Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsunddreißigstes Kapitel

Das Begräbnis war vorüber.

In dem edlen Bewußtsein unverzagter Pflichterfüllung kehrten die Teilnehmer zu ihren Tagesgeschäften zurück.

Auf den Verbindungskneipen stärkte man sich mit einem Trauersalamander, und erst hierdurch war der verstorbene Professor endgültig zur Ruhe gekommen.

Fritz Kühne, der seit dem ersten April bei einem Rechtsanwalt arbeitete, hatte sich von den Bürostunden des Nachmittags freigebeten.

Er saß auf seiner Bude, derselben Bude, in der er schon als Fuchs gehaust hatte und die bei seiner Rückkehr durch einen glücklichen Zufall wieder sein eigen geworden war, und las in den Wolken des Abendhimmels.

Das Leben verlangte sein Recht. So hieß die Phrase ja wohl, mit der man Begrabene noch einmal begräbt.

Aber heute war sie noch ohne Kraft. Zu heiß brannte das Geschehene in dem wunden Gemüt.

Und als die Dämmerung kam, duldete es ihn nicht mehr zwischen den dumpfen vier Wänden.

Zum Friedhof zog es ihn. Andacht mußte gehalten werden. Die herzweitende Andacht, die ihm in dem Verlauf gedankenloser Zeremonien versagt geblieben war.

Als er das Gittertor durchschritt, wollte der Pförtner ihm nicht mehr Einlaß gewähren. Es sei schon zu spät und kein Besucher mehr drinnen.

Aber ein blanker Taler änderte die Sachlage rasch. Er könne bleiben, solange er wolle. Er werde den Ausgang geöffnet finden.

Ein langer Irrweg durch das Labyrinth der verschatteten Gräber. Endlich leuchtete etwas Buntes und Weißes durch den purpurn blauenden Abend.

Und über den blumenbedeckten Sandhügel hingestreckt lag eine schwarze Frauengestalt. Im Knien zusammengesunken. Das Gesicht in den Kränzen vergraben.

»Helene!« schoß eine Ahnung ihm durch den Kopf.

Er hob sie empor. Er säuberte sie von Blättern und Erde. Er sprach ihr bittende Worte zu. Und da ihr Leib nach einer Stütze suchte, holte er von einem Nachbargrabe rasch eine Bank herbei.

Nun saß sie still in die Ecke gedrückt, starrte tränenlos vor sich nieder und ließ ihn reden, was er nur wollte.

Unwillkürlich kam er dazu, ihrer Mutter Erwähnung zu tun.

Da fuhr sie hoch auf. Ein Blick des Entsetzens strich an ihm vorüber ins Leere.

»Hab' ich Ihnen wehe getan?« fragte er erschrocken.

Sie schwieg und starrte.

»Hat Ihre Mutter Ihnen wehe getan?«

Sie schwieg und starrte.

»So reden Sie doch. Es wird Ihnen gut tun. Es wird Ihnen das Herz erleichtern.«

Da brach sie los: »Meine Mutter! Jawohl! Meine Mutter! Ich hätte ihn retten können. Ich ganz allein. Aber meine Mutter hat's mir verwehrt. Geahnt hab' ich alles. Geschrien hab' ich nach ihm bei Tag und bei Nacht … Aber schreiben dürft' ich ihm nicht. Nicht einmal, wo ich war, durft' ich ihm schreiben. Denn dann würde sie ihn ins Unglück stürzen, hat sie gedroht. Und so blieb er in seiner Einsamkeit … Und nur weil er so einsam war, hat er's getan. Wär' ich bei ihm gewesen, dann lebte er – und dann würde alles noch gut.«

Bestürzt hörte er dieses Bekenntnis, das ein offenes Sichpreisgeben schien. Und darüber hinaus kam ihm eine Ahnung von Schicksal und Weihe, in der seine Seele sich vor ihr neigte.

»Ich weiß, Sie haben ihn schon immer geliebt«, sagte er, eines fernen Verschmähtseins gedenkend.

Sie leugnete nichts mehr. »Ihnen hat er geschrieben«, sagte sie, »aber mir hat er auch geschrieben.«

Sie nestelte an den Knöpfen ihrer Bluse und reichte ihm einen Brief. Und als er zögerte, ihn zu nehmen: »Lesen Sie nur. Ich habe – nichts zu – verbergen.«

Das Abendlicht reichte gerade noch aus, die Worte seines Abschieds erkennen zu lassen.

»Du bist das Einzige, das ich auf Erden zurücklasse. Du bist mir wie meine Geliebte, wie meine Frau, und als solche ehre und liebe ich dich.«

So lautete einer der wenigen Sätze. Er genügte, um Fritz erleichtert aufatmen zu lassen.

Schweigend gab er ihr den Bogen zurück, und schweigend saßen sie eine Weile, bis er ein Trostwort fand.

»Ich weiß nun, wie sehr Sie ihm gefehlt haben«, begann er, »aber vielleicht wird es Ihnen etwas wie Frieden geben, wenn ich Ihnen sage, daß wahrscheinlich auch Sie ihn nicht hätten retten können. Denn vieles fraß an ihm. Und an einem davon trag' sogar ich die Schuld. Bedenken Sie nur, wie schlimm es schon um ihn stand, als wir uns in jener Nacht zum erstenmal wieder begegneten. Wenn ich nicht Angst um ihn gehabt hätte, hätt' ich dann wohl dran gedacht, daß Sie ihm vielleicht helfen könnten?«

»Und ich glaub', ich habe ihm auch geholfen«, sagte sie in demütigem Stolze. »Wenigstens damals. Ich bin heimlich zu ihm gegangen wie eine – wie eine –. Und was tat er? Bloß helfen – sonst nichts … Drum konnt' ich auch ihm helfen … Und so gewannen wir uns immer lieber. Bis – bis – meine Mutter – meine Mutter – –. Ach, lieber Herr Kühne, ich will gar nicht mehr heim. Hier übernachten hab' ich wollen … Was dann – –.« Sie zuckte die Achseln. »Lieber Herr Kühne, mein Examen hab' ich gemacht. Wissen Sie nicht eine Stelle für mich?«

»Das nicht«, erwiderte er, »aber wenn ich nach Hause schreibe – dort kennt man Sie schon lange aus meinen Erzählungen. Die Mutter und die Schwestern – alle würden die Arme ausstrecken nach Ihnen.«

Sie sah ihn groß an. »Ich dank' Ihnen«, sagte sie, »ebenso sehr, wie wenn ich es annehmen könnte.«

Und dann wie ein Segen des Himmels kamen die Tränen ihr.

Sie zog die Knie hoch, stützte die Ellenbogen dagegen und schluchzte in die hohlen Hände hinein.

Er ließ sie ruhig gewähren. Mochte sie sitzen und weinen bis in die Nacht. Das Tor blieb ja offen.

Und so geschah's, daß sie von selber zu sich zurückfand.

Sie holte ein paarmal tief Atem, trocknete sich das Gesicht ab und sagte: »Ich weiß, es ist Unsinn, aber ich muß immer denken: wenn man einen so lieb hat, dann kann man ihn auch wieder lebendig machen.«

»Lebendig erhalten kann man ihn«, erwiderte er. »Und das ist auch etwas wert.«

»Wie Sie es meinen«, klagte sie, »so weit bin ich noch nicht und werde noch lange nicht sein. Ach, lieber Herr Kühne, ich weiß ja nicht aus, nicht ein.«

»Und doch liegt das Leben vor Ihnen und will gelebt werden.«

»Fragt sich nur, wie?« begehrte sie auf.

»Als ich auch einmal nicht aus, nicht ein wußte«, entgegnete er, »und Sie in meiner Angst fragte, was man wohl machen könnte, da gaben Sie mir zur Antwort: ›Man muß gut sein.‹ Besinnen Sie sich noch?«

Jawohl, sie besann sich und nickte.

»Das kam mir damals sehr simpel vor. Aber je länger ich daran dachte, desto mehr kam ich dahinter, daß es kein besseres Rezept gibt, mit dem Leben fertig zu werden.«

»Er war gut«, schluchzte sie auf, »und ist doch zugrunde gegangen.«

»Liebes Fräulein Helene«, erwiderte er, »wir beide werden das Rätsel nicht lösen, woran er zugrunde ging. Das alles ist noch zu schwer und zu wirr für uns. Vielleicht wird uns später einmal Klarheit kommen. Vielleicht kommt sie auch nie. Es ist möglich, daß seine Werke sie uns gebracht hätten. Aber die sind ja nun hin.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe deshalb?« fragte sie.

»Nein«, erwiderte er mit sicherer Stimme. »Auf die Vollzieher seiner Wünsche muß der Tote sich verlassen können. Die sind, was von ihm noch lebt. Und darum darf kein Zweifel und keine Reue uns anwandeln. Sie nicht und mich nicht. Und zum Trost müssen wir uns sagen: Das Wahre, das drin stand, kommt wieder. Vielleicht ist es schon da. Wir wissen's nur nicht.«

Wieder wurde es still zwischen ihnen.

Das Abendrot brannte in dunklen Gluten, die das Gezweig schwarzzackig durchgitterte. Irgendwo sang eine Nachtigall. Von dem fernen Hafen her kam ab und zu ein langgezogenes, müde abschwellendes Heulen.

»Ach, wie ist man geborgen hier!« flüsterte sie.

»Und doch müssen wir fort«, mahnte er.

»Ja«, sagte sie. »Und ich werde zu Mutter heimgehen. Die fällt von einem Weinkrampf in den andern. Ich werde mich zu ihr setzen und sie streicheln. Denn man muß gut sein, haben Sie gesagt.«

»Nein, das haben Sie gesagt«, erwiderte er mit einem ernsten Lächeln.

»Aber gehandelt habe ich nicht danach«, entgegnete sie und erhob sich.

Wohl taumelte sie ein wenig, aber dann straffte sie sich und stand fest auf ihren zwei Beinen.

Und während er die Bank, auf der sie gesessen hatte, nach ihrem alten Platze zurücktrug, beugte sie sich zu dem Grabhügel nieder und rückte die Kränze zurecht, die ihr liegender Körper verschoben hatte.

Auf einer der seidenen Schleifen, die sich üppig über die andern hinlagerte, erglühte im Abendrot die goldene Inschrift: »Ihrem unvergeßlichen Freunde – Marion und Rudolf Follenius.«

»Diese Freundschaft war auch ganz verschollen«, sagte sie, darauf herniederweisend.

Er lachte kurz auf und erwiderte: »Sie wird soviel wert gewesen sein wie alle die andern, deren Zeugnisse da herumliegen … Ich fürchte, wenn wir ihm nicht Treue halten, wird er sehr bald vergessen sein.«

Und da beim Scheiden ein neuer Schmerzanfall sie ins Wanken brachte, legte er leise ihren Arm in den seinen und führte sie von der Stätte des allzeit wachenden Todes in die schlaftrunkene Welt zurück.

 


 << zurück