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Drittes Kapitel

Die öffentliche Eisbahn, die sich auf dem Schloßteich allen Schlittschuhläufern ohne Ansehen der Person weitherzig aufgetan hatte, stand bei den Cheruskern in sehr geringer Achtung.

Wer auf sich hielt, der hatte dafür zu sorgen, daß er vom Eislaufverein, der auf der andern Seite der Brücke eine streng geschlossene Bahn besaß, in aller Form Rechtens eingeladen wurde, wenn er es nicht vorzog, zahlendes Mitglied zu werden.

Aber drüben zwischen Ladenfräuleins und Handlungsgehilfen umherzutosen, war eines Cheruskers unwürdig und konnte nur geduldet werden, wenn er Mütze und Band zu Hause ließ und seinen hohen Rang in einem knotenhaften Zivil versteckte.

Nun wollte es aber Fritz Kühnes Schicksal, daß er, als er eines Januarnachmittags in vollem Farbenschmuck über die Schloßbrücke ging, drunten auf der Plebejerseite Helene Schimmelpfennig in einem kunstvollen Bogen an sich vorüberschweben sah.

Er erkannte sie sofort – trotz des grauen Krimmerbaretts und des blankschwarzen Kaninchenkragens, der ihren jungschlanken Hals bis zu den Ohren hinauf umschloß.

Und ein Herzklopfen überwindend, rief er ihr in einer höchst formlosen Weise – sein Leibbursch hätte es niemals geduldet – einen fröhlichen Gruß hinunter.

Sie stoppte sofort. Ihre Augen leuchteten auf. Ihr Wangenrot glitt um eine Schattierung zu Purpur hinüber, und ihr Muff, der weder zu dem Barett noch zu dem Kragen in irgendeiner Beziehung stand, sondern vielmehr einem langzottigen Fußsack ähnelte, gab ihm winkend den Gruß zurück.

Dann aber wußten sie nicht, was miteinander beginnen. Denn von oben nach unten und von unten nach oben in eine Konversation einzutreten, wäre aus Schicklichkeitsgründen für beide unmöglich gewesen.

Drum wählte er eine andere Unmöglichkeit, lief zum Brückenende zurück, stieg die Treppenstufen hinunter, und nachdem er eine Eintrittskarte gelöst hatte, betrat er kühnlich den verpönten Bezirk.

In unbefangener Freude stand sie da und erwartete ihn.

»Wollen Sie sich nicht ein Paar Schlittschuhe mieten?« fragte sie, ihm durch den Fußsack hindurch die Rechte entgegenstreckend. »Wir könnten so schön zusammen Bogen schneiden.«

Nun war guter Rat teuer.

Offenbar hatte sie keine Ahnung von der gesellschaftlichen Minderwertigkeit des Ortes, an dem sie sich vergnügte. Kränken durfte er sie nicht, und bleiben durfte er auch nicht. Wie leicht konnte er von einem über die Brücke gehenden Corpsbruder inmitten der Proleten ertappt werden! Drum faßte er sich ein Herz und sagte: »Ich möchte Ihnen im Gegenteil den Vorschlag machen – schnallen Sie Ihre Schlittschuhe ab, und lassen Sie uns eine Strecke zusammen gehen. Laufen können Sie hier immer, und begegnen tun wir uns nie.«

Und siehe da! Sie, die ihn im ersten Augenblick verwirrt und erschrocken angesehen hatte, kniete nieder und löste schweigend die Schnallen.

»Sie haben recht«, sagte sie, sich aufrichtend, »reden kann man hier unten doch nichts. Man wird ewig geschubst und schubst auch die andern.«

Dann schlug sie den Schnee von den Eisen und schritt ihm voraus die schlüpfrigen Stufen hinan.

Der frühe Abend sank herab, und hier und da flackerten schon die Laternen.

»Wo wollen wir hin?« fragte sie.

»Mir ist's egal«, erwiderte er, »wo weniger Menschen sind.«

Die Wahrheit war: er fürchtete die Neckereien der Seinen.

Wenn er auch jeden angehaucht hätte, der ihr mit einem Zweifel nahegetreten wäre – wie eine junge Dame von Stande sah sie nicht aus, und klatschnährende Spaziergänge mit Schülerinnen und Nähmädchen waren nicht sehr beliebt in den Kreisen der wilden Cherusker.

Sie gingen und gingen und wußten kaum einmal, wo. Nur daß die Straßen dunkler wurden und immer seltener die Begegnenden, fiel ihnen auf.

»Der Professor hat mir zwar erlaubt, wiederzukommen«, brach er das Schweigen, »ich hab' auch oft daran gedacht. Aber schließlich hab' ich's doch nicht riskiert, denn vielleicht hat er das bloß so hingesagt, und wenn ich ihn nun beim Wort halte, schmeißt er mich 'raus.«

Aber da wußte sie besser Bescheid.

»Sie irren sich gewaltig!« rief sie in hellem Eifer. »Mehr als einmal hat er zu Mama gesagt: ›Ich sehe den jungen Cherusker, der damals bei mir war, immer in meinem Kolleg. Ich glaube, nicht einmal hat er gefehlt. Aber herkommen tut er nicht mehr, obwohl ich's ihm noch besonders ans Herz gelegt habe.‹«

Nun strahlte er auf.

»Hätte ich davon eine Ahnung gehabt!« rief er. »Das Haus hätt' ich ihm eingelaufen. Und immer hätt' ich's so eingerichtet, daß er nicht da war wie damals. Dann hätt' ich bei Ihnen warten dürfen, und wir wären rasch gute Freunde geworden.«

»Mir scheint, das sind wir auch so«, erwiderte sie, »denn wie ginge ich sonst mit Ihnen hier im Stockdunkeln?«

»Hoffentlich ist Ihnen nicht bange?« sagte er.

»Wie sollte das wohl?« lachte sie. »Wenn ich einen so tapfern Ritter habe! Aber im Ernst: auch ich hab' mir manchmal gewünscht, Sie möchten wiederkommen. Denn wir verstanden uns so gut. Besonders was den Professor betrifft. Von dem kann ich mit niemandem reden. Auch mit Mama nicht. Die sagt immer gleich: ›Geh, das ist nichts für dich.‹«

»So soll ich also gewissermaßen Mutterstelle an Ihnen vertreten?« ulkte er.

Da wurde sie aber böse.

»Pfui«, sagte sie. »Wenn Sie so sind, hätte ich die Schlittschuhe lieber nicht abschnallen sollen.«

Dabei gewahrte sie, daß sie in eine ganz wüste Gegend geraten waren.

Sie schritt neben ihm an der Festungsmauer entlang, in deren Nähe nicht ein einziges Haus stand, und durch die Gucklöcher – oder waren es Schießscharten? – der finsteren Ziegelwand blies der Winterwind seinen eisigen Nebel.

Jedesmal, wenn der sie traf, schauerte sie fröstelnd zusammen.

Fritz bemerkte es und sagte: »Es wäre besser, wir gingen woanders.«

Aber keines von ihnen wagte den Weg zu verlassen. Wie gebannt an die finstere Mauer schritten sie dahin.

»Wir wollen denken, es sei Frühling geworden«, sagte er, »und dahinter gäb' es nichts wie grüne Wiesen und blühende Sträucher. Wär' das nicht fein?«

»Und die Amseln müßten singen«, griff sie den Faden auf, »und das Abendrot käm' durch die Löcher herein. Ach ja, fein wär's.«

»Und dann würden wir eine große Landpartie machen«, fuhr er fort, »mitten ins Grüne hinein. Wären Sie dabei?«

»Ich möcht' schon«, erwiderte sie bedenklich, »aber ich weiß nicht, ob ich so lange von Hause fort kann. Mamas wegen, und auch – –«, sie stockte.

»Sie denken wohl an den Professor?« sagte er, ein wenig herabgestimmt.

»Sicherlich tu' ich das«, trotzte sie.

»Aber wenn er Sie niemals braucht?«

»Manchmal braucht er mich schon. Besonders, wenn Mama nicht zu Hause ist. Der Frühling ist außerdem seine fleißigste Arbeitszeit. ›Da mach' ich soviel, wie in den andern drei Quartalen zusammen‹, pflegt er zu sagen. Und da muß er stets jemand in der Nähe haben, der nach ihm sieht.«

»Was arbeitet er jetzt?« fragte Fritz.

»Das weiß man nie«, erwiderte sie. »Er spricht nicht darüber, und die beschriebenen Bogen verschließt er. Aber wenn er mal die Schranktüren offen gelassen hat, dann sieht man Stapel auf Stapel. Gedruckt müssen das dicke Bände sein.«

»Merkwürdig«, sagte Fritz, »herausgegeben hat er so gut wie nichts.«

»Ich weiß, ich weiß«, rief sie eifrig. »Und seine Mit-Professoren halten sich sehr darüber auf. Er hat das auch längst erfahren. Und einmal sagte er höhnisch: ›Wer nicht das zünftige Quantum Mist produziert, der ist allen Ochsen ein Greuel.‹«

Ein neuer Windstoß blies durch das Mauerloch, an dem sie gerade vorübergingen.

»Nun wollen wir aber wirklich von dieser abscheulichen Mauer fort«, sagte er, die flache Böschung hinabgleitend, und sie folgte ihm willig.

Ringsum zwischen finsterem Buschwerk gespensterten nebelverhangene Gaslaternen … Von fernher starrte der Schimmer viereckiger Fensterlöcher, und ihnen zu Füßen glitzerte der körnige Schnee.

»Wir wollen umkehren!« rief sie.

Er schaute prüfend in die Runde. »Wenn wir weiter gehen, kommen wir rascher in bewohnte Gegenden zurück«, sagte er. Und als sie zu zögern schien: »Oder fühlen Sie sich meiner jetzt doch nicht mehr sicher?«

Sie bejahte mit Eifer.

»Wenn dem so ist«, fuhr er fort, »dann werden Sie mir heute auch sagen, wozu Sie damals nicht Vertrauen genug zu mir hatten.«

Sie fragte nachsinnend, was das wohl gewesen sein könne.

»Nun – vom Professor – was Sie durch die Wand hindurch alles gehört haben.«

Sie schrak zusammen und antwortete nichts.

»Geht es noch immer nicht?« ermunterte er.

Sie schwieg auch ferner. Dann endlich, als er immer mehr in sie drang, entschloß sie sich, ihm einen Bescheid zu geben: »Ich kann es nicht. Ich kann es wirklich nicht … Nicht bloß seinetwegen … Auch weil – ich – – nein, es geht nicht. Fragen Sie nicht weiter … Es geht nicht.«

Nun war er es, der böse wurde – und ernsthafter als sie vorhin.

»Wenn Sie so sind«, sagte er, »dann weiß ich, wie wenig Sie von mir halten und daß es zwischen uns nie eine Freundschaft geben kann.«

»Und wenn Sie mich so weiter quälen«, sagte sie, »dann geh' ich auf die andere Seite der Straße.«

»Bitte sehr«, erwiderte er. »Hier wird es ja schon belebt, und brauchen tun Sie mich darum nicht mehr.«

Da schämte sie sich ein wenig und ging weiterhin neben ihm her. Schließlich war er es, der einlenkte.

»Na gut«, sagte er, »wenn Sie so geheimniskrämerisch sein wollen, kann ich dagegen nichts tun.«

»Werden Sie erst noch bekannter mit ihm«, bat sie, »so daß Sie ihn nie mehr verkennen können – so daß Sie wüßten, wie ernst er ist und wie groß, dann würd' ich mich vielleicht nicht mehr wehren … Wie wär's, wenn Sie jetzt gleich zu ihm gingen?« fuhr sie in plötzlichem Einfall fort. »Zu Hause ist er heute gewiß, und wenn er gerad' keine Zeit für Sie hat, so bleiben Sie noch ein bißchen bei uns.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden, und wenn ihm auch der Atem sehr eng wurde bei dem Gedanken, daß er in etlichen Minuten dem verehrten und gefürchteten Manne ins Auge sehen sollte, so folgte er ihr doch gehorsam die menschenwimmelnde Straße entlang und vor das schwach erleuchtete Haus, immer noch hoffend, die Fenster, hinter denen Er wohnte, dunkel zu finden.

Aber die gerade schimmerten in Lampenhelle.

Nun wäre ein jedes Sich-Wehren Feigheit gewesen. Drum ging er mit ihr die Treppe hinan und trat in das Wohnzimmer, wo ihn von der Maschine her die traurigen Augen der Mutter in starrem Erstaunen begrüßten.

»Ich habe Herrn Studiosus Kühne auf der Eisbahn getroffen, und da er sowieso zum Professor wollte, kam er gleich mit.« Sie sagte es mit so viel Selbstverständlichkeit, daß auch in seinen Augen die Lüge fast wieder zur Wahrheit wurde.

Und dann fragte sie:

»Willst du ihn anmelden, oder soll ich es tun?«

»Ich werd'«, sagte die Mutter und raffte das Weißzeug zusammen, das sich vor ihr blähte.

Nun waren sie noch einmal für einen Augenblick allein.

»Vielleicht kommen Sie hernach erzählen, wie's gewesen ist«, sagte Helene rasch.

»Wenn das geht«, meinte er bedenklich, denn vor der ernsten Mutter hatte er einen mächtigen Respekt.

Aber da fand er auch schon den helfenden Gedanken. »Ich werde meine Mütze vergessen«, sagte er.

Und über dem Lachen, das sie beide im Kragen versteckten, verflog ihm die jäh aufsteigende Angst vor dem drohenden Verhör. – –

Der Professor saß hinter der Lampe, an deren Glocke, ihm zugewandt, ein Zeitungsblatt herniederhing, offenbar um seine Augen zu schützen.

Er stand auf und reichte Fritz eine matt zugreifende Hand.

»Sie haben auf sich warten lassen, Herr – e – Herr – e, wie? –«

»Kühne ist mein Name, Herr Professor.«

»Danke.« Er beugte sich auf die Tischplatte nieder und machte eine Bleistiftnotiz.

In Fritzens Gemüt war jetzt keine Spur von Not und Befangenheit mehr – nur ein fröhlicher Mut, weil er ja noch so grün und so ohne Verantwortung war.

»Erstens, Herr Professor«, sagte er frischweg, »wußte ich ja nicht, wann Ihnen mein nächster Besuch angenehm sein würde – und zweitens habe ich einen so furchtbaren Bammel vor Ihnen gehabt, daß ich mich von alleine überhaupt nicht mehr hergetraut hätte.«

»Wer hat Sie denn heute dazu bewogen?« fragte er lächelnd. Es war ein gutes, nachsichtiges – ein beinahe zärtliches Lächeln. Einem wurde ganz weich, wenn man es sah.

»Ich habe Ihr Wirtsfräulein getroffen, Herr Professor, und die sagte mir, daß Sie von mir gesprochen haben.«

»Woher kennen Sie mein Wirtsfräulein?«

»Ich habe das vorige Mal lange drüben gewartet.«

»Und daraus haben sich dann Beziehungen entwickelt?«

»Jawohl, Herr Professor.«

Dessen Stirn verfinsterte sich.

»Ich bin niemals Corpsstudent gewesen«, sagte er, Platz anbietend. »Dazu langte mir Zeit und Geld nicht. Aber ich kenne einigermaßen eure Stellung zum weiblichen Geschlecht … Ihr teilt, was euch begegnet, in zwei Klassen: die erste, die ihr als gesellschaftlich ebenbürtig betrachtet – Corpsschwestern und Professorentöchter und Damen überhaupt – die ist euch sakrosankt … Und die zweite: Mädchen aus dem Volke und Bürgerstöchter und dergleichen – die ist euch vogelfrei … Ich bitte mir aus, daß dieses Kind zu der ersten Klasse gehört.«

Fritz fühlte eine Blutwelle emporsteigen – der Scham darüber, daß man diesen Zweifel überhaupt aussprechen konnte. Er stand auf und sagte mit der dem Augenblick gebührenden Strenge: »Darauf gebe ich hiermit mein Ehrenwort.«

»Es ist gut«, sagte der Professor. »Reden wir nicht mehr davon. Daß Sie fleißig in meinen beiden Kollegs gesessen haben, hat mich gefreut … Ich dachte, Sie würden einmal ans Katheder kommen, um antestieren zu lassen.«

»Das An- und Abtestieren besorgt doch bei uns immer der Pedell«, erwiderte Fritz und machte ein geringschätziges Gesicht dazu, wie es einer so beiläufigen Sache gebührte.

»Jawohl, ihr seid große Herren, ihr Herren Corpsiers«, sagte der Professor, »und es ist eine Schmach, daß wir Dozenten uns dieser Wertschätzung beugen. Wenn ihr dann später in Reih und Glied rückt, wird das Leben euch leider schon kleinkriegen.«

»Das glaube ich nicht, Herr Professor«, erwiderte Fritz, der seine Kühnheit wachsen fühlte. »Wir lernen unseren Mann stehen, und darum schlagen wir uns auch späterhin durch, mag's kommen, wie's will.«

»Ich sehe, Ihr Kraftbewußtsein hat Fortschritte gemacht«, sagte jener mit seinem gewohnten Lächeln. »Mein Rat, im Corps zu bleiben, war also nicht übel angebracht … Warum aber, das möcht' ich Sie fragen, gehen gerade von euch so viele rettungslos vor die Hunde?«

Fritz fühlte einen Stich in der Brust. Was der Professor sagte, war unbestreitbar. Ganze Hekatomben von vielverheißenden jungen Burschen verfielen dem Untergang. Aus welchen Gründen? Wie hieß der böse Geist, der das Halbgottum der kecken Lebensgenießer zerstörerisch umstrich?

Er stammelte etwas von Leichtsinn und Überkraft und Mangel an Selbstbeherrschung – und was man so sagt.

»Lassen Sie nur«, fiel der Professor ihm ins Wort, »die Zeit hat euch geschaffen, weil sie euren Überfluß brauchte. Sie wird euch auch wieder hinwegfegen. Ihr spielt mit der bestia trionfante dreister, als andere es tun, und wen sie im Genick hat, der ist geliefert.«

Fritz horchte auf.

Das leicht übersetzbare Wort war ihm fremd. Aus wertvoller Quelle mußte es stammen, sonst hätte der Professor es nicht in den Mund genommen.

Der las ihm die Wißbegier von den Augen ab.

»Sie besinnen sich, daß ich unlängst Giordano Bruno erwähnte?«

Natürlich besann er sich. Bei der bloßen Nennung des Namens hatte das Herz ihm höher geschlagen, denn der Held der Geistesfreiheit, der für seine Überzeugung den Flammentod nicht gescheut hatte, war schon auf der Prima durch seine Träume gegangen.

»Dieser selbe Mann«, fuhr der Professor fort, »der eine problematische Natur war wie irgendein Landstreicher – der er im übrigen auch war – hat ein Buch geschrieben von der Austreibung der triumphierenden Bestie … Was drin steht, wird Ihnen ziemlich ungenießbar erscheinen – sonst würde ich sagen: Holen Sie sich's aus der Bibliothek … Aber das ist auch egal. Auf die Fragestellung, die in dem Worte liegt, kommt's im Augenblick an. Und die gilt für jeden … Mit der triumphierenden Bestie schlägt ein jeder sich 'rum – ob Sie – ob ich – ob der heilige Augustin oder der heilige Antonius … Dem einen heißt sie Schwelgerei, dem andern heißt sie Entbehren, dem einen heißt sie Gewalttat, dem andern heißt sie Feigheit. Und noch tausend Namen hat sie … Diese triumphierende Bestie an die Kette zu legen und als Haustier zu benutzen, das ist die Aufgabe, lieber Freund, der wir uns nicht entziehen dürfen … Glauben Sie dem Viech zu entgehen, indem Sie sich hinter den entsprechenden Tugenden verkriechen, dann hat es Sie eines Tages ganz sicher beim Wickel … Drum immer drauf los! Nur spielen läßt es nicht mit sich, und das tun wir alle nur zu gern.«

Der Professor hielt inne. Er hatte sich auf seinem Drehstuhl halb zum Tische zurückgewandt und beschäftigte sich mit irgendwas, das vor ihm lag und das Fritz nicht erkennen konnte. Der Schein der Lampe, deren dämpfenden Schirm er weggerissen hatte, lag hart auf seinen hageren Zügen, und die Augen flammten bezwingend aus der Schattenmasse, die sie umrandeten.

Eine dumpfe Verzagtheit hielt Fritzens Seele gefangen. Nicht der Lehrer, dessen Geist den seinen himmelhoch überragte, war's, der sie ihm aufzwang. Ihm war zumute, als ob aus finsterer Höhle heraus ein Schicksal seine Drachenzähne zeigte. Ein Schicksal, dem jener genauso unterworfen war wie er selber. Ja, mehr vielleicht, denn er selbst war noch nicht reif für eines Schicksals Klaue.

Er raffte sich zu einer Frage auf: »Und was hat Giordano Bruno mit seinem Buche gewollt?«

Der Professor lachte leise und schneidend in sich hinein.

»Ja, was hat er gewollt? … Wissen wir denn immer, was wir mit unseren künftigen Büchern wollen? Um sich 'rumphantasiert hat er. Der ehemalige Mönch hat sich den Haß gegen das Christentum von der Seele schreiben wollen … Was schließlich draus wurde, ist Halbheit – genau dieselbe Halbheit, an der wir kranken, wenn wir glauben, wunder wie klug zu sein und das Gestein, das irgendein dummer Vulkan um sich herumspeit, mit der Waage abschätzen zu können. Drum haben auch nur die Dummen die Welt vorwärts gebracht, falls es ein Vorwärts überhaupt gibt … Ein armer Gedankenprolet sein wie Luther – dann schafft man's. Oder ein engstirniger Junker wie Bismarck – dann schafft man's erst recht … Von dem Größten, dem Weitestwirkenden, gar nicht zu reden.«

Fritz war zumute, als wäre er wieder ein kleiner Junge, und der Klassenlehrer schlüge ihm das Aufsatzheft um die Ohren. Wer jener »Größte«, »Weitestwirkende« war, das wagte er sich gar nicht zu fragen. Aber die beiden Heroen seiner Jugend, denen unbedingte Gefolgschaft zu leisten man ihn gelehrt hatte, in einem Atem abgetan – wie war das auszudenken, wie gutzuheißen gar?

Der Professor sah seine Bestürzung und beruhigte ihn.

»Ich will Ihr preußisch-protestantisches Gewissen nicht in die Irre führen«, sagte er. »Vielleicht wird Ihnen das alles einmal aus eigenem Erkennen herauswachsen. Für heute ignorieren Sie es … Und auch meinen Vorwurf gegen den Italiener muß ich zurücknehmen … Denn mehr als für seine Gedanken in den Tod zu gehen, kann man schließlich von keinem Denkenden verlangen … Was ihn recht eigentlich auf den Scheiterhaufen trieb, ist übrigens immer unklar geblieben … Er hätte es so leicht gehabt … Ein kleiner Widerruf wie Galilei und die andern – und er wäre befreit gewesen. Aber – er wollte nicht mehr … Nein, nein – er – wollte – nicht – mehr.«

Der Professor hatte sich halb von ihm weg gegen die Wand gedreht. Seine Backen wurden noch schmäler, noch hohler. Seine Stirnfalten knoteten sich, und mit seinen brennenden Augen – wie einer, der Gesichte sieht – starrte er ins Leere hinein.

›So kann Giordano Bruno ausgesehen haben‹, dachte Fritz.

Und der Professor fuhr fort:

»So was ist wohl zu verstehen. Seit Jahren – sein halbes Leben lang schon – hatte er verwirrt und betrogen. Denn was er recht eigentlich dachte, weiß keiner … Hatte immer wieder paktiert und sich durchgeschwindelt, so daß selbst die Bluthunde der Inquisition nicht wagten, sich an ihm zu vergreifen … Bis ihn endlich der Ekel erfaßte vor dieser gedanklichen Schmutzerei und er zu dem Glauben kam, nur die Flamme könnte ihn reinwaschen … Das kann man wohl verstehen. O ja – das – kann man – wohl verstehen.«

Er war auf dem Sitze zusammengesunken. Sein halb geöffneter Mund legte die Zähne bloß, die sich voll Ingrimm ineinander verbissen, und mit so wilder Gier stierte er in die Weite, als ersehne er für sich selber nichts Höheres, nichts Herrlicheres als den Tod in den Flammen.

Fritz war zumute, als habe er ihn ganz vergessen.

Zögernd stand er auf. Der Professor rührte sich nicht.

Einen Augenblick war er ungewiß, ob er Abschied nehmen oder sich zur Tür hinausschleichen solle. Aber das letztere erschien ihm zu formlos und zu aufgebauscht.

Noch suchte er nach einem passenden Wort, da streckte der Professor ihm eine schlaffe, eiskalte Hand entgegen.

Damit war er entlassen.

Und so benommen fühlte er sich, daß er, als er das Wohnzimmer betrat, wo Mutter und Tochter ihn voll Neugier erwarteten, keinen Versuch unternahm, sich niederzulassen und zu verweilen.

Schweigend griff er nach seiner Mütze, machte der Mutter seinen Bückling, warf Helene einen Verzeihung erbittenden Blick zu und eilte, hinunterzukommen.

Als er die Straße entlang lief, fragte er sich immer: ›Was ist mit mir geschehen? Was ist mit mir geschehen?‹

Er hatte ein dumpfes Gefühl, als sei er Zeuge einer Tragödie geworden, die den Blicken der Menschen entzogen – ja selbst dem vielleicht, der sie erlebte, kaum bewußt – trotzig und quälerisch ihr zerstörendes Spiel trieb.

Und war doch sonst alles Gleichmut, Lächeln, Kühle.


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