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Elftes Kapitel

Lange Zeit wußte Sieburth ihr keinen Namen zu geben.

»Hermione«, das war zu lang, und ein wenig gespreizt klang es wohl auch.

Ihr Mann nannte sie »Herma«.

Es ebenso zu machen, dazu gab er sich nicht das Recht. Aber schließlich schwanden seine Bedenken, und als sie erst ganz überwunden waren, klang der kurze, metallische Laut allzeit in seinem Ohre.

Denn er dachte nur noch an sie. – Morgens und mittags und abends. Selbst wenn er mit seinen kleinen Mädchen zusammenkam – er hatte deren immer ein halbes Dutzend –, blieb ihr Bild nachsichtig lächelnd in seiner Nähe.

Es waren liebe Dinger darunter, die er darum nicht weniger mochte als sonst. Aber in ihrem Sichhaben und Tun waren sie so ganz verschieden von ihr, und wenn er versuchte, ihr Wesen in sie hineinzuzaubern, endete der Vorsatz in Ärger und in Enttäuschung.

Darum schickte er sie lieber mit irgend einer Vertröstung wieder nach Hause und lebte schließlich ganz ohne sie, ein Tugendspiegel, als der er sich weidlich verspottete.

Und seine Arbeit litt nicht. Im Gegenteil. Er brauchte sich nur vorzustellen: »Was würde sie dazu sagen?« – und die Gedanken brachen in überstürzender Fülle der eine aus dem andern hervor.

Doch in diesen Bereichen war sie es nicht allein, die die Herrschaft führte. Hier verquickte sich ihr Bild mit dem Cillys. Und oft ertappte er sich darüber, wie er mit Cilly redete statt mit ihr.

Ob sie ihm auf seinen Wegen folgen könne und wolle, darüber hatte er sich noch niemals Rechenschaft abgelegt. Ihrem Gatten gab sie viel, hieran war kein Zweifel. Aber dessen Wissenschaft verlangte vom Lernenden nicht viel begriffliche Schulung, und mochte sie manchmal noch so trocken sein, bei gutem Willen fand sich ein jeder darin zurecht.

In jenen gesegneten Frühsommertagen wurde das gedankliche Gerüst der »drei Stufen der Ethik« vollendet. Keinen Bruch und keine schwankende Stelle gab es darin, alles war fest gefügt und gegliedert, und die Ausarbeitung wurde zum Spiel. Wenn alles nach Wunsch ging, konnte er damit rechnen, in einem Jahre fertig zu sein.

Inzwischen sah er sie selten.

Ein einziges Mal war er zum Abend geladen worden, aber in diesen Stunden – wie groß das Glück auch war, an ihrer Seite zu sitzen – hatte er kein einziges unbewachtes Wort mit ihr geredet. Ihr Gatte führte die Unterhaltung, die, wie sich von selber ergab, politische Fragen der Gegenwart behandelte und von Klippen und Fangnetzen wimmelte, denen auszuweichen nicht immer leicht fiel. Doch konnte es ihm unmöglich daran gelegen sein, sein ganzes Ketzertum freimütig preiszugeben.

Als vom Kulturkampf gesprochen wurde, in dem Hildebrand mit Begeisterung an Bismarcks Seite stand, erfuhr er ganz nebenbei, daß sie katholisch war.

Und – daß sie öfters die Messe besuchte.

Dabei fiel ihm ein: Katholisch war ja auch er. Und als er es sagte, gewahrte er, wie ein freudiges Leuchten ihre Augen durchsonnte.

So war also wiederum eine Verwandtschaft festgestellt, obwohl er seit der Firmung von seinem Bekenntnis keinen Gebrauch mehr gemacht hatte.

Als er heimging, sagte er lachend zu sich: ›Nun fehlt bloß noch, daß auch ich mein gläubiges Herz entdecke und in der Frühe die Messe abklappere. Dann wäre ich romantisch wie ein Carbonaro, der sich vor und nach jedem Morde mit Weihwasser abwäscht.‹

Aber der Gedanke, daß er ihr auf diese Weise mit Leichtigkeit begegnen könne, wich nicht mehr aus seinem Kopfe. Der Weg, den sie nehmen mußte, ließ sich berechnen, und wenn man die Stunde der heiligen Handlung erfuhr und seinen Spaziergang danach einrichtete, ergab das übrige sich von selber.

Aber er schämte sich. Er war nun dreiunddreißig und wollte sich nicht benehmen wie ein Primaner.

Statt mit ihr, traf er eines Tages mit seiner alten Freundin Marion zusammen.

Sie, die sonst immer den Wagen benutzte, kam ihm in lichtem Frühjahrskostüm, rosig, süß lächelnd, doch mit dem Spähblick der Suchenden auf Königsgarten entgegen.

»Also sieht man sich doch einmal auf dieser Erde«, sagte sie, indem sie stehen blieb und ihm die weiß behandschuhte Rechte bot.

»Ich hoffte, gerufen zu werden«, erwiderte er, versuchend, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Sie lachte hell auf. »Solchen Hoffnungen hätten Sie leicht etwas nachhelfen können, nachdem Sie zwei-, dreimal dringend behindert gewesen waren. Sie sind bis auf einen unerheblichen Reconnaissancebesuch, bei dem überdies mein Mann zugegen war, noch nicht einmal bei mir gewesen. Werden Sie sich endlich herbeilassen, nachzuholen?«

Er bat pflichtschuldigst, über ihn zu verfügen.

»Ich bin ein wenig an Ihnen irre geworden«, erwiderte sie, »darum werde ich Ihnen nicht mehr schreiben. Sie müssen selber Ihre Wünsche äußern.«

Gehorsam äußerte er seine Wünsche, und Tag und Stunde wurden bestimmt.

›Das muß durchgemacht werden‹, tröstete er sich, nachdem er Abschied genommen hatte, auf die Gewandtheit vertrauend, die ihn schon aus mancher verzwickten Lage heil herausgeführt hatte.

Als er ihr nachschaute, wie sie – die einzig Elegante, die einzig Großstilige der Stadt – als ein Bild aus ferner Herrlichkeit in bewußter Kraft und Anmut ihres Weges dahinglitt, mußte er sich gestehen, daß sie vielleicht auch von allen die Schönste war. Wenn üppige Fraulichkeit, in Rubensfarben schillernd, von zurückgedrängtem Glücksverlangen lockend durchleuchtet, vor anderen Mischungen weiblicher Gabenfülle den Vorrang verdiente, war sie es wirklich.

Es fehlte nur, daß er sie immer noch liebte. Doch das war vorbei.

Sie aber hielt ihn fest. Fester, als wäre das Band, das sie einte, aus robusten Gelöbnissen oder Geschehnissen zusammengeflochten gewesen.

Zwei Tage später trat er den Gang zu ihr an.

Er brachte ihr Rosen, wie er auch sonst getan, und sie ließ sich die Spende mit einem müden Lächeln gefallen, hinter dem ein Bösesein saß, wie er es der allgütigen Herrin niemals zugetraut hatte. Doch als sie dann selber den Tee bereitete – dienende Geister um sich zu sehen, liebte sie nicht –, da war sie wieder die alte, geruhsam und friedevoll und den leise zitternden Schein glühenden Erzes aushauchend, den sie allezeit über ihn herströmen ließ.

Das Blondhaar über der Stirn, das sich sonst großwellig scheitelte, hatte sie zu Fransen verkürzt, wie es der Geschmack des Tages verlangte, sie, die sonst stolz darauf war, ihm nicht nachgelaufen zu sein.

Und als Sieburth sie nach dem Grunde fragte, kräuselte sie die Lippen und fragte: »Weil es schon beinahe banal wird, sich als etwas Besonderes zu zeigen.«

Auf wen konnte sie zielen? Auf Herma etwa? Die war die einzige in diesem Krähwinkel, die ihre Gestalt nach eigenem Gefallen modelte. Aber er hütete sich wohl, ihren Namen heraufzubeschwören. Da hatte auch schon Marion das Gespräch auf sie hingelenkt.

»Da wir gerade von Besonderem sprechen: Wie gefällt Ihnen der Hildebrandsche Haushalt?«

»Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, mich darin umzusehen«, erwiderte er vorsichtig.

»Man hat mir im Gegenteil gesagt, Sie seien höchst intim darin.«

»Wenn Ihnen ein zweimaliger Besuch als Zeichen der Intimität genügt –«

»Bei Ihnen wohl schon.«

»Warum das?«

»Weil Sie einen Dietrich besitzen, mit dem Sie überall einbrechen können, wo es Ihnen lohnend erscheint.«

»Wo bin ich denn schon eingebrochen?« fragte er lachend, während alles in ihm zu Ingrimm erstarrte. »Etwa bei Ihnen?«

»Das fehlte auch noch«, gab sie zur Antwort und sah ihn unter halbgeschlossenen Lidern herablassend an.

Dieses Geplänkel, das sich als Scherz ausgab, wollte nachgerade feindselig werden; darum beschloß er, ihm sofort ein Ende zu machen.

»Liebe Freundin«, sagte er, »mein bloßes Ausbleiben kann der Grund Ihrer Gereiztheit nicht sein. Wir haben uns schon manchmal weit längere Zeit nicht gesehen, und es hat uns nichts geschadet. Was also haben Sie mir vorzuwerfen?«

Aber es paßte ihr nicht, Rede zu stehen. Alles, was sie zugab, war, daß sie seinen steten Versuchen, die Arbeit als Hinderungsgrund vorzuschieben, nicht unbedingten Glauben schenkte.

»Was sollte es denn sonst sein?« fragte er.

»Mein lieber Professor«, erwiderte sie, und der schöne Hochmut, der der Grundzug ihres Wesens war, lächelte von ihrer Stirne. »Wir sind zwei freie Menschen. Nichts bindet uns aneinander als Vertrauen von meiner und Ritterpflicht von Ihrer Seite. Den Dienst, den Sie mir geleistet haben, werde ich Ihnen nie vergessen, aber damit kann's auch sein Bewenden haben, und nur um Ihnen den zu vergelten, möchte ich noch einmal in Aktion treten. Wenn Sie mich also brauchen können, – Sie wissen meine Adresse.«

Er bedankte sich gerührt und dachte dabei: ›Wo will sie hinaus?‹

»Einmal«, fuhr sie fort, »glaubte ich schon, die Stunde habe geschlagen … Damals, als Sie Cilly Wendland näherzutreten schienen, und tat das meinige – in aller Diskretion natürlich – Ihnen die Wege zu ebnen … Aber das scheint ein Fehlschluß gewesen zu sein. Wenigstens habe ich nicht bemerkt, daß Sie die Angelegenheit weiter verfolgt hätten … Wenn wir wirklich Freunde sind, so würden Sie gut tun, mir zu sagen, wie Sie eigentlich darüber denken.«

Das schien die Pistole auf die Brust gesetzt, aber eine Ausflucht war es doch.

»Sie bilden sich immer mehr zu meiner Wohltäterin aus, Frau Marion«, sagte er, »doch verzeihen Sie mir, wenn ich – wenn ich –«

Er stockte. Es zu verleugnen oder es als Deckmantel zu gebrauchen, für beides war das liebe, vornehme Geschöpf zu schade. Andererseits gab es nichts Notwendigeres, als sein Gefühl für die neue Freundin von jeder Entdeckung fernzuhalten. Schließlich war es das Einfachste, man spannte Marion dazu an und ließ sie glauben, was ihrer Eitelkeit am meisten schmeichelte.

Mit kaum verhehlter Spannung wartete sie auf sein Weiterreden. Und als er immer noch schwieg, sagte sie spottend: »Sie sind doch sonst nicht um Worte verlegen.«

»– wenn ich – wenn ich – gerade Ihnen gegenüber –.«

Jetzt schon leuchtete sie auf. Das war es, was ihr fehlte.

»Kurzum, ich bitte, mich über diesen Punkt nicht auslassen zu dürfen, denn was ich auch sagen würde, müßte die Grenzen überschreiten, die innezuhalten ich Ihnen schuldig bin.«

Das war deutlich und verpflichtete zu nichts.

Sie besah mit befriedigtem Lächeln ihre Fingerspitzen.

»Ich verstehe Sie nicht, mein Lieber. Von welchen Grenzen sprechen Sie?«

Also: Sie wollte ihn weiter treiben. Was war das nur heute in ihr? Was jagte sie aus den Reserven hinaus, in denen sie sich so lange wohlgefühlt hatte?

Aber er war nicht der Mann dazu, sich fangen zu lassen.

»Ich werde mich hüten, Ihnen irgend welche Geständnisse zu machen, meine Fürstin«, erwiderte er, »denn ich muß fürchten, daß die Kühle, über die sich so viele beklagen, sich dann auch auf mich erstrecken würde.«

Sie saß da, die Hände vor der Brust gefaltet, und starrte in die leere Teetasse. Er sah zu, wie in ihr das Verlangen, sich weiter zu enthüllen, mit dem Stolze kämpfte, der ihr Schweigen gebot.

Endlich fand sie eine Erwiderung: »Sie sprechen von meiner Kühle, während die Ihre geradezu einen Eishauch ausströmt. Mein Freund, Sie spielen mit mir!«

Und brüsk stand sie auf.

Fast erschrocken erkannte er, was sich da offenbarte. Und um zu retten, was sich noch retten ließ, sagte er: »Um Gottes willen, Marion, was haben Sie gegen mich?«

Aber sie antwortete nicht. Sie ging, die Hände auf dem Rücken, mit fast männlichen Schritten im Zimmer hin und her. Er stand wartend hinter seinem Stuhle. Sie tat, als wäre er gar nicht da.

»Ich werde mich also verabschieden«, sagte er achselzuckend.

Da blieb sie vor ihm stehen, sah ihm mit zusammengekniffenen Lidern von ganz nah her ins Gesicht und sagte: »Es wird das beste sein, wir unterlassen in Zukunft dieses Zusammensein unter vier Augen, das uns nur Mißverständnisse bringt.«

»Habe ich Anlaß dazu gegeben?« fragte er.

»Wenn Sie das nicht fühlen, lieber Freund –«

»Ich fühle nur, daß ich hinausgeworfen werde.«

Sie machte eine Bewegung, wie um nach seiner Hand zu greifen. »Nein, nein, so müssen Sie das nicht deuten. So nicht. Melden Sie sich an, wann Sie wollen. Aber glauben Sie nicht, daß, wenn wir so fortfahren, noch etwas Gedeihliches dabei zustande kommt.«

Dabei lachte sie ein hartes und bitteres Lachen, gab ihm nun wirklich die Hand und geleitete ihn rauschend zur Tür.

Betroffen holte er sich Hut und Mantel aus der Garderobe.

›Noch ein solcher Sieg – –‹, dachte er.

Aber Gott sei gelobt! Sie, sie, sie war aus dem Spiel geblieben.

Und der Wunsch, ihr zu begegnen, wurde von einem Tage zum andern stärker in ihm.

Er, der als Nachtarbeiter den Morgenschlaf brauchte und sonst erst aufstand, wenn die Stunde des Kollegs bedrohlich heranrückte, war von nun an um sechs Uhr schon wach und verfolgte minutenweise den Weg, den sie wahrscheinlich heute nahm.

Jetzt ist sie da, jetzt ist sie dort, jetzt tritt sie in die Kirchentür, jetzt tunkt sie den Finger ins Becken – so ging es fort und fort.

Und eines Morgens hielt es ihn nicht länger in Bett und Haus.

Das Rotgold der Frühe drang jauchzend auf ihn ein. Jeder schlenkernde Schuljunge, jeder anspannende Fuhrknecht brachte ihm Hoffnung entgegengetragen.

Da kam ihm zu Sinn, daß allmorgendlich der Messen wohl mehrere gelesen wurden und daß es unsicher war, zu welcher sie ging, wenn sie überhaupt heute ging.

Also galt es, sich aufs Glück zu verlassen.

Und er hatte Glück. Als er eine halbe Stunde lang zwischen Tragheim und Sackheim hin und her gependelt war, sah er sie auf der Schloßteichbrücke richtig daherkommen.

Sie hatte eine Mantille lose über die Schulter geworfen und nicht einmal einen Hut auf dem Kopfe.

Als sie ihn erkannte, fuhr sie ein wenig zusammen. Dann breitete sich ein Rot unbefangener Freude über ihr bräunliches Gesicht, und in ihren Augen erglomm das Sonnenaufgangsfeuer, das er mehr als alles andere an ihr liebte.

»Aber Herr Professor!« Und damit lag ihre Hand fest in der seinen.

»Sie haben mich zum Frühaufsteher gemacht, gnädige Frau. Seit ich weiß, daß Sie um diese Stunde schon unterwegs sind, schäme ich mich meines Faulenzertums.«

»Wenn ich auch an Ihr Faulenzen nicht glaube«, erwiderte sie, »so scheint mir doch, Sie tun recht, denn einen Blick wie diesen bringt keine spätere Stunde mehr.«

Und sie wies voll Entzücken über die lichtblau gekräuselte Wasserfläche, auf der violette Morgennebel sich wiegten.

Nein, sie ahnte nichts von seinem Wegelagerertum und ließ sich auch seine Begleitung ohne Zögern gefallen.

»Wenn ich jetzt heimkomme«, sagte sie, »ist mein Mann gerade zum Frühstück bereit. So entbehrt er mich gar nicht. Im Gegenteil. Es ist ihm lieb, beim Aufstehen mit seinen Gedanken allein zu sein.«

›Mein Mann‹ und immer wieder: ›Mein Mann!‹ –

»Sie müssen übrigens nicht glauben«, plauderte sie weiter, »daß ich gar so fromm bin. Aber diese halbe Stunde Kirche ist wie ein Morgenbad. Und eine liebe Gewohnheit aus Kinderzeiten her. Man sitzt und denkt und bereitet den Tag, als wäre er ein Kunstwerk.«

»Sie Glückliche!« sagte er.

Sie seufzte. »Nein, nein«, erwiderte sie, »so einfach ist das nicht mit dem Glück.«

Ein Hauch von Hoffnung wehte ihn an, und sie fuhr fort: »Wenn ich ganz mit mir im reinen wäre, brauchte ich dem lieben Gott nicht diese Morgenvisiten zu machen. Man sorgt sich um vieles, und schließlich kommt man dahinter, daß das meiste nur Eigensucht ist.«

»Und wenn alles nur Eigensucht wäre, so hätte man auch noch ein Recht darauf.«

»Das dürfen Sie sagen«, erwiderte sie, »der Sie für sich allein auf der Welt sind – oder vielmehr für das Werk, das Sie zu vollbringen haben. Aber eine wie ich! Wenn ich nicht diente, was wäre ich wohl wert?«

»Liebe gnädige Frau«, sagte er, »für so schwere Fragen ist dieser gemeinsame Gang zu kurz und zu wenig gewollt.«

»Sie haben recht, lieber Freund«, erwiderte sie, »und wenn ich mir unsere letzte Unterredung vergegenwärtige, haben Sie doppelt und dreifach recht … Ich will Ihnen auch gestehen, daß mich seither der Wunsch nicht verläßt, ein einziges Mal ausgiebig mit Ihnen allein zu sein. Es gibt so vieles, was ich mit Ihnen zu besprechen hätte und Sie zu fragen und so … Aber ein solches Zusammensein ist nicht so einfach … Wenn ich meinem Manne sagte, ich möchte irgendwohin mit Ihnen – nach Luisenwahl oder weiter hinaus auf die Landstraße –, dann würde er das nur richtig finden. Denn er weiß, wer ich bin, und engherzig ist er nicht. Aber man muß Rücksicht nehmen. In einem Nest wie diesem – denn ein Nest ist es, trotz seiner hunderttausend Menschen – kann der Klatsch über einen herfallen, man weiß nicht, wie sehr … Mir wär's egal, aber die Ehre meines Mannes ruht in meinen Händen.«

»Wie Ihre Ehre dann in den meinen ruhen würde«, sagte er, »und darum, scheint's, muß ich verzichten.«

»So ist es«, bestätigte sie. Und dann in plötzlichem Einfall: »Was machen Sie in den Ferien?«

»Bis zu den Ferien sind's noch zwei Monate«, erwiderte er. »Bis dahin bin ich Ihnen vielleicht schon wer weiß wie fremd.«

»So wenig Zutrauen haben Sie zu unserer Freundschaft?« fragte sie.

»Wenn ich mehr davon haben darf, bin ich glücklich.«

»Sie könnten so oft abends zu uns kommen. Ich dachte, Sie würden es auch … schon meines Mannes wegen … Einmal haben Sie's getan, und dann nicht wieder.«

»Selbst darauf paßt man auf«, sagte er.

»Wer?« fragte sie rasch und erschrocken.

Er zuckte ausweichend die Achseln.

»Gleichviel«, sagte er, »es geschieht … Und was machen Sie in den Ferien?«

»Mein Mann ist ein leidenschaftlicher Kraxler«, sagte sie, »und ich mit meinen schwachen Lungen drücke mich derweilen in den Berghotels herum. Drum möchte ich ihn diesmal für ein paar Wochen allein lassen und vielleicht die Einladung der Frau Follenius annehmen, in ihrem Cranzer Strandhause bei ihr zu wohnen.«

Nun war's an ihm, zu erschrecken. ›Sie denkt, sie unschädlich zu machen‹, überlegte er, ›indem sie sie unter Bewachung nimmt.‹

Aber er hütete sich, abzuraten. Er sagte nur: »Dort hätte ich weniger von Ihnen als hier, denn dort glaubt sich ein jeder zur Polizeiaufsicht verpflichtet.«

»Dann gäb's nur noch eines«, sagte sie.

»Und das wäre?«

»Sie kommen mit uns in die Berge.«

Da erschrak er schon wieder. Aber diesmal war's die Freude, die ihn hochfahren ließ. Ein ganzer Turm von Glücksmöglichkeiten baute sich vor ihm auf, zu dem nur emporzuschauen schon schwindeln machte. Aber gleichzeitig wurde ihm klar, daß diese Reise zu dreien, wie sie auch ausfallen mochte, ihren Ruf auf immer zerstörte.

Hierfür würde die Follenius schon sorgen.

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau«, sagte er, seine Erregung verbergend, »aber ich glaube nicht, daß ich annehmen darf.«

»Ah!« machte sie enttäuscht. »Ich stellte mir das so hübsch vor.«

›Hübsch‹, dachte er. ›Nur hübsch?‹

Freilich, Frauen sind ja Künstlerinnen darin, das, was sie heimlich erhoffen, vor sich und andern als klein und nebensächlich zu behandeln. So steuern sie umso sicherer drauflos.

Doch diese steuerte nicht. Sie ließ den Wind über sich herwehen, ohne zu fragen, wohin er sie trieb. So unbeirrbar fühlte sie sich.

Längst waren sie vor dem Hause angelangt, das sie bewohnte, und beim Umkehren schon zwei- oder dreimal daran vorübergeschritten.

»Kommen Sie bald«, sagte sie nun, ihm die Hand zum Abschied reichend, dann war sie im Haustor verschwunden.

In einem seltsamen Schwebezustand, mit Plänen spielend, die er in demselben Augenblick verwarf, in dem er sie faßte, klarsichtig und verworren zugleich, des Glückes froh, das ihm diese Stunde geschenkt hatte, und doch unzufrieden, es nicht gründlicher ausgekostet zu haben, kehrte er nach seiner Wohnung zurück, wo die Notwendigkeit, sich zu beruhigen und zu sammeln, gebieterisch auf ihn wartete.

Denn um neun Uhr begann das Kantkolleg.

 

Die nächsten Wochen vergingen, ohne daß sich etwas Wesentliches ereignet hätte.

Das große Blühen haspelte sich ab, und schon knospten die Linden.

Sieburth arbeitete mit Vollkraft, denn es galt, die Wildlinge zu beschneiden, die auf den Wurzeln seines Lebens wucherten.

Frau Marion meldete sich nicht. Es schien also mit der Trennung ernst zu werden.

›Mir kann's recht sein‹, dachte er und freute sich, ihr in nichts verpflichtet zu sein.

Wer ihm bisweilen fehlte – außer ihr natürlich, in deren Zeichen jede Stunde stand – das war Cilly.

Er hatte die Besuche in ihrem Hause eingestellt und war auch nicht mehr geladen worden. Wiewohl dies ohne Absicht geschehen sein mochte, denn die Geselligkeit ruhte.

Aber er hatte in früheren Zeiten so vieles mit ihr besprochen, so reiche Ströme des Denkens waren herüber und hinüber geflossen, daß deren Versiegen ihm ärgerlich und unnatürlich erschien.

›Wenn ein Mann und ein Mädel sich geistig etwas bedeuten‹, dachte er, ›warum muß dann immer geheiratet werden?‹

Aber die Sitte verlangte es, und das Schandmal des Familientäuschers durfte er sich nicht aufbrennen lassen.

Ein Tag war wie der andere. Frau Schimmelpfennig brachte das Mittagessen, Frau Schimmelpfennig brachte das Abendbrot – er sah sie kaum an. Nur wenn gelegentlich Helene an ihm vorüberhuschte, schaute er auf und genoß ihre blühende Jugend.

Nach seinem Lieblingsschüler fühlte er kein Verlangen, obwohl er ihn fast täglich vor sich sitzen sah. Kaum, daß im Vorübergehen sein Auge ihn grüßte.

Nichts auf der Welt gab es, wonach er verlangte, außer – nein, eigentlich auch nach ihr verlangte er nicht. Dieses gestand er sich oft, so widersinnig es schien. Alles war gut so, wie es war. Jedes weitere Sichnähern mußte dem Frieden ein Ende machen.

Ihren Mann sah er tagtäglich – wenn auch meistens nur von weitem. Man sprach gerade mit andern, man winkte sich einen Gruß zu, oder ging man vorüber, so schüttelte man sich rasch noch die Hand.

Bis jener eines Morgens auf ihn zutrat und in scherzendem Vorwurf fragte: »Nun? Haben Sie uns schon ganz vergessen? Meine Frau läßt Ihnen sagen, daß sie Ihnen nächstens böse sein wird.«

So viel heißes Glück spendete dieses Wort, daß ein Ausweichen Frevel gewesen wäre. Und so meldete er sich für den folgenden Abend.

Nun saßen sie wieder im Dreieck rings um den runden Tisch. Die La Francerosen, die er ihr mitgebracht hatte, glühten in silberner Schale, und das Sonnenuntergangslicht machte Feuerwerk auf dem Kupferschirm der hochhängenden Lampe.

»Eure Tage hier im Norden«, sagte sie, »machen mir Angst. Es sieht so aus, als gibt's überhaupt keine Nacht, und wenn die Dämmerung gar nie ein Ende nimmt, dann kommt man in eine Art Rauschzustand und denkt, man kann den Schlaf überspringen.«

»Dazu würde ich nicht raten«, erwiderte Sieburth. »Ich tu's ja manchmal, weil ich überhaupt zum Nachtgetier gehöre, aber wie ich am nächsten Morgen durch mein Kolleg komme, das wissen die Götter.«

»Und mir geht's umgekehrt«, sagte Hildebrand. »Ich halt's mit den Singvögeln. Wird's dunkel, dann steck' ich den Kopf unter den Rock und schlafe ein. Das können Sie unter Umständen heut noch erleben.«

»Du wirst doch nicht!« rief sie in scherzendem Drohen.

»Wer kann wissen?« lachte er. » C'est plus fort que moi.«

»Dann müssen wir andern wohl auf Filzstiefeln gehen«, sagte Sieburth.

»Im Gegenteil. Kein Kanonenschuß kann mich wecken … Ad vocem Filzstiefel: Im Kloster Heilsbrunn gab's eine Bestimmung, daß jedem Richter des Blutbanns ein Paar Filzstiefel zum Geschenk gemacht wurde, ob er sie brauchte oder nicht. Finden Sie das nicht sinnig?«

»Gewiß«, sagte Sieburth. »Die Gerechtigkeit ist immer eine Leisetreterin gewesen.«

»Auch wenn sie als Blutbann arbeitete?« fragte Hildebrand. »Wenn zum Beispiel – – –«

Und schon fuhr er mit vollen Segeln auf das weite Meer der deutschen Vergangenheit hinaus.

Eine unermeßliche Fülle von Einzelwissen, zu weitschauenden Erkenntnissen zusammengerafft, zu wohlbegründeten Hypothesen verwertet, durch kühne Analogieschlüsse immer neue Horizonte eröffnend, strömte von ihm aus. Er selbst hatte eine so kindliche Freude an dem Arbeiten seines Geistes, daß man sich unwillkürlich von ihm anstecken ließ und umso vermessener mitarbeitete, je weniger die Mängel des eigenen Wissens eine Kontrolle erlaubten.

Einen besonderen Genuß bot es dem Logiker und Psychologen, die Irrgänge seiner Gedanken fachgemäß zu durchsichten und das, was Intuition ihm brachte, in begriffliche Reihen auseinanderzuziehen.

Nicht bloß, wo er fehlzugehen schien, griff Sieburth ein, oft sekundierte er ihm auch und zog die letzten Konsequenzen, zu denen jener noch nicht gelangt war.

Und dann machte Hildebrand große, erstaunte Augen, die richtigen Kinderaugen, aus denen man unverhohlene Bewunderung herauslas.

Sie mochte recht gehabt haben: Die beiden ergänzten einander, sie brauchten einander und waren vom Schicksal selber zu Freunden bestimmt.

Mit einem Lächeln stillen Triumphes saß sie daneben, lauschte dem, der gerade sprach, und fast schien es, als sei sie stolz auf den einen wie auf den andern.

Längst waren sie vom Tische aufgestanden und hatten es kaum bemerkt; die Zigarren funkten, die Lampe, die sich vom Anstecken an aufs Räuchern gelegt hatte, wurde dauernd heruntergeschraubt, und durch die geöffneten Fenster drang aus dem rötlichen Dämmer des Gartens das Flöten der Nachtigall.

Da – ganz plötzlich, beinahe mitten im Reden – legte er den Kopf auf die Seite, stotterte, gähnte, und im nächsten Augenblick, ohne sich aufzustützen oder nur anzulehnen, schlief er den Schlaf des Gerechten.

Sofort sprang sie auf, bettete seinen Kopf auf der Lehne des Sessels und legte seine Hände auf dem Schoße zurecht.

Sieburth wollte aufbrechen, aber sie bat ihn herzlich zu bleiben.

»Er würde untröstlich sein«, sagte sie, »wenn er beim Aufwachen erführe, daß er Sie auf diese Weise vertrieben hat.«

Den Blick in voller Liebe auf den Schlafenden gerichtet, saß sie da, sorgende Zärtlichkeit auch in dem gespannten Lächeln.

»Er lebt eben mit tausend Energien«, fuhr sie fort, »und es ist die Kraft selber oder, wenn ich so sagen soll, das Glück darüber, was ihn so müde macht. Nach zehn Minuten wacht er auf, und dann tut man gut, sich zu benehmen, als wäre nichts geschehen … Wenn Sie häufiger kommen, werden Sie das oft erleben.«

»Aber das vorige Mal war es nicht so«, sagte Sieburth leise.

»Da sind Sie ihm noch zu fremd gewesen«, erwiderte sie, »und da hat er sich arg zusammengenommen. Übrigens können Sie so laut sprechen, wie Sie nur wollen. Nicht einmal im Traume hört er Sie.«

Dabei stand sie auf, das Fenster zu schließen.

»Es kommt kühl von draußen«, sagte sie. »Wer weiß, ob ihm das gut tut?«

Und dann sich setzend: »Manchmal, wenn ich mich gräme, daß ich kein Kind habe, tröste ich mich damit, daß er es ja ist, doch ich glaube, das sagte ich Ihnen schon einmal … Außerdem: so etwas Herrliches zu hüten ist eine Lebensaufgabe, neben der keine andere bestehen kann. Meinen Sie nicht auch?«

»Sie mögen recht haben«, erwiderte er, »aber mir tut es weh.«

»Gewiß, weil Sie allein sind«, sagte sie. »Aber warum sind Sie allein?«

»Nein, das ist es nicht … Weil Sie nichts und niemand – auch keinen Freund mehr brauchen können.«

Die beiden Sonnen gingen auf. Groß und ehrlich sah sie ihn an.

»Doch«, sagte sie, »Sie wissen ja: Sie brauche ich.«

Und als er trotzdem mutlos die Achseln zuckte, fuhr sie beteuernd fort: »Nein, nein. Im Ernst! Ich weiß selber nicht, wie das gekommen ist. Wenn ich an Sie denke, habe ich immer das Gefühl: ich muß mit ihm reden, ich muß mit ihm reden … Was, weiß ich selber nicht … Aber es muß etwas Leeres in mir sein. Etwas Hungriges … Wofür nur Sie die Speise haben. Das ist kein Unrecht an ihm, gelt?« – Sie beugte sich vor und streichelte des Schlafenden Hand. »Ich möchte es ihm auch sagen, aber vielleicht beunruhigt es ihn, drum behalt' ich's lieber für mich … Bitte, bitte, seien Sie sein Freund! Ich bitte so sehr!«

»Ich bin's ja«, sagte er vor sich nieder.

»Nein, nein, Sie sind es nicht, Sie denken bei dem allen bloß an mich, das fühle ich. Wäre ich gefallsüchtig, dann würde es mir schmeicheln. Ein bißchen tut's das ja auch. Aber nicht sehr. Viel mehr ängstigt es mich. Während – wenn Sie sein Freund wären, dann würde unwillkürlich auch für mich etwas abfallen. Und damit wäre ich zufrieden.«

»Ich will es sein«, erwiderte er, während eine Art von schmerzlichem Entsagen ihm die Kehle zuschnürte.

Er sah den Schlafenden an, der mit einem friedlichen Lächeln die blondbeschopfte Stirn gegen das Seitenpolster lehnte, und was ihm aufwallend durch Kopf und Herz ging, kam fast einem Gelübde gleich.

Dann stand er auf.

Und sie hielt ihn nicht mehr.


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