben jetzt habe ich sie wieder gesehen und ihre Stimme gehört. Aber sie läßt sich nicht halten . . .«

Er schüttelte wehmütig den Kopf, und sein Blick glitt an Muriel vorbei ins Leere.

Die junge Frau schlug die Hände vor die Augen und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

Strongbridge fand es an der Zeit, der Szene ein Ende zu bereiten. Er wußte nun, daß ihm von Richard Irvine keine Gefahr mehr drohte. Sanft und rücksichtsvoll schob er Muriel in das große Zimmer zurück und schloß hinter ihr die Tür.

Als er nach etwa einer Viertelstunde wieder erschien, war Mrs. Irvine ihrer Erschütterung einigermaßen Herr geworden, aber ihre Augen verrieten, was sie gelitten hatte.

»Er hat mich nicht erkannt«, sagte sie schmerzlich und fragend.

Er beruhigte sie durch eine kurze Geste.

»Das wird sich gewiß wieder geben, wenn er die entsprechende Pflege haben wird. Und dafür werde ich schon sorgen. – Aber ebenso notwendig ist es, Mrs. Irvine«, fuhr er eindringlich fort, »daß für Sie etwas geschieht. Sie müssen sich unbedingt einige Zeit zurückziehen, um den Unannehmlichkeiten auszuweichen, die sich sonst vielleicht für Sie ergeben können. Was Corner und mich betrifft, so werden wir ja selbstverständlich Stillschweigen bewahren, aber es könnte doch geschehen, daß durch irgendeinen Zufall das Wiederauftauchen Ihres Gatten bekannt wird. Und das würde Sie in arge Ungelegenheiten bringen.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die junge Frau ängstlich.

»Sie werden mich verstehen, wenn Sie daran denken, daß Sie seinerzeit der Polizei gegenüber erklärt haben, in dem Verunglückten mit aller Bestimmtheit Ihren Gatten wiederzuerkennen. Und daß Sie gegen die Versicherungsgesellschaft einen Prozeß wegen der Auszahlung der Prämie für Richard Irvine führen. – Wenn man nun plötzlich erfahren sollte, daß dieser Richard Irvine wohlbehalten unter den Lebenden weilt, so wird man von Ihnen wohl verschiedene Aufklärungen verlangen.«

»Ich werde sie geben können«, stieß Muriel hastig hervor, aber ihre verstörte Miene verriet, daß sie sich des Ernstes ihrer Lage vollkommen bewußt war.

»Gewiß«, gab der Herr von Skidemore-Castle zu, »aber Sie dürfen sich das nicht allzu leicht vorstellen. Der Schein spricht, nun einmal gegen Sie, und ich glaube, ohne eine längere Untersuchungshaft würde es kaum abgehen.«

Das Wort ließ die junge Frau zusammenschrecken, und ihre angstvollen Augen richteten sich in verzweifelter Ratlosigkeit auf Strongbridge.

»Das möchte ich Ihnen gerne ersparen«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Sie haben hier, wo Sie sich eben befinden, einen Zufluchtsort, an dem Sie niemand entdecken wird, und wir gewinnen Zeit, für Sie zu arbeiten. – Lassen Sie mich also für Sie sorgen. Ich glaube, ich habe Ihnen bereits den Beweis erbracht, daß ich es mit Ihnen gut und ehrlich meine.«

In Muriels Gesicht zeigte sich eine eisige Abwehr.

»Und mit sich auch«, erwiderte sie kurz. »Sie haben dabei ein glänzendes Geschäft gemacht.«

Strongbridge lächelte gutmütig.

»Allerdings«, gab er offen zu. »Bisher hätte ich dabei ungefähr vierzig Prozent verdient. Aber Sie dürfen nicht vergessen, Mrs. Irvine, daß ich das ansehnliche Kapital seinerzeit einer Frau vorstreckte, die ich nicht kannte, und daß ich daher trachten mußte, mein Geld so rasch wie möglich wieder hereinzubringen. Sie haben mich dann allerdings durch die Pünktlichkeit, mit der Sie Ihren Zahlungen nachkamen, überrascht. – Aber wenn ich Ihnen morgen oder übermorgen, wie ich es vorhabe, Ihre Schuldurkunde übergebe, werde ich nur ungefähr neun Prozent Zinsen erhalten haben, und das ist doch schließlich ein bescheidener Gewinn.«

Mrs. Irvine sah ihn mit einem unsicheren Blick an, denn sie begann an dem Mann, der so warm und schlicht sprechen konnte, plötzlich irre zu werden. Sie war bisher nur zweimal mit ihm zusammengetroffen, aber jedesmal hatte sie von ihm einen so unsympathischen, ja geradezu unheimlichen Eindruck empfangen, daß sie es vorzog, nur durch seinen Mittelsmann Lewis mit ihm zu verkehren.

Nach den Erfahrungen der letzten Stunde mußte sie sich aber sagen, daß sie ihm unrecht getan hatte, und diese bittere Erkenntnis machte sie verlegen und unschlüssig.

»Was soll ich tun?« fragte sie ratlos.

»Was ich Ihnen gesagt habe«, meinte Strongbridge eindringlich.

»Sie bleiben hier und spannen einmal einige Zeit aus. Mittlerweile kümmern wir uns darum, daß Ihr Geschäft in Ordnung weiterläuft und daß die gewissen unangenehmen Dinge aufgeklärt werden. Ihre Angestellten können Sie wissen lassen, daß Sie plötzlich eine kurze Reise antreten mußten. Über das ›Wohin‹ sind Sie ja nicht verpflichtet, ihnen Mitteilung zu machen.« Er erhob sich und ging zu dem kleinen Schreibtisch, an dem er sich eifrig zu schaffen machte. »Am besten ist es, Sie machen das schriftlich, damit unnütze Fragereien und weitschweifige mündliche Aufklärungen vermieden werden. Sie können sich ganz kurz fassen, und wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen den Brief diktieren.«

In diesem Augenblick erinnerte sich Muriel Irvine plötzlich daran, daß sie zu dieser Stunde eigentlich auf der Bühne des Central-Theaters stehen sollte, und sie malte sich mit klopfenden Pulsen die fatalen Folgen aus, die ihr unerklärliches Ausbleiben nach sich gezogen haben mußte. Sie sagte sich, daß es für sie wirklich keinen andern Ausweg gab, als den Rat Strongbridges anzunehmen und für einige Zeit spurlos zu verschwinden. Sie war am Ende ihrer Kräfte und fühlte sich außerstande, den Widrigkeiten, die auf sie warteten, zu begegnen.

Sie wußte nicht, wie sie an den Schreibtisch gekommen war, aber plötzlich hielt sie die Feder in der Hand und schrieb mechanisch die Worte nieder, die ihr Strongbridge vorsprach.

Plötzlich aber hielt sie inne und schüttelte energisch den Kopf.

»Ich sehe nicht ein, weshalb Mr. Corner die Führung des Geschäftes übernehmen soll. Hubbard ist sehr tüchtig, und ich habe volles Vertrauen zu ihm.«

Strongbridge lächelte nachsichtig.

»Ich weiß, Mrs. Irvine. – Aber das war vielleicht ein sehr verhängnisvoller Fehler, denn Hubbard ist nicht der Mann, dem man allzuviel Vertrauen schenken soll. – Ich habe einige gute Beziehungen zu Scotland Yard«, verriet er ihr und sah sie vielsagend an, »und man hat mir mitgeteilt, daß Sie die Hausdurchsuchung der letzten Tage einem anonymen Brief zu verdanken haben, der in Ihrem Kontor geschrieben wurde.«

Muriel hob in peinlicher Überraschung mit einem jähen Ruck den hübschen Kopf.

»Sie werden ja Ihre Maschine und deren Eigenheiten gewiß kennen«, fuhr er ruhig fort, indem er ein zerknittertes Papier vor sie auf den Tisch legte. »Sehen Sie selbst.«

Die junge Frau starrte auf das Blatt, und schon der erste Blick sagte ihr, daß Strongbridge mit seiner Behauptung recht haben könne. Denn sie sah hier genau die gewissen schadhaften Buchstaben, die ihr in ihrer Korrespondenz immer wieder auffielen und über die sie sich zuweilen sehr geärgert hatte. Wenn aber die Anzeige tatsächlich aus ihrem Kontor stammte, so konnte als ihr Schreiber wirklich nur Hubbard in Betracht kommen. Was hatte sie dem Mann getan, daß er sich so feindlich gegen sie stellte, und was hatte diese seltsame Komödie, die er aufführte, zu bedeuten?

Muriel preßte die Lippen zusammen und vollendete entschlossen den Satz, den sie vorher unterbrochen hatte. Dann schrieb sie die Adresse auf den Umschlag, den ihr Strongbridge hinschob und fügte auf seinen ausdrücklichen Wunsch noch die Worte »Eigenhändig und dringend« bei.

Der Herr von Skidemore-Castle übernahm es selbst, das Schreiben zu verschließen, und die junge Frau richtete rasch noch einige Zeilen an ihre Zofe, die sie anwies, ihr durch den Überbringer die Sachen, die sie aufzählte, zukommen zu lassen.

Etwa eine halbe Stunde später stieg Strongbridge mit einem befriedigten Lächeln die Treppe hinab. Es war alles genauso gegangen, wie er es angelegt hatte, und das so geschickt gehetzte und gestellte Wild befand sich endlich in der Falle. Nun hatte er nur noch den entscheidenden Zug zu tun, um den komplizierten Fall der weißen Spinne endgültig zu erledigen.

Als er fahrbereit am Steuer saß, hob der Pförtner auf einen kurzen Wink den schlaftrunkenen Sten Moore wie ein Bündel in den Wagen, hinter dem sich das schwere Tor von Skidemore-Castle sofort wieder schloß.

Es war etwas nach 23 Uhr, als Strongbridge zur größten Überraschung Corners und Phelips' plötzlich in dem kleinen Direktionszimmer des Spielklubs erschien, was bisher noch nie vorgekommen war.

»Hier haben Sie Ihr Beglaubigungsschreiben«, sagte er lächelnd, indem er Corner den Brief von Mrs. Irvine überreichte. Das Schreiben war ohne Umschlag, und als Corner es überflog, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht.

»Er wird trotzdem Skandal machen«, meinte er.

Strongbridge grinste über das ganze Gesicht.

»Das müßte mit seltsamen Dingen zugehen«, sagte er. »Ich glaube eher, er wird morgen stumm wie ein Fisch sein. Dann übergeben Sie eben den Brief einfach der Geschäftsführerin.«

Corner und Phelips horchten gespannt auf, aber Strongbridge schien nicht weiter über die Sache sprechen zu wollen, und ihn direkt zu fragen hatte keiner den Mut.

»Ist Mrs. Irvine gut aufgehoben?« wandte sich Corner mit einem lauernden Blick an den Herrn von Skidemore-Castle.

»Wie eine Prinzessin«, gab Strongbridge mit einem herausfordernden Lächeln zurück.

»Und wie lange soll die Geschichte eigentlich dauern?« wollte Corner weiter wissen.

»Das wird davon abhängen, wie sich die Sache mit Richard Irvine entwickelt. Sie müssen sich des Mannes annehmen. Ich werde Sie übermorgen abend mit ihm zusammenbringen. Erwarten Sie mich gegen 21 Uhr 30 an der gewissen Stelle in Islington.«

Damit hatte Guy Strongbridge zu seinem letzten entscheidenden Zug angesetzt.


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