Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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26

»Bei meiner Seele«, sagte Billy Knox, indem er geräuschvoll die Whiskytropfen von seinem Schnurrbart sog und seinen Pflegebefohlenen wohlgefällig betrachtete, »so etwas sollte man nicht für möglich halten. Vor ein paar Wochen noch waren Sie ein Häuflein Elend, wie mir noch keins im Leben untergekommen ist, und jetzt könnte man glauben, Sie wären ein Gentleman, der sich jede Woche ein frisches Hemd leisten kann und was sonst noch dazu gehört.«

Das Staunen Billys über die Veränderung, die mit Sten Moore vorgegangen war, war so ehrlich und nachdrücklich, daß er es nun ungehörig fand, seinen Schützling zu duzen.

Dieser Wandel der Dinge hatte in jener Nacht begonnen, als der menschenfreundliche Mr. Pringle plötzlich in dem schmutzigen Loch in Islington erschienen war, ihn und den schlaftrunkenen Sten in fieberhafter Eile in ein Auto gesteckt und nach langer Fahrt in einem anderen Quartier abgeladen hatte.

Die neue Unterkunft unterschied sich von der ersten in so vorteilhafter Weise, daß Billy sich geradezu unheimlich fühlte. Es lagen da ganz unnütze Teppiche auf dem Fußboden herum, und ebenso unnütz fand Billy die verschiedenen Decken auf den Tischen, auf denen die Whiskyflasche so unsicher stand. Auch die Betten waren nicht nach seinem Geschmack, denn sie sahen so sauber aus, daß man sich nicht getraute, sich mit den Kleidern und Stiefeln hineinzulegen, wie er das sein Leben lang gewohnt war. Auch hatte ihm Mr. Pringle gesagt: »Diese Wohnung ist kein Schweinestall wie jene in Islington. Sorgen Sie dafür, daß sie in Ordnung bleibt«, und Billy Knox war ein alter Vollmatrose, der gehorchen gelernt hatte. Er ging den ganzen Tag mit einem Kübel Wasser, einem großen harten Besen und einem umfangreichen nassen Lappen umher, und wenn sich irgendwo irgend etwas zeigte, was nach Schmutz oder einem Fleck aussah, so entfaltete er eine emsige Tätigkeit.

Mit Sten Moore war das etwas anderes, denn er schien an solche umständlichen Wohnungen und Betten gewöhnt zu sein, und seitdem ihn Mr. Pringle eines Tages mitgenommen und nach einigen Stunden gestriegelt und ausstaffiert wie einen Dandy zurückgebracht hatte, tat er überhaupt so, als ob es nie anders gewesen wäre. Er war zwar noch immer etwas wirr im Kopf, und Billy fürchtete sich sogar zuweilen vor dem eigenartigen Blick seiner glänzenden Augen, aber es ließ sich nun mit ihm ganz gut auskommen. Wenn er nicht im Bett lag und zur Decke starrte, so marschierte er in seinem Zimmer auf und ab und schien über etwas krampfhaft nachzudenken. Oder er saß stundenlang vor dem Spiegel, betrachtete lächelnd sein Gesicht und probierte die Anzüge und Krawatten, die ihm der gutherzige Mr. Pringle geschenkt hatte.

Die Fürsorge Mr. Pringles für den Kranken war so groß, daß er sich nun fast täglich am späten Abend einstellte, um sich zu erkundigen. Dabei sah er schon längst nicht mehr so aus, wie der Mr. Pringle, der immer in die schmutzige Gasse gekommen war, sondern fast jedesmal anders, aber Bill zerbrach sich über die Maskerade nicht den Kopf. Solche Wohltäter haben zuweilen ihre Schrullen, und wenn die Schillinge, die immer abfielen, echt waren, konnte von ihm aus an dem guten Mr. Pringle alles übrige falsch sein.

Heute war es bereits ungewöhnlich spät, als der Herr Wohltäter erschien, und er verriet diesmal eine gewisse Erregung, die sogar dem sonst nicht gerade scharfsinnigen Billy auffiel.

Moore war noch vollständig angekleidet und lag mit behaglich ausgestreckten Beinen rauchend und träumend in einem Fauteuil. Er sah wirklich tadellos aus, und wenn nicht das totenblasse, zerfurchte Gesicht mit den unheimlichen Augen einen so abstoßenden Eindruck gemacht hätte, wäre der Mann eine sehr vornehme Erscheinung gewesen.

»Nun, was machen wir?« fragte der Besucher leutselig, indem er den Kranken mit einem scharfen Blick musterte.

»Was wir immer machen«, gab Sten launig zurück. »Wir denken nach.«

»Wohl über angenehme Dinge?«

Moore wiegte mit dem Kopf.

»Über angenehme und unangenehme Dinge«, erwiderte er in seiner lallenden Sprechweise. »Leider lassen sich die Erinnerungen nicht so genau auseinanderhalten. Wenn ich nur über die Frau ins klare kommen könnte«, flüsterte er geheimnisvoll. »Ich sehe ja verschiedene Leute vor mir, aber die interessieren mich alle nicht.«

»Auch Corner?« fragte Pringle lauernd, indem er den Namen nachdrücklich betonte. »Einen Herrn mit einer Binde über dem Auge . . .«

»Corner . . .«, murmelte Sten grübelnd. »Ich habe wohl den Namen schon einmal gehört«, meinte er dann gleichgültig, geriet aber sofort wieder in Eifer, und sein Gesicht bekam einen gefährlichen Ausdruck.

». . . Die Frau, wissen Sie, die immer um mich ist«, stieß er stammelnd hervor. »Ich werde noch um den Verstand kommen, wenn ich mich nicht erinnere.«

»Möchten Sie sie wiedersehen?« kam es leise von den Lippen des Besuchers.

Moore hatte schon wieder die Augen geschlossen und lächelte sanft wie ein Kind.

»Wiedersehen? Die Frau? – Ich sehe sie ja so oft, aber sie ist nicht zu halten . . .«

Pringle sagte sich, daß die Stunde für seine Pläne gekommen sei, und er beschloß zu handeln . . .

*

Sein kleiner Chrysler-Zweisitzer flog mit Windeseile dahin, und es war noch keine volle Stunde verflossen, als die düsteren Umrisse von Skidemore-Castle vor ihm auftauchten und der Wagen gleich darauf mit leisem Summen in die Einfahrt schoß. Der alte Torwart mit dem Galgengesicht blickte noch verdrießlicher drein als sonst, schien aber den unverhofften nächtlichen Besuch doch als eine gewisse Erleichterung zu empfinden.

»Sie schlägt alles kurz und klein, Sir«, flüsterte er ganz aufgeregt. »Und dabei hat sie so geschrien«, fügte der Mann besorgt hinzu, »daß man sie sicher draußen gehört hat, wenn jemand in der Nähe gewesen ist.«

»Laß sie toben«, fuhr ihn der Herr wütend an. »Und wenn sie beim Fenster zu laut wird, so nimm die große Spritze und halte sie ihr ins Gesicht. Wozu haben wir denn eine Wasserleitung. – Wie verhält sich Jessie?«

Der Mann zuckte mit den Achseln.

»Das Mädel rennt herum, als ob der Teufel hinter ihr her sei.«

Strongbridge nagte eine Weile nervös an den Lippen und schien zu überlegen.

»Paß scharf auf sie auf«, sagte er dann nachdrücklich. »Ich traue ihr nicht. – Und wenn sie entwischen sollte, so nimm den ersten Strick, der dir in die Hände kommt, und hänge dich dran auf«, fügte er drohend hinzu. »Das ist kürzer und angenehmer, als wenn es ein anderer besorgt.«

Der Herr von Skidemore-Castle stieg behutsam in das erste Stockwerk hinauf. Das ganze Haus lag in tiefem Dunkel, und in den Mauern herrschte Totenstille.

Einen Augenblick hatte Strongbridge gefürchtet, daß Lucy, die seit Tagen in ihren Zimmern eine Gefangene war, seine Ankunft vielleicht bemerkt haben könne und neuerlich losbrechen werde, aber es blieb alles still.

Strongbridge schlich den langen Gang gegen den östlichen Turm auf leisen Sohlen hinab und knipste vor der letzten Tür seine Taschenlampe an. Als er die dreifache Sicherung geräuschlos aufgeschlossen hatte und den Türflügel öffnete, trat sein Fuß auf irgend etwas, und es gab ein knackendes Geräusch.

Er sah mechanisch zu Boden, fühlte aber dann, daß sich der Gegenstand unter dem Läufer befand und schlug diesen zurück. Gleich darauf kniete er auf dem Boden und klaubte sorgfältig die Überreste einer weißen Spinne zusammen, die er zertreten hatte.

Als er das Zimmer betrat und das Licht einschaltete, schien er sichtlich einer Sorge ledig zu sein, die ihn sehr bedrückt hatte.

Nachdem Strongbridge eine Weile nachdenklich in den weiten vier Wänden herummarschiert war, blieb er plötzlich in einer der Ecken stehen, schlug einen abgenützten Teppich zurück und legte mit einem geschickten Griff eine kleine Öffnung in dem Parkettboden frei. Er kramte eine Weile darin herum und brachte schließlich ein schweres Messer und eine zusammengerollte, etwa vierzöllige Drahtschnur zum Vorschein, die er über den rechten Arm schob. Dann zog er die Kleiderpuppe mit dem Holzkopf aus ihrem versteckten Winkel, stellte sie frei an das eine Ende des riesigen Raumes und begann dann vor der gut fünfzehn Schritte gegenüberliegenden Wand eine eigenartige Beschäftigung: Er machte eine kurze schnellende Handbewegung aus dem Handgelenk, worauf die schmiegsame Schnur mit einem leisen, singenden Ton durch die Luft schoß. Sein Blick haftete unter halbgeschlossenen Lidern scharf auf dem Ziel, dann zuckte sein Unterarm plötzlich zurück, und das Holzgestell stürzte polternd zu Boden. Wohl an die zwanzigmal versuchte sich der Mann in diesem Wurf, und obwohl er unausgesetzt seinen Standplatz wechselte und die Würfe einander immer rascher folgten, ging doch nicht ein einziger fehl. Die gleitende Schlinge fiel, ohne ihn auch nur haarbreit zu streifen, immer über den Kopf, und der wohlberechnete kurze Ruck zog sie im nächsten Augenblick um den Hals zusammen. Als der Mann endlich diesen Zeitvertreib satt hatte, begann er einen neuen: Er nahm das Messer, ließ den Griff einige Male leicht in der Hand spielen und schleuderte dann die Waffe plötzlich gegen dasselbe Ziel, das früher für seine Schlinge gedient hatte. Der Aufschlag war so kräftig, daß die Puppe jedesmal ins Wanken geriet, und das Messer steckte tief in der linken Brustseite, die bereits eine Unzahl von Schnitten und Rissen aufwies. Auch dieses Kunststück wiederholte Strongbridge mit hartnäckiger Ausdauer und, wie vorher die Schnur, warf er nun die Waffe von den verschiedensten Richtungen her immer mit derselben unfehlbaren Sicherheit.

Der Mann hätte sich mit dieser seiner erstaunlichen Fertigkeit sehen lassen können und schien auch selbst mit sich zufrieden zu sein, denn sooft er das Messer aus dem Holz riß, spielte um seinen Mund ein böses, triumphierendes Lächeln. Zuweilen aber schoben sich seine dichten Brauen grübelnd zusammen, und er schüttelte ratlos den Kopf, weil er sich nicht zu erklären vermochte, wie bei seiner sicheren Hand gerade der eine Wurf nach der schimmernden Hemdbrust im Zimmer Nummer 7 hatte fehlgehen können. Das war ein Rätsel, das Mr. Pringle alias Strongbridge außerordentlich beschäftigte und beunruhigte. Dieser Kommissar Conway war ein Mann, bei dem man in jeder Hinsicht auf die geschicktesten Gegenzüge und Überraschungen gefaßt sein mußte, und Strongbridge verhehlte sich nicht, daß es diesmal einen erbitterten Entscheidungskampf geben würde.

Er stellte die Puppe wieder beiseite und hängte einen alten Mantel darüber. Dann steckte er das Messer in eine Art Scheide und ließ es mit der Drahtschnur in die innere Tasche seines Mantels gleiten.

Nachdem er gedankenvoll seine Pfeife gestopft und in Brand gesetzt hatte, begann er, sich an der schweren dunklen Holztäfelung an der Turmseite des Zimmers zu schaffen zu machen, und legte eine kleine eiserne Tür bloß, die in das starke Mauerwerk eingelassen war. Sie hatte eine dicke Polsterung, die fast die ganze Nische ausfüllte, und nur knapp am Rand, wo ein kunstvoll geschmiedetes Schlüsselloch saß, lag das Eisen bloß. Strongbridge schloß behutsam auf und stieß die schwere Tür zurück.

Es war ein ziemlich geräumiges Gemach, das von einer starken Deckenlampe taghell erleuchtet wurde und einen sehr aparten und freundlichen Eindruck machte. Die alten Möbel, die überall herumstanden, waren gut erhalten, und eine ordnende Hand hätte hier ohne weiteres eine gewisse Behaglichkeit schaffen können.

Einen Teil der Rundung nahm ein gemauerter Kamin ein, daneben befand sich ein kleiner elektrischer Kochherd und in einer verhangenen Nische sogar eine Bade- und Waschgelegenheit mit fließendem Wasser. Der Mann, der diesen geheimen Raum angelegt hatte, war offenbar auf alle Möglichkeiten vorbereitet gewesen, und Strongbridge hatte hier für den Fall äußerster Gefahr eine Zufluchtsstätte, deren Entdeckung kaum wahrscheinlich war. Denn die schmale Steintreppe, die vom Hof aus zu der Plattform des Turmes führte, ließ nicht vermuten, daß sich darunter ein Wohnraum befinde, und die schießschartenähnlichen, schmalen Öffnungen, durch die ihm Licht und Luft zugeführt wurden, waren so geschickt angebracht und so von Efeu überwuchert, daß sie selbst das schärfste Auge nicht wahrzunehmen vermochte.

Strongbridge rückte die Möbel zurecht, sah in die verschiedenen Kästen und Laden und schien alle Vorbereitungen dafür zu treffen, damit hier bald ein Bewohner einziehen könne.

Eine kleine Weile später glitt der Chrysler-Wagen lautlos, wie er gekommen war, wieder aus dem Tor von Skidemore-Castle, und erst als Strongbridge die Zufahrtsallee hinter sich hatte, schaltete er die starken Scheinwerfer ein, die ihm nun für seine rasende Fahrt den Weg wiesen.


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