Louis Weinert-Wilton
Die weiße Spinne
Louis Weinert-Wilton

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25

Chelsea ist kein sonderlich vornehmer Stadtteil, und wenn sich ein tadellos gekleideter Herr dort blicken läßt, so erregt er einiges Aufsehen.

Nur aus diesem Grund schenkte die junge Dame mit dem rotblonden Haar, die den Carlyle Square langsam hinabschritt, ihrem Verfolger einige Aufmerksamkeit.

Sie hatte an der letzten Station den Autobus verlassen, als ihr der elegante Mann in den Weg getreten war und sie mit seltsamen Augen angesehen hatte.

Die junge Dame kannte sich in solchen Dingen aus und war gar nicht abgeneigt, eine neue Bekanntschaft zu schließen, da sie ihrem letzten Verehrer vor einigen Tagen wegen seiner unerhörten Knausrigkeit den Laufpaß hatte geben müssen. Aber sie war auch ein Mädchen von Grundsätzen, das wußte, was sich gehörte, und deshalb hatte sie für den vornehmen Herrn vorerst nur einen sehr schnippischen Blick, den sie mit einem empörten Rümpfen ihres Stupsnäschens begleitete.

Aber der Herr schien sich in solchen Dingen ebenfalls auszukennen, denn er schritt trotzdem hinter ihr drein, und das Mädchen mit dem rotblonden Haar konstatierte durch gelegentliche Blicke in eines der dürftigen Schaufenster mit Befriedigung, daß sich die Distanz zwischen ihm und ihr immer mehr verringerte.

»Hätten Sie etwas dagegen«, hörte sie ihn einige Augenblicke später an ihrer Seite fragen, »wenn wir, statt hintereinander, nebeneinander gingen?«

»Leider kann ich Sie daran nicht hindern, denn der Gehsteig ist für alle da«, sagte sie diplomatisch, um einerseits sich nichts zu vergeben und andererseits nichts zu verderben, und er hielt sich daran.

Sie antwortete zwar anfangs auf seine höflichen Fragen sehr einsilbig, aber allmählich begann sie aufzutauen, denn er gefiel ihr außerordentlich. Sie war bei einer Anwaltsfirma in der City beschäftigt und hatte einen gewissen Blick für wirkliche Vornehmheit, und wenn der junge Mann an ihrer Seite nicht ein verkappter Lord oder gar ein berühmter Filmschauspieler war, so wollte sie sich hängen lassen.

Nachdem sie zu diesem Urteil gelangt war, überließ sie sich willig seiner Führung, obwohl ihr Weg eigentlich nach einer ganz anderen Richtung ging. Aber sie schritten eben plaudernd ohne Ziel durch die Gassen, und die junge Dame war lediglich begierig zu erfahren, wo und wie diese Promenade enden würde.

»Gestatten Sie, daß ich rauche?« fragte plötzlich der Herr überaus höflich, und da sie von ihren früheren Begleitern an eine solche Rücksicht nicht gewöhnt war, nickte sie äußerst gnädig. Er blieb stehen, zog umständlich sein Etui hervor und entnahm diesem ebenso umständlich eine Zigarette, die er in Brand zu setzen versuchte, was ihm aber gar nicht gelingen wollte.

Sie befanden sich eben vor dem ziemlich schmierigen und spärlich beleuchteten Schaufenster eines Hutsalons, und da die rotblonde Dame nichts anderes zu tun hatte und eine Frau ein solches Schaufenster überhaupt nicht unbeachtet lassen kann, so guckte sie hinein. Es waren zwar keine Pariser Modelle und sonstigen Wunderwerke zu sehen, aber die ausgestellten Hüte waren trotz ihrer Einfachheit geschmackvoll. Das junge Mädchen mußte sogar zu ihrem geheimen Kummer feststellen, daß sie weit hübscher und schicker waren als alle die Hüte, die sie je besessen hatte.

»Gefällt Ihnen einer von diesen Hüten?« fragte der Herr, dem es endlich gelungen war, seine Zigarette anzuzünden. »Es würde mir ein Vergnügen sein, Ihnen eine kleine Erinnerung an unseren netten Spaziergang überreichen zu dürfen.«

Das junge Mädchen blickte mit verständnislosen Augen auf und vermochte nicht einmal zu nicken.

Der Herr ließ sie aber glücklicherweise nicht lange im Zweifel, denn er schob sie sanft zu der Ladentür, und als sie aus dem Hinterzimmer eine heisere Glocke bimmeln hörte, wußte sie, daß heute wirklich ein Glückstag für sie war.

In dem Ladenraum sah es nichts weniger als ordentlich aus. Er schien, nach dem umherstehenden schmutzigen Geschirr und den verschiedenen zertrümmerten Kinderspielsachen zu urteilen, die den Boden bedeckten, allen möglichen Zwecken zu dienen.

Endlich tat sich die Tür des Hinterzimmers auf, und es erschien eine große, umfangreiche, dunkle Frau in einer phantastischen Kombination von Hemd, Schürze und Hauskleid und musterte die Kundschaft kritischen Auges. Sie hatte noch auffallend regelmäßige Züge und mußte, bevor das Rot auf ihren Wangen und ihrer Nase erschienen war, geradezu eine Schönheit gewesen sein.

»Was ist gefällig?« fragte sie kurz angebunden, und ihre tiefe, rauhe Stimme ließ diesen Empfang noch viel unfreundlicher klingen.

»Die junge Dame möchte einige Hüte ansehen«, sagte der Herr höflich, indem er etwas mehr in das Licht trat und den Hut abnahm.

Mrs. Leonore Meals hatte kaum einen Blick auf ihn geworfen und das Monokel in seinem Auge entdeckt, als über ihr breites Gesicht plötzlich ein unendlich verbindliches Lächeln ging und sie sich aber gleichzeitig auch ihres wenig repräsentablen Äußern bewußt wurde.

»Einen Augenblick, bitte«, entschuldigte sie sich eifrig.

Sie warf dem eleganten Herrn aus ihren schwarzen Augen einen koketten Blick zu und schoß blitzschnell zur Glastür hinaus.

Als Mrs. Meals wieder erschien, war ihr schwarzes Haar glattgebürstet und glänzte, als ob es eben mit Wasser oder Fett in Berührung gekommen wäre, und auch ihre sonstige Erscheinung präsentierte sich nun ganz anders als vorher.

Sie war in einen grünen Morgenrock aus Samt gehüllt, der zwar stark mit Fettflecken getupft war und keine Knöpfe hatte, aber Mrs. Meals hatte mit Sicherheitsnadeln dafür gesorgt, daß nichts geschehen konnte.

»Einige Hüte, bitte sehr . . .«, sagte sie und begann mit bewunderungswürdiger Behendigkeit einen Berg von Kartons auf dem Ladentisch aufzustapeln. Sie zog ihre Schätze aus allen möglichen verstaubten Winkeln hervor und ließ es sich sogar nicht verdrießen, auf dem Boden herumzurutschen und unter den Regalen Nachschau zu halten. »Durchwegs Modelle«, stieß sie dabei mit ihrer tiefen Stimme kurzatmig hervor. »Sehr apart, geschmackvoll und billig. Die Dame wird sich überzeugen.«

Die Dame hatte sich mittlerweile bereits mit großen glänzenden Augen über die angepriesenen Modeschöpfungen hergemacht und probierte vor dem halb erblindeten Spiegel mit einer Gründlichkeit, die sie alles um sich herum vergessen ließ.

Wenn sie schon auf so eigenartige Weise zu einem neuen Hut kommen sollte, so sollte es auch etwas Besonderes sein.

»Wie gehen die Geschäfte, Madam?« fragte der Herr, und Mrs. Meals fühlte dabei seine Augen mit einem so warmen Ausdruck auf sich ruhen, daß sie hold errötete und unwillkürlich ihre Hände auf die beiden Sicherheitsnadeln legte, die vielleicht geeignet waren, den Eindruck des grünen Morgenrockes zu beeinträchtigen.

»Oh, danke, Sir«, flötete sie. – »Wie sie eben in einer so dreckigen Gegend gehen können«, entfuhr es ihr plötzlich übellaunig, aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt und lächelte sehr verschämt.

»Verzeihen Sie, man lernt das so von den Leuten hier herum, und mit den Geschäften ist wirklich nicht viel los. – Aber, Gott sei Dank, hat man das nicht notwendig«, fügte sie selbstbewußt hinzu und reckte ihre stattliche Figur noch höher. »Mein Mann ist nämlich Beamter.«

»Ach«, meinte der Herr interessiert, und sie beeilte sich fortzufahren:

»Jawohl. Detektivinspektor. Bei Scotland Yard.« Sie sprach plötzlich in einem gesuchten, gutturalen Ton, den sie für ungeheuer vornehm hielt, und sah ihren Kunden dabei forschend an, ob er diese Mitteilung auch vollauf zu würdigen wisse.

Der elegante Herr wußte sie zu würdigen.

»Ein interessanter Beruf«, sagte er, aber Mrs. Meals schien diesmal mit ihm nicht einer Meinung zu sein.

»Interessant vielleicht«, meinte sie etwas wegwerfend, »aber sicher kein Beruf für einen Ehemann. Schließlich will eine Frau in meinen Jahren ja auch etwas davon haben, daß sie verheiratet ist.« Ihr ansehnlicher Busen hob sich mit einem tiefen Seufzer, und ihr Blick richtete sich noch sehnsüchtiger auf den Besucher. »Wissen Sie, wann ich meinen Mann zum letzten Male gesehen habe?« flüsterte sie vertraulich. »Am 12. des verflossenen Monats«, raunte sie vielsagend, als sie wieder zurückkehrte. »Das sind also volle fünf Wochen her. – Ich pflege mir das aufzunotieren, weil es deshalb bereits öfter zu Meinungsverschiedenheiten zwischen uns gekommen ist«, erklärte die resolute Dame energisch. »Halten Sie das für möglich, mein Herr? Die Regierung ist zwar nicht so einsichtsvoll, wie sie sein sollte, das weiß ich«, fuhr sie kritisch fort, »aber ich halte sie nicht für so niederträchtig, von einem Menschen zu verlangen, daß er fünf Wochen überhaupt nicht schläft. Da steckt etwas dahinter. Ich kenne meinen Mann.«

Sie war im besten Zuge, dem eleganten Herrn ihr ganzes eheliches Leid zu offenbaren, aber die rotblonde Dame präsentierte sich eben in einem allerliebsten Hütchen und gab zu verstehen, daß sie sich dafür entschieden habe.

»Entzückend«, sagte Mrs. Meals, indem sie bewundernd die fleischigen Hände in die Hüften stemmte und die Augen verdrehte.

»Gewiß«, stimmte auch der Herr bei, »aber vielleicht wählen Sie jetzt noch einen von einer anderen Farbe, damit Sie auch für ein helleres Kostüm versehen sind.«

Das rotblonde Mädchen wurde feuerrot vor freudiger Überraschung. Sie hatte zwar kein helleres Kostüm, aber das war kein Grund, daß sie nicht einen dazu passenden Hut haben sollte, wenn sie ihn auf so einfache und billige Weise bekommen konnte. Sie machte sich daher eiligst wieder an das Probieren, und Mrs. Meals sah ihr mit einem höchst wohlwollenden Lächeln zu.

»Ja, die glückliche Jugend«, flötete sie. »Wenn ich mich erinnere . . .« Ihr feistes Gesicht bekam einen elegischen Ausdruck, und aus ihrem Busen stieg ein hörbarer Seufzer.

»Sie sind gewiß Künstlerin gewesen, Madam«, sagte der Herr, und diese Bemerkung war auf Mrs. Meals von einer geradezu überwältigenden Wirkung. Sie warf jäh den schwarzen Kopf zurück, ihre Augen funkelten, und über ihr Gesicht ging ein ganz verklärtes Lächeln.

»Erraten!« meinte sie strahlend. »Jawohl, mein Herr. ›La bella Giulietta, die lebende Statue‹. – Ganz Frankreich, Italien und England haben mich bewundert, als ich mit dem berühmten Zirkus Sorrini durch die Welt zog. Ich ließ meine klassischen Formen als Bronze- und als Marmorfigur sehen – aber natürlich immer höchst dezent«, schaltete sie ein. »Doch das genügte, daß ein Edelmann in Montdidier sich meinetwegen das Leben nahm und eine Zeitung in Runeau mich in einem wundervollen Gedicht verherrlichte. Und mein Name wäre sicher heute einer der klangvollsten der Welt, wenn unserem Unternehmen nicht eines Tages das Geld ausgegangen wäre. Da ließ ich mich leider von Meals überreden, ihn zu heiraten, und alles war aus«, schloß sie verdrießlich.

»War Mr. Meals damals schon bei der Polizei?« fragte der Herr in höflicher Anteilnahme.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Er hatte bei uns mehrere Nummern. Sehr nette und gut bezahlte Nummern als Verwandlungskünstler und mit einigen anderen Tricks, in denen er wirklich ganz Hervorragendes leistete. Aber die Konkurrenz ist auch da sehr groß, und außerdem wollte er schon immer höher hinaus. Schließlich traf es sich auch durch einen glücklichen Zufall, daß er bei der Polizei unterkommen konnte, und er griff sofort zu. Ich aber habe diesen Salon eröffnet, da ich mich vor meiner künstlerischen Laufbahn auf diesem Gebiete betätigt hatte und doch nicht müßig gehen wollte.«

Das Interesse des eleganten Herrn an den Lebensschicksalen von Mrs. und Mr. Meals schien plötzlich erlahmt zu sein, denn er hörte nur mehr mit halbem Ohr zu, und das rotblonde Mädchen kam ihm zu Hilfe, indem es zu dem ersten nun einen zweiten Hut legte, was heißen sollte, daß sie mit der Qual der Wahl zu Ende sei.

Mrs. Meal wurde sofort wieder die tüchtige Geschäftsfrau.

»Zwei Pfund sieben Schilling«, sagte sie etwas undeutlich, aber der Herr schien ausgezeichnete Ohren zu haben, denn er zählte den Betrag schon in der nächsten Minute prompt auf den Tisch. Mrs. Meals beeilte sich, die vornehmste Kundschaft, die ihr Laden je gesehen hatte, in gebührender Weise zu verabschieden.

»Beehren Sie mich recht bald wieder«, flötete sie mit einem äußerst liebenswürdigen Neigen ihres fettig glänzenden Kopfes, indem sie dem eleganten Herrn verstohlen einen jener heißen Blicke zuwarf, mit denen sie seinerzeit als »La bella Giulietta« soviel Unheil angerichtet hatte.

Fünf Minuten später stand an einer Straßenecke in Chelsea ein ratloses und empörtes rotblondes Mädchen und suchte sich in der komischen Welt zurechtzufinden: Sie konnte verstehen, daß ein Mann sehr viel verlangte und nichts dafür gab, wie dies ihr letzter Verehrer getan hatte, aber daß ein Mann zwei Pfund und sieben Schilling auslegte, ohne mit einer Wimper zu zucken, und nichts dafür verlangte, das vermochte sie nicht zu begreifen. Sie hätte die beiden wundervollen Hüte sogar gerne hingegeben, wenn . . .

Aber die junge rotblonde Dame war glücklicherweise philosophisch veranlagt und sagte sich schließlich, daß zwei funkelnagelneue moderne Hüte eben zwei Hüte seien, die wenigstens zwei Jahre aushalten, während man das von einer neuen Freundschaft nicht so ohne weiteres wissen konnte.


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