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Fünftes Kapitel

Der Mann, der sein Leben also führte und der die hier geschilderte Wirkung hervorrief, war vor etlichen Jahren auf Wunsch des Ministeriums und auf Anraten des großen Hegelianers, der seines hohen Amtes wegen mit dem Lesen hatte aufhören müssen, an die Universität gerufen worden.

Sein wissenschaftliches Gepäck war leicht und durchaus nicht dem Laden des Hegelianismus entnommen. Im Gegenteil: die zwei oder drei dünnen Bändchen, die er, von einer schulmäßigen Doktordissertation abgesehen, bisher veröffentlicht hatte, zeigten eine entschiedene Abkehr von der alleinseligmachenden Lehre, die früher Jahrzehnte lang von fast allen Lehrstühlen des preußischen Staates gepredigt worden war. Ja, wer schärfer hinsah, fand sogar hie und da verstohlen lächelnden Hohn, den ihm die noch übrigen Bonzen des Hegelianismus niemals verziehen haben würden.

Aber gerade darin erwies sich die Größe des ehrwürdigen Greises, daß er, nachdem er sich über die geistige Potenz des Verfassers klargeworden war, nicht zögerte, ihn als Stellvertreter und, wenn er sich bewährte, auch als künftigen Nachfolger der sich widersetzenden Fakultät zu empfehlen.

Bis auf weiteres freilich war an ein Ordinariat noch nicht zu denken, denn Sieburth stand am Beginne der Dreißig und war erst vor einiger Zeit nach kurzer Privatdozentur zum Außerordentlichen aufgerückt.

Von der mitteldeutschen Universität, wo er sich rasch emporgedient hatte, ging ihm kein schlechter Ruf voraus. Nur hatte dieser oder jener der dortigen älteren Herren sich in Freundschaftsbriefen über gelegentliche Arroganz zu beklagen gehabt. Aber das sei ja jetzt in der jungen Generation Mode geworden, so hatte einer von ihnen geschrieben, seit dem verhängnisvollen Schopenhauerschen Einfluß Tür und Tor geöffnet worden war.

Seine Erscheinung und sein Auftreten enttäuschten die argwöhnisch Zuwartenden in angenehmer Weise.

Ein wohlgebildeter junger Mann mit Schwärmeraugen und bescheiden gedämpfter Stimme. Manieren rücksichtsvoll und von feinster Schulung zeugend, wiewohl er, wie sein Curriculum bewies, dem niedrigen Volke entstammte. Allgemeinbildung tadellos. Hervorragend seine Kenntnisse der alten Klassiker. Und in Mathematik und theoretischer Naturwissenschaft nicht so unbewandert, wie man es bei Philologen gewohnt war.

Alles in allem hoffnungsvoll und vielversprechend, wenngleich – Dieses »wenngleich« ließ sich schwer definieren, aber es war da und wollte nicht zum Schweigen kommen. Man traute ihm nicht recht. Vielleicht, weil diesem und jenem sein Lächeln hinterhältig erschien; vielleicht, weil er die Frauen allzusehr auf seiner Seite hatte. Kurzum: man fühlte sich gemüßigt, ihm bald einen Zweiten auf die Nase zu setzen.

Wie der Zufall es im Universitätsleben oft mit sich bringt, waren zur Zeit beide Ordinariate der Philosophie erledigt, denn der große Hegelianer zählte nur der Form nach noch mit.

Jener Zweite kam und wurde recht eigentlich der Erste. War er doch schon länger als seit einem Jahrzehnt als Außerordentlicher etatsmäßig angestellt gewesen und brachte er doch die Gewißheit mit, nach einer stillschweigend gebotenen Bewährungsfrist in das andere der beiden Ordinariate einzutreten.

Von da an änderte sich die Haltung Sieburths.

Er ließ – wenn auch immer im Bereich der besten Formen – seine Überlegenheit spielen. Sein Spötteln wurde für manchen zur Geißel, und je mehr der andere – ein braver propädeutischer Handwerksmann – sich in sein Amt hineinwuchs, desto häufiger regte sich das Bewußtsein, daß an dem Begabteren und Bedeutenderen ein Unrecht geschehen sei, das sich sobald nicht wiedergutmachen lassen würde.

Denn erst mußte der allverehrte Greis von hinnen gegangen sein, und damit hatte es gute Wege.

Zugleich begann ein Gemunkel, daß Sieburths Privatleben sich den Gesetzen der strengen Sitten, wie sie an Universitäten nun einmal gang und gäbe sind, nicht einfügen wolle. Viel schadete das Gerücht ihm nicht, denn er war ja noch unverheiratet, und manche Mutter lebte in seufzender Hoffnung, daß es den Reizen der flügge gewordenen Tochter gelingen würde, ihn auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Man kann vielleicht sogar sagen, daß er dadurch noch begehrter und umworbener wurde. Unter den jungen Herren des Lehrkörpers galt er jedenfalls als der einzig Interessante, als derjenige, mit dem ein intimeres Gespräch zu führen selbst den Matronen nicht unlohnend schien, und wenn man jede der berüchtigten drei »Schicksalsschwestern«, von denen hier oft die Rede sein wird, auf Herz und Nieren geprüft hätte, so würde man zweifellos die Antwort erhalten haben: »Wär' ich dreißig Jahre jünger und wär' ich noch frei – wer weiß, wer weiß!«

Dazu kam, daß auch sein Vorleben allerhand Romantik in sich bergen sollte. Vom Glück unerhört begünstigt, sei er aus den tiefsten Tiefen menschlicher Gesellschaft bis zu schwindelnden Höhen emporgestiegen. Fürstentöchter hätten ihn geliebt, und vielbegehrte Künstlerinnen wären ihm nachgelaufen.

Das alles tuschelte man auf den Sofaplätzen der Kaffeekränzchen einander zu und war eifrig bemüht, es durch Tatsachen neu zu bereichern.

Als Wahrheit ergab sich folgendes: Daß er dem niederen Volke entstammte, daraus machte er auch im Gespräche niemals ein Hehl. Im Gegenteil, um dem Verdacht des Vertuschens zu entgehen, pflegte er es sogar geflissentlich zu betonen.

Sein Vater, Wiegemeister in einer Malzfabrik, war eines Tages von seinen Gewichten erschlagen worden, und seine Mutter ging, um sich und ihren Knaben durchzubringen, als Wäscherin in vornehme Häuser, wo sie ihrer Pflichttreue halber wohlgelitten war.

Eines Abends, als er sie abholte, wurde er von der Hausfrau bemerkt und in die vorderen Räume mitgenommen. Man fand Gefallen an den aufgeweckten Antworten des Achtjährigen und beschloß, ihn die höhere Schule besuchen zu lassen.

Als er neun Jahre später der Abgangsprüfung nahe war, starb seine Wohltäterin und bald darauf auch seine Mutter.

Nun begann eine schwere Hungerszeit. Ohne einen Pfennig in der Tasche ging er aus seiner rheinischen Heimat nach Berlin, weil man ihm gesagt hatte, daß dort die meisten Möglichkeiten blühten, durch eigenes Verdienen die Mittel zum Studium zu erraffen.

Ein abenteuerlicher Kampf um das Notwendigste füllte die nächsten Jahre aus. Aber er kam vorwärts. Er brachte es nicht allein zuwege, in seinem eigentlichen Berufe, den alten Sprachen, mit allen andern Schritt zu halten, er fand auch Zeit und Kraft, dem Hang der Philosophie zu frönen, der ihn beherrscht hatte, seit er als Knabe dessen innegeworden war, daß neben der Weltanschauung des Katholizismus noch andere Gedankenreihen existieren, in denen die Menschheit, gierig nach dem Wissen um die letzten Dinge, Zuflucht und Befreiung sucht.

Mit eiserner Gesundheit ausgestattet, überstand er alle Prüfungen des äußeren Elends und der inneren Not.

Aber schließlich wäre er doch wohl unterlegen, wenn nicht der Zufall ihm einen Glücksumschwung gebracht hätte, wie er nachdrücklicher in keines jungen Menschen Leben eingreifen konnte.

In dem Kolleg bei Zeller saß öfters neben ihm ein unscheinbarer, wenn auch gutgekleideter junger Mann, mit blassem, sommersprossigem Milchgesicht und glatt zurückgestrichenem Blondhaar, anzusehen wie ein krankes Meerschweinchen, hüstelnd und schweratmig, recht eigentlich zum Sterben geboren.

Der hatte ihn zwei- oder dreimal, da er Unwohlseins halber hatte fehlen müssen, um sein Heft gebeten, und Sieburth hatte es ihm, wenn auch ungern, anvertraut – ungern, weil er die Gewohnheit hatte, kritische Bemerkungen, oft drastischer, als die Ehrfurcht vor der Weisheit des Lehrers es erlaubte, an den Rand zu schreiben.

Aber gerade diese Bemerkungen waren es, die die Gunst des Schicksals auf ihn lenkten.

Eines Tages, als der junge Mann ihm wieder einmal mit höflicher Verbeugung das Heft zurückgab, sagte er: »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich aus Ihren Randglossen mehr lerne als aus allem, was der Professor uns erzählt. Wollen Sie mir die Freude machen, mir ein paar Nachhilfestunden zu geben? Ich allein finde mich in diesen Dingen nicht zurecht.«

Und dabei nannte er seinen Namen: »Prinz Aribert« und fügte einen andern, den eines größeren mitteldeutschen Fürstentums, hinzu.

Das war die Wende, das der Tribut, den sein versöhntes Schicksal ihm schuldete. Vier Wochen später konnte der Prinz, der nur von ein paar faden Schranzen umgeben war, nicht mehr ohne ihn leben und erreichte es, daß Sieburth als eine Art von Hofmeister oder Kollaborator in seinen Haushalt übersiedelte.

So kam er, als die Ferien anbrachen, auch an des Prinzen väterlichen Hof und fand Gelegenheit, seine Stellung gegen tausend Neider und Feinde zu verteidigen.

Und diese Stellung festigte sich noch, als es ihm gelang, während er selber spielend promovierte, auch seinen Gönner und Schützling durch das Examen zu schleifen.

Aus dieser Zeit datierte seine Welt- und Menschenkenntnis, seine Leichtigkeit in der Beherrschung jeder gesellschaftlichen Form, aber auch seine Skepsis, sein geistiger Übermut und der Trieb, mit dem zu spielen, dem er sich überlegen fühlte.

Und noch ein anderes kam daher: Der Prinz, der sich von Kindesbeinen an – und wohl mit Recht – umspäht und umspitzelt glaubte, liebte es, geheime Wege zu gehen. Trotz seiner Kränklichkeit – oder vielleicht gerade wegen ihrer – fühlte er einen unstillbaren Lebensdrang in sich, der allem Fremden, insbesondere dem größten aller Rätsel, dem Weibe, galt.

»Ich muß doch bald sterben«, pflegte er zu sagen, »ich will vorher noch alles genossen haben, was es für mich zu genießen gibt.« Und in Sieburth, dem die zermürbende Arbeit ums tägliche Brot jede Möglichkeit verbaut hatte, auf seine Wünsche zu achten, brach der gleiche Hang nur um so schneidender und ungestümer, weil von gesunder Kraft getragen, jählings hervor.

Leben, leben, leben! Alles nachholen, was versäumt, alles vorwegnehmen, was später unmöglich war – das wurde der Wahlspruch seiner Tage!

Nur die Sorge um die Wohlfahrt seines Pflegebefohlenen dämmte ein, was überflutend vielleicht auch ihm zum Verderben geworden wäre.

Aber das Harun-al-Raschid-Spielen wurde Gewohnheit im Leben der beiden jungen Männer, die, aus entgegengesetzten Bezirken des Lebens stammend, sich zur Bewältigung dieses Lebens zusammengetan hatten.

Wenn sie abends den Aufpassern entschlüpft waren, suchten sie vorerst ein heimlich gemietetes Zimmer auf, in dem sie allerhand Werkzeuge zum Sichverkleiden aufbewahrten. Möglichst unkenntlich geworden zogen sie dann in der nächtlichen Weltstadt umher und glaubten, mit jeder Streiferei sich neue Reiche der Erkenntnis zu erobern.

Zu gleicher Zeit wurde Sieburth die freudige Gewißheit, daß ihm durch Wesen und Erscheinung eine nicht oft versagende Macht über das Weibtum verliehen war. Während sein Freund, der Fürstlichkeit entkleidet, zu gänzlichem Unbeachtetsein herabsank, flogen ihm selber die Herzen entgegen.

Und dieser Einfluß, durch wachsende Sicherheit befestigt, blieb ihm treu, wenn er in den Monaten der Ferien mit der Hofluft zugleich den Hauch jener Weiblichkeit einatmete, die ihr Triebleben in Formenstrenge vergräbt, um es nur ab und zu in Heimlichkeit und Gefahren dem zu eigen zu geben, der es versteht, zu günstiger Stunde mit der Wünschelrute des Begehrens darüber hinzustreichen.

Doch über gelegentliche Abenteuer brachte er es nicht hinaus, und alles, was man sich von seinen romantischen Schicksalen erzählen mochte, war ein Märchen.

Auch vernachlässigte er seine Studien nie, und wer von seinen Feinden ihm aufpaßte, konnte oft bis gegen den Morgen lauern, ehe das Licht in seinem Arbeitszimmer erlosch.

Derweilen begann es seinem Pflegling schlechter zu gehen. Die Ärzte verordneten eine lange Seefahrt, und nur begleitet von einem jungen, gewissenhaften Mediziner und einer Dienerseele, so treu, daß sie recht eigentlich in die deutsche Heldensage gehörte, traten sie eine Reise um die Erde an, mit dem wohlbedachten Plane, in den Breiten zu verweilen, in denen der Kranke die meiste Erleichterung verspürte.

Nach anderthalb Jahren kehrte er im Sarge liegend zurück. Unter den blühenden Kirschbäumen Japans hatte der Tod ihn ereilt. Und als sein Testament eröffnet wurde – durch seine längst verstorbene Mutter war er materiell selbständig gewesen –, sah sich Sieburth mit einem Legat bedacht, das ihm erlaubte, den Lehrerberuf, dem er sonst nie entgangen wäre, zum alten Eisen zu werfen und sich ohne Furcht vor langjährigem Darben als Privatdozent der Philosophie zu habilitieren.

Ein paar erkenntnistheoretische Studien, in einem Stil geschrieben, den nur der Eingeweihte verstand und fachgemäß zu würdigen wußte, sicherten ihm die Aufmerksamkeit maßgebender Männer. Die außerordentliche Professur ließ nicht lange auf sich warten, und ihr folgte auf ausdrückliches Verlangen des Ministeriums die Berufung nach der Albertina, einen Aufstieg verheißend, als dessen Ziel und Gipfel der Lehrstuhl Kants zu winken schien.

Auch daß jener andere vor ihm ordentlicher wurde, konnte im Grunde nichts daran ändern. Wundgeritzte Eitelkeit – mehr war es nicht, was ihm geschah. Die »Anciennität« sprach für jenen. Ihr galt es sich zu fügen, wenn auch das Bewußtsein überragenden Könnens ihn mit Bitterkeit erfüllte.

Vier Jahre lebte er nun schon in der alten Krönungsstadt. Seine Hörerschaft wuchs von einem Semester zum andern, und das war ein um so größerer Erfolg, als die Prüfungen jetzt der andere versah, bei dem allein sich Brot und Ehren holen ließen.

Und der Erfolg wurde zum Triumph, wenn jener andere – Hagemann war sein Name – getreulich nachmachte, was er selber aus innerstem Bedürfnis geschaffen hatte.

Neben den durch den Lehrgang gebotenen Privatvorlesungen, die in einem bestimmten Turnus wiederzukehren hatten, pflegte er in jedem Semester ein öffentliches Kolleg zu bringen, das an sich pflichtgemäß war, für das er aber meistens ein neues, Aufsehen erregendes Thema wählte – der Literatur-, der Kultur-, der Religionsgeschichte entnommen – immer im Zusammenhang mit seinem eigentlichen Lehrauftrag und doch möglichst darüber hinausgreifend.

Diese öffentliche Vorlesung – manchmal ein-, manchmal zweistündig – galt als ein Ereignis für die gebildeten Kreise der Stadt und wurde auch von Außenstehenden mit Eifer aufgesucht.

Im nächsten Semester aber kam der »Andere« fast regelmäßig mit einem ähnlichen Thema, das sich oft nur durch den Wortlaut von dem seinen unterschied.

Und die Wissenden lachten. Nicht zu guter Letzt die Frauen, soweit sie durch ihre Männer in diese Dinge eingeweiht waren, denn sie gehörten in geschlossener Reihe zu Sieburths immer noch wachsender Partei.

Noch hatte er sich keinem Hause so weit genähert, daß man von Zukunftsplänen sprechen konnte, und das war sein Glück.

Wohl verband ihn herzliche Kameradschaft mit einem Schwesternpaar, das durch Schönheit und Geist weit über den sonstigen Nachwuchs der Professorenschaft hinausragte. Die Töchter des berühmten Chirurgen waren es, zu dessen Klinik der ganze hilfsbedürftige Osten pilgerte. Die eine von ihnen war sogar bei einer mißglückten Segelpartie aus den Fluten der Ostsee von ihm gerettet worden, aber die entsprechenden Folgen ließen so lange auf sich warten, daß das hoffnungsvolle Getuschel wieder verstummte.

Und ebensowenig hatte die Freundschaft zu Frau Follenius, die er mit wohlweiser Vorsicht pflegte, Anlaß zu zweifelnden Deutungen gegeben.

Das Haus des Großkaufmanns Follenius galt mit Recht als eines der ersten und gastfreiesten in der gastfreien Stadt, und die Zierden der Universität gingen von alters her darin aus und ein.

Mit einer gewissen Auswahl freilich. Follenius gehörte als Sohn und Erbe eines alten Achtundvierzigers naturgemäß zur Fortschrittspartei, und darum geschah es, daß von den Universitätslehrern nur diejenigen bei ihm verkehrten, die den neuerdings sehr regsam sich gebärdenden reaktionären Umtrieben mit entschiedener Ablehnung gegenüberstanden.

Er war ein stämmig behäbiger Mann Mitte Vierzig, dessen ostpreußische Herbheit allerhand Bildungsreisen wie auch die langjährige Vertretung des weitangesehenen Handlungshauses in Berlin wohltuend abgeschliffen hatten.

Dort war es ihm sogar vergönnt gewesen, in den Salons des Tiergartenviertels eine gewisse Rolle zu spielen, die er dadurch krönte, daß er schließlich mit einer vielgenannten Schönheit am Arm, die sich um seinetwillen von ihrem ersten Gatten, einem Musiker von weitverbreitetem Rufe, hatte scheiden lassen, in die strengere Luft des preußischen Ostens zurückkehrte.

Das Gemisch von Ehrerbietung und Entrüstung, mit dem die stets gierige Phantasie der biederen Provinzialen diesen Roman in Empfang genommen hatte, verflüchtigte sich allgemach, und übrig blieb ein mildes Lächeln des Respekts, der durch das Gefühl weitherzigen Verzeihens nur noch größer wurde, zumal der neu sich entfaltende Glanz des Hauses ihm täglich frische Nahrung gab.

Marion Follenius, die einst mit dem gefeierten Gatten – kaum minder gefeiert als er – die halbe Welt durchflogen hatte, saß nun gebannt in diesen Erdenwinkel, dessen eingeengte Sitten und umständliche Manieren anzunehmen sie eifrig bemüht schien, war eine sorgsame Ehefrau, eine hingebende Mutter und lenkte daneben – gleichsam mit dem kleinen Finger – die Geselligkeit der oberen Kreise so anmutig und selbstverständlich, daß sogar die beiden Exzellenzen, die Gattin des Oberpräsidenten und des Kommandierenden, sich an ihr ein Beispiel nehmen konnten.

Aus der geschmeidigen, hochschlanken Weltfahrerin war derweilen in dem aufregungslosen Wohlleben des alten Patrizierhauses eine üppig behagliche Rubensgestalt geworden, mit feinmaschigem Rotweingeäder auf den vollgerundeten Wangen und einem gütereichen Blauaugenpaar, das mit immer gleicher Geruhsamkeit ihre Umgebung zu meistern verstand.

Nur einer, der schärfer hinsah und die seltenen Augenblicke müden Selbstvergessens aufzufangen wußte, konnte dahinter den Brand fressender Lebenssehnsucht entdecken, der immer wieder schnell von gewohnter Beherrschtheit erstickt wurde.

Und Sieburth war so einer. Oder der einzige vielmehr, denn fraulichen Geheimnissen nachzuspüren, gehörte nicht zu den Künsten der Männer aus jenen Bezirken, in denen die eheliche Ehrbarkeit nur um einer bequemen Dienstmagd oder, wenn's hochkam, einer weniger bequemen Balletteuse willen Schiffbruch litt.

Und eines Tages, als er zum Tee bei ihr gewesen war – die Damen liebten es, sich von ihm in die Jagdgründe des philosophischen Denkens einführen zu lassen –, da hatte er ihr die Ergebnisse seiner Beobachtungen kühn ins Gesicht gesagt.

Sie erschrak nicht, sie leugnete auch nicht, sie bat ihn nur, nie mehr über diese Dinge mit ihr zu reden. Und so geschah es.

Aber jene Stunde hatte ein verschwiegenes Einverständnis zwischen ihnen geschaffen, das bei gesellschaftlichen Begegnungen in vertieften Blicken und verstärktem Händedrücken vertrauensvolle Sprache erhielt.

Und aus dem Einverständnis wurde Mitwisserschaft.

Eines Tages ließ sie ihn durch dringende Botschaft zu sich rufen.

Er fand sie in ratloser Erregung.

»Sie müssen mir beistehen, Professor. Sie sind der einzige, auf dessen Verschwiegenheit ich rechnen kann … Mein erster Mann ist hier … Er ist unter falschem Namen in einem obskuren Hotel abgestiegen und bombardiert mich mit Briefen. Er könne nicht mehr leben ohne mich, ich müsse mit ihm gehen, und was sonst noch mehr. Da, lesen Sie.«

Und sie reichte ihm ein Bündel von Briefbogen, auf denen in taumelnden Schriftzügen der Irrwahn eines von hoffnungslosem Rückbegehren befallenen Mannes sich offenbarte.

»Ich muß ihn sprechen, muß ihn beruhigen«, fuhr sie fort, »sonst weiß ich nicht, was geschieht. Aber allein kann ich nicht zu ihm. Man würde mich vielleicht erkennen, und dann wäre es um meinen Ruf geschehen. Sie müssen mich begleiten. Wollen Sie?«

Er überlegte. »Auch das könnte zu Mißdeutungen Anlaß geben«, sagte er. »Ich schlage Ihnen etwas Besseres vor, gnädige Frau. Lassen Sie mich allein zu ihm gehen, und erst, wenn das nicht hilft – aber es wird helfen – ich glaube, dafür kann ich mich verbürgen.«

In Dankbarkeit erglühend, ergriff sie die helfende Hand.

Er hatte nicht zu viel versprochen. Der erinnerungs- und sehnsuchtstolle Mann, der ihn zu Anfang als eine Art von begünstigtem Liebhaber beargwöhnt hatte, war teils durch mutlos machenden Hohn, teils durch begütigenden Zuspruch binnen einer halben Stunde so willenlos geworden, daß er sich wie ein Kind zur Bahn schleppen und in den nächsten Zug setzen ließ, der ihn schleunigst von dannen führte.

Sieburth erlebte sogar die Genugtuung, vor dem Abschied als Wohltäter von ihm gepriesen zu werden.

Diese verdienstvolle Hilfeleistung schlang ein neues Band um ihn und die schöne Frau, das nur deshalb das nicht wurde, was es recht eigentlich war, weil keiner von ihnen bisher die Zuversicht gefunden hatte, es mit dem rechten Namen zu nennen.

Die althergebrachte Sittenstrenge der Provinz ebenso wie die selbstverständliche Unnahbarkeit der weithin sichtbaren Patrizierin verbot das lockere Liebesspiel, mochte es noch so sehr bereit sein, sich als Schicksal und als Leidenschaft zu gebärden.

Was aber zwischen ihnen flimmerte, war eindeutig genug, um beiden das Gefühl zu geben, daß sie durch Gewährung und Verheißung aneinander gefesselt seien.

Und das Unausgesprochene bot nur einen Anreiz mehr und zugleich eine prickelnde Genugtuung, über dem eigenen Begehren zu stehen.

So lebte jeder von ihnen sein Leben. Sie mit dem wackeren Mann, den schönen Kindern und dem nie abzutragenden Wust geselliger Verpflichtungen. Er mit seinen Büchern, seinen Schülern, den ernsten Lebenszielen und den kleinen Abenteuern, die den Weg dahin heiter umrankten. Jeder des Augenblickes gewärtig, der sie einander in die Arme werfen würde.


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