Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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35

Die Herbstnacht war kühl und klar, aber das dichte Gestrüpp, das sich eng um die Mauern von Skidemore-Castle rankte, lag in tiefem Dunkel.

Als der Liebhaber der robusten Jessie aus drei Meter Höhe gelenkig zur Erde sprang, stand neben ihm eine dunkle Gestalt, die leicht seinen Arm berührte.

Der Bursche war einen Augenblick starr vor Schreck, denn er hatte kein gutes Gewissen, dann versuchte er mit einem kräftigen Ruck und einer jähen Wendung auszubrechen. Aber die Hand auf seinem Arm griff wie eine eiserne Klammer zu, und er war schon entschlossen, sich auf das Schlimmste einzulassen, als er eine gedämpfte Stimme vernahm, die ihn etwas beruhigte.

»Sie haben noch einen halben Sovereign bei mir gut«, sagte der Mann an seiner Seite. »Ich mache daraus ein Pfund, und Sie erhalten es sofort, wenn Sie mir ein wenig behilflich sind.«

Der Gärtnerbursche hatte noch nicht so oft in seinem Leben einen halben Sovereign geschenkt bekommen, um nicht sofort zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Aber die unerwartete Begegnung machte ihn mißtrauisch. Was wollte der Mann hier und vor allem: bedeutete sein Auftauchen Gutes oder Schlimmes für Jessie?

Jessie war seit Tagen seine beständige Sorge. Sooft er nämlich auch an den letzten Abenden zu der verabredeten Stunde den Weg über die Mauer genommen hatte, das Mädchen war nie mehr erschienen, und so nahe er auch an das Hauptgebäude herangeschlichen war, er hatte nicht eine Spur von ihr entdecken können. Das hatte ihn immer unruhiger und ängstlicher gemacht, und er mußte unwillkürlich dem Fremden gegenüber davon sprechen.

»Ich kann Jessie nicht finden.«

»Das ist ein weiterer Grund, daß Sie mit sich reden lassen, denn ich glaube Ihnen und Jessie helfen zu können. – Sind Hunde im Hause?«

Der Gärtner verneinte. Die Aussicht auf Hilfe für Jessie hatte ihn plötzlich zugänglich gemacht.

»Wer wohnt hier?«

»Der Portier neben dem Haupttor, und in dem kleinen Hofgebäude neben der Garage der Chauffeur«, gab der Bursche eifrig Auskunft. »Aber der Chauffeur ist vor zwei Stunden mit dem großen Wagen in die Stadt gefahren. Und dann ist seit ein paar Tagen noch ein Weib da, das ich früher nie gesehen habe. Am Ende hat man Jessie um die Ecke gebracht«, entfuhr es ihm.

»Wer sollte das getan haben?«

»Der Herr«, raunte der Gärtner furchtsam. »Wenn Sie ihn kennen würden, würden Sie ihm so etwas auch zutrauen. Jessie hat sich schon immer vor ihm gefürchtet, und als wir uns zum letzten Male sahen, war sie ganz außer sich, weil sie nicht wußte, was aus ihrer Madam geworden war.«

Es war für Hubbard nicht so leicht, aus dem Mann herauszubekommen, was er wissen wollte. Endlich konnte er sich aus den Angaben aber doch ein beiläufiges Bild von der Anlage des Baues machen, und er wußte nun, daß Madam im Mittelgebäude gewohnt hatte, daß im östlichen Flügel die letzte Tür zu einem geheimnisvollen, stets sorgfältig verschlossenen Raum führte und daß Jessie ihre Kammer im dritten Stock hatte.

»Sie können auf mich warten, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er, als er soweit war. »Wenn ich aber binnen eineinhalb Stunden nicht zurück sein sollte, so geben Sie diesen Brief dem Mann, den Sie bei dem Hohlweg unten an der Straße finden werden. Sie werden dafür ein weiteres Pfund erhalten. Das erste ist hier.«

Der Gärtner schloß krampfhaft die Hand um den Schatz und starrte mit großen Augen auf den Mann, der sich im selben Augenblick mit einem Satz an der Mauer emporschnellte und auch schon oben saß. Er selbst war gewiß geübt in solchen Dingen, aber das hätte er nicht zustande gebracht.

»Vier Schritte rechts von Ihnen steht im Gebüsch eine Tasche«, flüsterte die dunkle Gestalt von oben herab. »Reichen Sie mir diese herauf, aber fassen Sie nicht allzu fest zu.«

Der Bursche suchte in der angegebenen Richtung, und als er den eigenartigen großen Lederbeutel ergriff und ihn emporhob, begann sich darin etwas lebhaft zu regen. Fast hätte er die Tasche vor Schreck wieder fallen lassen, aber der andere griff bereits rasch zu und war gleich darauf verschwunden.


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