Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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9

Das kleine Haus in Islington war äußerlich so schmutzig wie die enge, stickige Gasse, in der es lag, aber noch lange nicht so schmutzig wie die Räume, die es hinter klapprigen Türen barg. Das eine Zimmer im Erdgeschoß hatte zwei Bewohner, die selbst von der sehr anspruchlosen Nachbarschaft um dieses Dach über dem Kopfe nicht beneidet wurden. Man ging an dem alten Bau, in dem es eigentlich seit Jahren kein Leben mehr gegeben hatte, mit einer gewissen Scheu vorüber, und seine gegenwärtigen Insassen machten ihn nicht freundlicher.

Zu sehen war von ihnen eigentlich nur einer, und auch dieser nur selten, aber man wußte, daß er einen Genossen hatte, der nicht recht bei Verstand war und des Nachts zuweilen mit seinen tierischen Schreien die ganze Gasse weckte. Aber jeder der Nachbarn hatte eigene Sorgen in Hülle und Fülle und kümmerte sich um den Nächsten nicht, weil er auch selbst nicht wünschte, daß man die Nase in seine vier Wände steckte.

Billy Knox hatte eben seinen Nachmittagsschlaf beendet, steckte die rußige Petroleumlampe an, und der erste blinzelnde Blick aus seinen verquollenen Augen galt der primitiven Lagerstätte, die, der seinen gegenüber, die Wand einnahm. Als er das lange Bündel gewahrte, das regungslos dort lag, schien er beruhigt und machte sich möglichst geräuschlos daran, seine Tagesarbeit fortzusetzen und einen tiefen Schluck zu nehmen. Er bedurfte nach dem Schlafen immer einer Stärkung und nach dieser die Stärkung des Schlafes, und er konnte sich dies leisten, seitdem er das Glück gehabt hatte, eine so wunderbare Anstellung zu finden. Der Mann dort auf dem Bett war ja gewiß schwierig, und es war gerade kein Vergnügen, mit ihm zu hausen, aber für die Möglichkeit, so viel trinken zu dürfen, wie ihm schmeckte, hätte Billy ohne Zögern sogar mit des Teufels Großmutter gemeinsam Haushalt geführt.

Eben als Billy seine breite Nase langsam aus dem Glase herauszog und sich mit Behagen den nassen Schnurrbart aus dem Munde wischte, fuhr das Bündel jäh in die Höhe und starrte mit glanzlosen Augen in die Helle. Dann streckten sich ein Paar dürre Arme verlangend nach der Flasche aus, und von den bläulichen Lippen kam ein weinerliches Lallen, das kaum mehr etwas von menschlichen Lauten an sich hatte.

Die ganze ausgemergelte Gestalt bot von dem langen, wirren Haupthaar mit den grauen Strähnen und dem wildverwachsenen Gesicht bis zu den dünnen, kraftlosen Beinen ein Bild furchtbarster Verwahrlosung, und die glasigen Augen mit den großen Pupillen gaben ihr ein geradezu gespenstisches Aussehen.

Billy versicherte sich zunächst durch einen mißtrauischen Seitenblick, in welcher Verfassung sich sein Pflegling befand, dann bediente er sich erst selbst noch einmal aus der Flasche und goß hierauf ein zweites Glas bis zum Rande voll.

»Durst, mein Junge?« fragte er gönnerhaft. »Ein scheußliches Gefühl, wenn man nichts dagegen tun kann, aber wir können es uns leisten.«

Der Mann stürzte das scharfe Getränk hinunter, als ob es Wasser sei, und Billy konnte nur voll Bewunderung den Kopf schütteln.

»Im Kopfe bist du zwar nicht ganz richtig, aber die Gurgel ist in Ordnung«, sagte er anerkennend, »und das ist die Hauptsache. – Noch einen?«

Der andere nickte apathisch. Aber kaum hatte er das zweite Glas hinuntergegossen, ging mit ihm eine merkliche Veränderung vor. Er begann die Glieder zu strecken, und in seinen Augen flackerte es unruhig auf.

Billy Knox kannte diese üblen Vorzeichen und war auf seiner Hut.

Er brachte zunächst den wackligen Tisch zwischen sich und seinen unheimlichen Zimmergenossen und nahm dann die Pose eines Tierbändigers an.

»Sten«, knurrte er drohend, »mach keine Dummheiten. So leid es mir täte, ich müßte dich wieder einmal verbleuen, und wenn du dann dabei wieder eins abbekommst, daß dir acht Tage der Schädel brummt, so ist das nicht meine Schuld. Ich bin ein guter Kerl, aber was hilft das, wenn du ein Vieh bist.« Er hielt seinen Blick fest auf seinen Pflegling gerichtet, und dieser fiel furchtsam in sich zusammen.

»Gib mir mein Pulver«, keuchte er. »Nur ein bißchen von meinem Pulver . . .«

»Da mußt du warten, bis unser Freund kommt«, meinte sein Wärter und zuckte bedauernd mit den Achseln. »Whisky und deinen scheußlichen Fusel, soviel du willst, aber dein verdammtes Pulver kann ich dir leider nicht beschaffen. Verstanden?«

Er schlug mit seiner mächtigen Faust dröhnend auf den Tisch, und Sten schwankte zu seinem Lager.

Billy sagte sich verdrießlich, daß es wieder einmal eine unruhige Nacht werden würde, aber als sich nach etwa einer Viertelstunde die Tür auftat, hatten alle seine Befürchtungen ein Ende. Er sprang mit einem Satz auf und versuchte, vor dem alten, sorgfältig gekleideten Herrn einige tiefe Bücklinge zu machen, die ihm das Blut in den Kopf trieben.

Aber der Ankömmling hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern, denn er mußte alles aufbieten, um Sten von sich abzuwehren, der auf ihn zugesprungen war.

»Geben Sie ihm sein Teufelspulver, Mr. Pringle«, flüsterte Billy, »dann sind Sie ihn sofort los. Er hat ein Schweineglück, daß Sie heute gekommen sind, und ich hätte ihm wohl eine gehörige Tracht Prügel verabreichen müssen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.«

Der Fremde zog ein kleines Päckchen aus der Tasche seines Mantels, und kaum hielt es Sten in Händen, als er wieder zu seinem Lager eilte. Dort riß er mit unsicheren Fingern die Hülle auf, und dann hörte man nichts mehr von ihm.

»Wie steht es?« fragte der freundliche Pringle Billy, der mit dem Rockzipfel dienstbeflissen einen der morschen Stühle säuberte. »Hat er mal Augenblicke, in denen es sich mit ihm reden läßt?«

»Das könnte man gerade nicht sagen«, meinte Knox und schüttelte verdrießlich den Kopf. »Ich gebe mir ja alle Mühe, denn wenn man so sitzt und sein Gläschen trinkt und seine Pfeife raucht, gehört dazu auch ein gemütlicher Plausch. Aber ich mag anfangen, wovon ich will, er gibt auf nichts eine Antwort. Manchmal kommt es mir überhaupt so vor, als ob er nicht einmal verstünde, was ich sage. Und er selbst macht nur das Maul auf, wenn er trinken will oder nach seinem Pulver verlangt.«

»Lassen Sie ihm nur nichts abgehen«, sagte Pringle mit sanfter Stimme. »Ich werde auch dafür sorgen, daß Sie immer ein Reservepäckchen von seinem Pulver haben, wenn ich einmal längere Zeit nicht kommen könnte.«

Er warf einen forschenden Blick auf den armen Kerl, der plötzlich ganz ruhig auf seinem unordentlichen Lager saß.

»Nun, mein Lieber, wie fühlen Sie sich?« fragte er.

Der Mann schien die Frage völlig überhört zu haben, denn er rührte sich nicht. Plötzlich aber wandte er seinen Blick langsam auf den Besucher, und aus seinen Mienen war mit einem Male alles Unheimliche gewichen.

»Wenn Sie noch einige Augenblicke gewartet hätten«, sagte er stockend und mit etwas lallender Zunge, »würde ich geantwortet haben: ausgezeichnet. – Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir mein Pulver gebracht haben.«

Er sprach ganz vernünftig und sehr gewählt, und mit dem wiederkehrenden Bewußtsein schien ihm auch das Verständnis für seine Verfassung und seine Umgebung zu dämmern. Er blickte verlegen an seiner armseligen, schmutzigen Gestalt herunter und schlüpfte in einen alten Mantel, der auf dem Bett lag.

»Sie müssen verzeihen, daß ich Sie so empfange«, entschuldigte er sich, »aber ich bin krank und kann mich um nichts kümmern.«

»Das wird schon alles wieder anders werden«, tröstete ihn der Besucher mit einem gütigen Lächeln. – »So, wie es früher einmal war«, fügte er mit einem gewissen Nachdruck hinzu und sah Sten durchdringend an. »Erinnern Sie sich noch?«

Mr. Pringle hielt die Augen hinter den scharfen Brillengläsern halb geschlossen und schien die Antwort mit lebhafter Spannung zu erwarten. Aber der Kranke hatte die Brauen zusammengezogen, als ob er angestrengt über etwas nachdächte, und seine Miene nahm einen verträumten Ausdruck an.

Dann begann er plötzlich lebhaft zu nicken und rieb sich mit kindischer Freude die Hände.

»Oh, zuweilen erinnere ich mich«, sagte er mit einer gewissen Vertraulichkeit. »Es muß sehr schön gewesen sein damals, denn ich sehe dann immer so viele herrliche Dinge und so viele Menschen. Und manchmal spricht eine sehr liebe Stimme zu mir, aber ich weiß nicht, wo ich sie schon einmal gehört habe. Und es ist überhaupt alles immer gleich wieder vorbei. Ich möchte diese schönen Bilder gerne festhalten, damit es hier nicht so traurig ist, aber es geht nicht. – Ich bin sehr krank, Sir.«

»Aber Ihren Namen werden Sie sich wohl gemerkt haben?« fragte der teilnahmsvolle Gast.

»Meinen Namen?« Sten starrte hilflos um sich und begann wieder angestrengt zu grübeln.

»O ja«, versicherte er verlegen. »Billy ruft mich ja immer.«

Er sah seinen Zimmergenossen flehend an, und dieser ließ sich nicht lange bitten.

»Sten Moore«, brüllte er so nachdrücklich, als ob er dem andern den Namen in den Kopf hämmern wollte. »Sten Moore.«

»Jawohl«, bekräftigte der Kranke lebhaft und sah Pringle triumphierend an. »Sten Moore.«

Dann begann er plötzlich wie ein Trunkener zu schwanken und fiel auf sein Lager zurück.

»Es ist ein Kreuz mit ihm, Sir«, klagte Billy verzweifelt. »Hundertmal am Tage schreie ich ihm ins Ohr, wie er heißt, weil Ihnen so daran gelegen ist, aber er kann nichts in seinem Schädel behalten.«

Der freundliche Mr. Pringle schien Billy auch nicht dafür verantwortlich zu machen, denn als er sich zum Gehen wandte, legte er statt des einen Scheins, wie sonst, deren zwei auf den schmierigen Tisch.

»Weil Sie sich des armen Kranken so annehmen«, sagte er anerkennend. »Aber vergessen Sie ja nicht«, schärfte er ihm ein, »mich sofort zu benachrichtigen, wenn hier etwas geschehen sollte.«

Billy verbeugte sich noch immer bis zur Erde, als der Besucher das Haus bereits verlassen hatte und eilig dem Ausgang der düsteren Gasse zustrebte. Er hielt sich dicht an den Mauern, und seine Augen blickten bei jedem Schritt scharf ins Dunkel. Plötzlich stockte sein Fuß, und er drückte sich regungslos in den tiefsten Schatten, aber es war bereits zu spät.

Der untersetzte Mann, der etwa zehn Schritte vor ihm plötzlich aufgetaucht war, hatte ihn offenbar schon bemerkt und kam nun langsam näher.

Der Herr mit der Brille zögerte noch einen Augenblick, dann schob er die Hände in die Taschen und setzte seinen Weg unbefangen fort.

Der Entgegenkommende hielt haarscharf auf ihn zu, und es schien, als ob er nicht gerade die freundlichsten Absichten hätte. Als sie aber dicht voreinander standen, begnügte er sich damit, dem alten Herrn mit einer Taschenlampe blitzschnell ins Gesicht zu leuchten.

Mr. Pringle wandte geblendet das Gesicht zur Seite und schlüpfte vorbei, während der andere gelassen weiterging.

Er hatte aber kaum einige Schritte getan, als der alte Herr jäh herumschnellte und den Arm in die Luft warf.

Sekundenlang war ein metallisches Singen zu hören, dann schwankte der neugierige Mann und stürzte rücklings zu Boden. Pringle zog mit kräftigen Armen an dem dünnen Drahtseil, das er in Händen hielt, und schleifte den massigen, zappelnden Körper rasch zu sich heran.

Er hatte das schwere Stück Arbeit fast schon vollbracht, als er plötzlich taumelte und zu Boden gestürzt wäre, wenn er nicht an der Mauer Halt gefunden hätte. Fast gleichzeitig sprang auch der Überfallene wieder auf die Füße, und aus seiner Hand schoß ein Feuerstrahl, den der scharfe Knall eines Schusses begleitete . . .

Das Geschoß schlug etwa einen Zoll neben dem Kopf des alten Herrn in die Hausmauer, und der Schütze kam nicht dazu, seine Waffe zum zweitenmal abzudrücken. Er sah nur mehr für Sekunden einen undeutlichen Schatten, der in wilder Flucht davonstürzte und dann verschwand, als ob ihn die Erde verschlungen hätte.


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