Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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29

Meals war ein Beamter von geradezu fanatischem Arbeitseifer, und es gab keine Tages- oder Nachtstunde, die ihn nicht schon in Scotland Yard gesehen hätte. Der freundliche rosige Mann schien nur für seinen Dienst zu leben, und er war überall gut angeschrieben.

Nun rannte er wieder seit vielen Stunden mit zwei Neuigkeiten herum, die ihm auf der Zunge brannten, und konnte sie nicht loswerden. Die eine Neuigkeit war der Spinnenfund, von dem der Kommissar noch immer nichts wußte, und die zweite Meldung, die er brachte, war womöglich noch wichtiger.

Eben als er wohl zum zwanzigstenmal an diesem Vormittag enttäuscht von dem verschlossenen Zimmer Nummer 7 abzog, kam ihm Sergeant Gibbs in den Weg, und Meals war bereits so ungeduldig, daß er ihm mit verdrießlichem Gesicht entgegentrat.

»Sagen Sie mir einmal, ist denn Ihr Kommissar wirklich nie am Tag zu sprechen?« fragte er verzweifelt. »Wenn man ihn am Abend gerade verfehlt, kommt man bei ihm innerhalb vierundzwanzig Stunden überhaupt nicht mehr vor.«

»Nein«, gab Gibbs kurz zur Antwort, »da schläft er. Einmal muß der Mensch doch schlafen, und wenn er in der Nacht Dienst tut, so kann es eben nur tagsüber sein.«

»Wenn man ihn wenigstens in seiner Wohnung erreichen könnte«, meinte Meals ratlos. »Aber ich bin bereits dreimal dort gewesen, und man hat mir nicht einmal aufgemacht.«

»Natürlich nicht«, sagte Gibbs, »weil er das nicht will. Wenn er zu Hause ist, gibt's für ihn keinen Dienst.«

»Na, Sie müssen das ja am besten wissen, denn Sie wohnen doch im selben Haus.«

»Weiß ich auch«, erwiderte Gibbs, indem er phlegmatisch nickte. »Und darum würde ich mich auch gar nicht getrauen, an seiner Tür zu klopfen, selbst wenn mir bekannt wäre, daß unter seinem Bett eine Bombe liegt. Denn er würde mich die Treppe hinunterwerfen und hinter mir herschreien: ›Stören Sie mich nicht. Die Sache, derentwegen Sie solchen Lärm machen, weiß ich schon längst.‹«

»Sie müssen auch kein leichtes Brot haben«, meinte Meals mit einem vertraulichen Blinzeln. »Wie lange sind Sie ihm denn schon zugeteilt?«

Der »Zauberlehrling« gab ausnahmsweise keine grobe Antwort, sondern schob seine Pfeife geschickt in den anderen Mundwinkel und rechnete umständlich an den knochigen Fingern nach.

»Am ersten waren es dreizehn Monate genau auf den Tag.«

»Eine schöne Zeit«, seufzte Meals. »Und wenn man bedenkt, daß Sie ihn dabei auch noch nie zu Gesicht bekommen haben, so ist das eigentlich geradezu unheimlich.«

Der mürrische Sergeant lächelte plötzlich, was Meals ihm nie zugetraut hätte.

»Lange nicht so unheimlich«, meinte er, indem er die Augen zusammenkniff und mit der Pfeife zwischen den Zähnen kunstvoll ausspuckte, »als wenn es anders wäre. Schließlich sind dreizehn Monate eine lange Zeit, und man hat doch Augen im Kopf.«

Er brach jäh ab, als hätte er schon zuviel gesagt, aber Meals war nicht gesonnen, sich mit dieser Andeutung zufriedenzugeben.

»Das habe ich mir auch gedacht«, fiel er hastig ein, indem er den andern vertraulich unter dem Arm faßte. »Ein oder das andere Mal muß er Ihnen doch schon in den Weg gelaufen sein, und etwas werden Sie dabei wohl gesehen haben.«

Meals' freundliche Augen hingen voll Ungeduld und Spannung an dem Kollegen, der aber plötzlich nicht mehr recht mit der Sprache heraus wollte.

»Nichts, was mich neugierig gemacht hätte«, erwiderte er ausweichend. »Ich habe an Augen und Nase gerade genug gehabt.«

»Was für Augen?« forschte der andere interessiert und trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den andern.

Gibbs hob die Schultern.

»Wilde«, gab der kurz zurück. »Und eine breite, fleischige Nase – wie ein Neger.«

Meals' naives Gemüt nahm diese etwas dürftige Beschreibung mit einem gewissen Schauder auf, hielt es aber für besser, nicht weiter zu fragen.

Als er um die Mittagsstunde Scotland Yard verlassen wollte, um sein bescheidenes zweites Frühstück einzunehmen, wurde er noch im letzten Augenblick von einem Polizisten abgefangen, der ihn zu seiner größten Überraschung nach Zimmer Nummer 7 beorderte. Seit der Vorladung von Mrs. Irvine war dies das zweite Mal, daß Kommissar Conway sich während des Tages in seinem Büro einstellte, und Meals zerbrach sich vergeblich den Kopf, wie jener das angefangen haben mochte. Er hatte doch weder die Haupttür noch den Nebeneingang unbeobachtet gelassen, und der Captain konnte nur gekommen sein, als er sich seinen Mantel geholt hatte. Aber die Hauptsache war, daß er nun endlich dazu kam, seine wichtigen Neuigkeiten loszuwerden und sich weitere Aufträge zu holen. Die Zeit drängte, und der Fall der weißen Spinne war reif für ein entscheidendes Handeln.

»Sie haben mich gesucht, und weil ich das wußte, bin ich gekommen«, klang es hinter dem Schreibtisch gelassen hervor, aber da Meals sich nun wenigstens die Augen und die Nase vorzustellen vermochte, fühlte er sich bei weitem nicht mehr so befangen wie früher.

Er begann sofort mit der Geschichte der Hausdurchsuchung bei Mrs. Irvine, und sein Bericht klang diesmal weniger schüchtern und zaghaft als sonst. Zu seiner freudigen Überraschung kam der Kommissar auch gar nicht auf den Befehl zu sprechen, sondern hörte wortlos zu und begnügte sich schließlich mit der Frage:

»Wie sind Sie auf diese Spur gekommen?«

Der Sergeant schmunzelte vor sich hin und begann in seiner Tasche zu kramen.

»Durch einen anonymen Brief«, flüsterte er und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor. Er machte wieder einmal Miene, damit zum Schreibtisch zu treten, überlegte es sich aber sofort und blickte etwas ratlos drein.

»Legen Sie das Ding ordentlich zusammen und werfen Sie es mir zu«, sagte der Kommissar. »Aber möglichst geschickt, denn ich habe keine Lust, in diesem schmutzigen Loch auf allen vieren herumzukriechen und danach zu suchen.«

Meals machte sich eilig daran, dem Papier eine möglichst geeignete Form für eine derartige Beförderung zu geben, und blinzelte dann sekundenlang forschend in das Dunkel.

Von der leuchtenden Hemdbrust war diesmal nichts zu sehen, sondern an ihrer Stelle gab es nur einen undeutlichen Schatten.

Endlich holte der Sergeant mit dem Arm zu einer kurzen schnellenden Bewegung aus, und gleich darauf griff in dem Dunkel eine Hand rasch zu.

»Sehr gut, Meals«, sagte die Stimme hinter dem Schreibtisch, und man hörte das Rascheln des Papiers, worauf es eine Weile still blieb.

»Haben Sie eine Ahnung, wer den Brief geschrieben haben könnte?«

Der Sergeant dachte einen Augenblick nach. »Nein«, gestand er dann offen. »Ich habe mich damit eigentlich auch noch gar nicht beschäftigt. Die Hauptsache war, daß die Anzeige stimmte.«

»Glauben Sie, daß Strongbridge dabei die Hand im Spiel hatte?«

»Möglich«, gab Meals lebhaft zu und lächelte plötzlich sehr geheimnisvoll. »Vielleicht hatte er ein Interesse daran, Mrs. Irvine zu belasten.«

»Nun, und wie denken Sie über diesen Punkt?«

Meals wurde wieder der untergeordnete kleine Sergeant, auf dessen Meinung es gar nicht ankam. Er zuckte verlegen mit den Achseln und zerrte verzweifelt an seinem kurzen Rock.

»Darüber läßt sich schwer etwas sagen, solange nicht die Zusammenhänge restlos aufgeklärt sind«, stotterte er. »Aber das wird nun vielleicht bald geschehen. – Ich habe nämlich Richard Irvine aufgestöbert.«

Der Sergeant hatte seine letzte Neuigkeit mit strahlendem Gesicht wie aus einer Pistole geschossen vorgebracht, aber wenn er etwa erwartet hatte, daß irgendein Laut der Überraschung erklingen werde, so sah er sich zunächst arg enttäuscht. Er mußte eine geraume Weile warten, bis eine Antwort kam, aber was er dann hörte, ließ ihn vor Stolz und Freude erröten.

»Bravo, Meals. Sie arbeiten systematisch, und das gefällt mir. Dafür dürfen Sie auch auf eine Beförderung rechnen, wie sie vor Ihnen noch kaum einem Mann von Scotland Yard zuteil geworden ist. – Wo haben Sie ihn aufgetrieben?«

»Ich habe ihn nur flüchtig gesehen, Sir«, mußte Meals seine Meldung einschränken. »In Hoxton. – Aber er war es bestimmt«, fügte er lebhaft hinzu, »und heute oder morgen habe ich ihn. Und dann werden wir gewiß verschiedenes Interessante erfahren. Vor allem über die weiße Spinne.«

»Haben Sie sich auch wirklich nicht geirrt?« fragte der Unsichtbare zweifelnd. »Kannten Sie ihn von früher her?«

»Nein«, erwiderte Meals, »aber ich erkannte ihn nach seiner Fotografie. Er hat sich fast gar nicht verändert. Nur etwas leidender sieht er aus als früher. Ich hätte ihn auch ohne weiteres aufgegriffen, aber er kam mir durch einen Zufall aus den Augen.«

Von allen diesen Dingen schien den Kommissar wieder einmal nur das Unwesentlichste zu interessieren.

»Woher hatten Sie die Fotografie?« fragte er.

»Aus den Akten«, gab der Sergeant etwas verwundert zurück. »Ich hatte sie seinerzeit an mich genommen, weil ich schon immer meine eigenen Ansichten über den Fall hatte«, erklärte er mit einem bescheidenen Lächeln.

»Richtig«, sagte Captain Conway kurz, und fünf Minuten später konnte Meals mit neu angestacheltem Ehrgeiz und verdoppeltem Eifer wieder an seine Arbeit gehen.


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