Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13

Als Hubbard an diesem Abend nach Geschäftsschluß das Kaufhaus »Zu den tausend Dingen« verließ, machte er vor dem Portal einige Augenblicke halt und zündete sich umständlich eine Zigarette an. Dann sah er nach der Uhr, die acht Minuten nach sieben zeigte, und schlenderte hierauf die belebte Straße hinab.

Vor einer der Auslagen machte er halt, um den schlichten Mann mit dem freundlichen Gesicht, der schon seit Tagen ein besonderes Interesse an ihm zu nehmen schien, näher herankommen zu lassen. Aber der Mann hielt vorsichtig Distanz, und Hubbard benützte die Gelegenheit, an der nächsten Ecke schnell in eine Taxe zu springen, die dem plötzlich geschäftig heraneilenden Verfolger auf etwa zehn Schritte vor der Nase davonfuhr.

Um acht Uhr zehn Minuten saß der bei Mrs. Irvine mit einem Wochengehalt von sieben Pfund angestellte Sekretär in einem äußerst schnittigen Frack in einer Loge des Central-Theaters, für die er die Kleinigkeit von drei Pfund und vier Schillingen bezahlt hatte.

Neben ihm lag auf einem der Polsterstühle ein Paket, das er mit äußerster Behutsamkeit behandelte.

Wie an jenem Abend, da er Gast des Direktors gewesen war, wurde »Aïda« gegeben, und die Vorstellung hatte bereits begonnen.

Hubbard lehnte sich in seinem Fauteuil zurück und ließ den Blick zunächst durch den Zuschauerraum gleiten.

Er konnte aber keinen Bekannten entdecken, bis plötzlich eine Dame in einer Loge gegenüber seine Aufmerksamkeit erregte. Das Theater war zwar verdunkelt, aber das Rampen- und Oberlicht der Bühne ergab doch eine gewisse Helligkeit, die es seinem scharfen Auge ermöglichte, die auffallende Erscheinung durch das Glas näher zu betrachten.

Es war eine reife, etwas üppige Blondine in einer wundervollen Abendtoilette und behangen mit Juwelen, von denen ein wahres Sprühfeuer ausging.

Er starrte minutenlang auf die blendende Erscheinung und vermochte seiner Verwunderung nicht Herr zu werden, denn es war noch nicht allzu lange her, daß er Lucy Rowe in einem ganz anderen Milieu und in einer weit bescheideneren Aufmachung gesehen hatte.

Den ganzen Akt verwandte er dazu, um unauffällig festzustellen, ob ihn nicht vielleicht doch eine Ähnlichkeit täusche, aber je länger er das zwar etwas volle und verlebte, aber immer noch auffallend hübsche Gesicht betrachtete, desto sicherer wurde er, daß es tatsächlich die »Champagner-Lucy« war, die mit der blasierten Würde einer großen Dame ihm gegenüber saß.

Das Fallen des Vorhangs unterbrach ihn in seiner Beobachtung und ließ ihn plötzlich lebendig werden.

Er setzte sich so, daß er die Rampe übersehen konnte und von dort auch gesehen werden mußte, und als der Beifall losbrach, begann auch er lebhaft zu applaudieren. Er streckte die Arme weit vor und klatschte so laut und begeistert, daß sich in dem Zuschauerraum zahlreiche Augenpaare auf ihn richteten, und auch die Darsteller, die vor dem Vorhang erschienen, nach seiner Loge sahen.

Nur Miss Mariman, die, wie immer, wenn sie den Hervorrufen folgte, einen Schleier halb über das Gesicht geschlagen hatte, schaute starr zu Boden, und man merkte, wie nervös sie diese Augenblicke machten.

Kaum war sie an die Rampe getreten, so verstärkte Hubbard seinen Applaus noch mehr und tat überhaupt alles, um sich bemerkbar zu machen.

Die Sängerin ließ sich tatsächlich auch verleiten, die Lider zu einem flüchtigen Seitenblick nach der Loge zu heben, aber schon in derselben Sekunde wandte sie das Gesicht blitzschnell wieder ab und zog unwillkürlich den Schleier bis zu den Augen.

In diesem Moment griff Hubbard nach der Papierhülle an seiner Seite, erhob sich gelassen, und in der nächsten Sekunde fiel vor Miss Mariman ein Strauß herrlicher Rosen nieder.

Die Künstlerin zuckte zusammen – dann schleuderte sie mit einer brüsken Bewegung des Fußes die Blumen ins Orchester und schlüpfte fluchtartig hinter den Vorhang.

Der Vorfall hatte, so rasch er auch vor sich gegangen war, die Aufmerksamkeit des ganzen Hauses erregt, und alles sah, teils schmunzelnd und teils auch schadenfroh, auf den begeisterten Logengast. Sogar die Dame gegenüber verzog den gefärbten üppigen Mund zu einem spöttischen Lächeln und blickte interessiert durch das Glas.

Hubbard hielt mit unerschütterlicher Ruhe alle die Blicke aus und tat so, als ob ihn die Sache überhaupt nichts angehe.

Nach etwa zehn Minuten tat sich die Tür auf, und Turner schüttelte ihm die Hand.

»Ich freue mich ja immer, Sie zu sehen«, sagte er mit einem etwas gezwungenen Lächeln, »aber nächstens machen Sie mich, bitte, etwas diskreter darauf aufmerksam, daß Sie im Hause sind. Und Miss Mariman auch. Die scheint es Ihnen ja ganz gehörig angetan zu haben, da Sie so ins Zeug gehen. So etwas hätte ich Ihnen nie zugetraut. Wir sind ja in England und nicht in Italien.« Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn und fächelte sich Kühlung zu. »Sie haben mir damit einen schönen Schreck eingejagt«, fuhr er vorwurfsvoll fort. »Miss Mariman hat wegen der Geschichte einen ähnlichen Anfall bekommen, wie damals wegen der Spinne, und wir werden die Pause etwas länger ausdehnen müssen, damit sie sich erholt. – Ich habe ja beim Theater schon manches erlebt, aber daß eine Künstlerin wegen einer derartigen Huldigung die Nerven verloren hätte, ist mir noch nicht vorgekommen. Sie werden sich damit kein gutes Renommee bei ihr zugelegt haben, mein Lieber.«

»Glauben Sie?« fragte Hubbard. »Das würde mir natürlich sehr leid tun. Ich konnte aber doch nicht annehmen, daß die Dame so schreckhafter Natur ist«, fügte er hinzu. »Vielleicht wäre es gut, wenn Sie mir ermöglichen würden, mich bei ihr zu entschuldigen.«

»Um Gottes willen, nur das nicht«, wehrte der Direktor entsetzt ab. »Ich glaube, dann wären wir überhaupt fertig. Sie hat ohnehin geschrien, daß sie die Bühne nicht mehr betritt, wenn Sie im Hause bleiben, und es hat mich Mühe genug gekostet, ihr diese verrückte Laune auszureden. – Also, lassen Sie das, und geben Sie überhaupt die ganze Geschichte auf. Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, daß Sie da kaum Erfolg haben werden. Mit der Frau ist offenbar irgend etwas los. Ich werde sehr froh sein, wenn ich in vier Wochen die Opernstars mit allem, was drum und dran hängt, aus dem Hause habe und wieder mit meinen Revuegirls arbeiten kann. Die haben eine etwas widerstandsfähigere Konstitution, und ich glaube, dann können auch Sie Ihr Glück mit mehr Erfolg versuchen.«

Turner zwinkerte dem andern vielsagend zu, aber dieser schien seine letzte Worte völlig überhört zu haben und blickte sehr nachdenklich drein.

»Wenn Miss Mariman plötzlich aufhören müßte, würde Ihnen das wohl große Verlegenheit bereiten?« fragte er plötzlich unvermittelt.

»Seien Sie so gut und malen Sie den Teufel nicht an die Wand«, fuhr der ängstliche Direktor auf und klopfte erschreckt an die Logenbrüstung. »Die paar Wochen wird sie hoffentlich noch durchhalten.«

»Trotzdem würde ich an Ihrer Stelle mich unbedingt nach einem Ersatz umsehen«, meinte Hubbard mit großem Nachdruck. »Bei so nervösen Frauen kann man nie wissen, was eines schönen Tages passiert.«

»Sie sagen das so eigentümlich«, murmelte der Direktor betreten. »Soll das ein Rat sein?«

Hubbard nickte gelassen.

»Ein sehr guter Rat sogar, wie ich glaube.«

»In Ihnen kennt man sich wirklich nicht aus«, seufzte Turner etwas gereizt. – »Ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, weshalb Sie Miss Mariman die Blumen zugeworfen haben.«

»Natürlich nur, um ihr meine Bewunderung zum Ausdruck zu bringen«, erklärte der elegante junge Mann unbefangen, aber der Direktor begann eigenartig zu blinzeln.

»Das erzählen Sie jemandem andern. Die Geschichte sah Ihnen so gar nicht ähnlich, und je länger ich mir die Sache überlege . . .«

Aber der Sekretär hatte für diese Zweifel augenblicklich bei weitem nicht so viel Interesse wie für die Loge gegenüber.

Es war dort offenbar jemand eingetreten, denn die juwelengeschmückte Dame hatte blitzschnell den Kopf dem Hintergrund zugewandt, und es schien, als ob sie in außerordentlicher Bestürzung und Verlegenheit sei.

Hubbard nahm rasch das Glas zur Hand, aber es war ihm unmöglich, etwas von der zweiten Person wahrzunehmen. Er konnte nur bemerken, daß die Züge der blonden Frau immer gereizter wurden und daß sie mehrmals trotzig den Kopf zurückwarf. Dann schien es in der Loge eine leise, aber heftige Auseinandersetzung zu geben, und plötzlich raffte die Dame ihre Sachen zusammen und stürzte nach hinten.

In demselben Augenblick war auch Hubbard auf den Beinen und schlüpfte hastig in seinen Mantel.

»Warum haben Sie es denn plötzlich so eilig?« fragte der erstaunte Turner. »Haben Sie etwa für Miss Mariman bereits einen Ersatz gefunden?«

»Vielleicht«, gab der Sekretär zurück, indem er dem Direktor flüchtig die Hand schüttelte und zur Tür hinausschoß.

Trotz seiner Eile kam er aber bereits zu spät und konnte nur noch bemerken, daß sich ein mittelgroßer Herr neben die blonde Dame in einen großen italienischen Wagen neuesten Typs schwang, der in demselben Augenblick auch schon lautlos davonglitt.

Der Herr hatte es so eilig gehabt, die Frau wegzubringen, daß er den Mantel nur über den Arm geworfen hatte, und als er sich in den Wagen zwängte, war aus einer der Taschen ein Papier zur Erde gefallen.

Nun hatte Hubbard den Fuß auf diesem Papier, und er ließ eine geraume Weile verstreichen, bevor er sich bückte, um es aufzuheben. Dann ging er langsam in das Foyer zurück und faltete vor einer der Ankündigungstafeln den Bogen gelassen auseinander.

Die erste Zeile, auf die sein Blick fiel, lautete:

»25. Februar 1937. – Gewerbsmäßiges Falschspiel. – Acht Wochen Gefängnis. – 23. März bis 18. Mai 1937 – Dartmoor. Zelle 44.«

Je weiter er las, desto betretener wurde sein Gesicht, denn er wurde plötzlich an alle die unangenehmen Tage erinnert, die er bereits abgesessen hatte.


 << zurück weiter >>