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Zweiunddreißigstes Kapitel

An einem sonnigen Spätmärztage, an dem aus schmutzigem Schneeschlamm eine leuchtende Frühlingsbotschaft wurde, schritt Sieburth, frisch nach Berlin gekommen, die Linden entlang.

Er hatte kein besseres Mittel gewußt, den quälenden Wirrnissen seines Haushalts auszuweichen, als schleunigst seinen Koffer zu packen und entsprechend der Mahnung Pfeifferlings zu untersuchen, wie weit der Rat jenes Mannes vom Oberpräsidium das Richtige getroffen hatte.

Da stand der Palast, in dem der Wissenschaft des Landes Preußen ihr Schicksal bereitet wurde.

Ein hochgewölbter Vorraum. Bronzierte Treppengeländer. Eine Marmorgruppe aus frommer Schinkelzeit.

»Ist Herr Ministerialdirektor Kürschner zu sprechen?«

»Sind Sie herbestellt oder angemeldet?«

»Leider nicht.«

»Dann geben Sie mal Ihre Karte. Wollen sehen.«

Herrscherhaft und trinkgeldgierig prüfte der Korridordiener Namen und Titel, dann verschwand er hinter einer rasch geschlossenen Doppeltür. Und als er zurückkehrte, lag ein begönnerndes Lächeln auf seinem Feldwebelgesicht.

Das war kein übles Anzeichen.

»Der Herr Ministerialdirektor lassen bitten.«

Sieburth trat ein.

Ein weites Gemach. Gipsbüsten. Blumige Sessel. Ein abgetretener Teppich. Und hinter dem geräumigen Schreibtisch ein dünnmähniger Kopf voll heiterer, breitausladender Würde.

So sehen im spanischen Lustspiel die Alkalden aus.

Langsam entwickelte sich beim Aufstehen ein Ränzlein, wie sich's der Doktor Luther angemästet hatte. Darüber standen verfleckte Rockklappen, hierüber ein mehrfach gewickeltes schwarzseidenes Halstuch, aus dem, von weißem Kragenrand umgeben, ein glattrasiertes Doppelkinn sich herausgrub, und immer weiter nach oben in dem fleischigen Feinschmeckergesicht ein Augenpaar, aus dessen geröteten Spalten soviel lachende Verschmitztheit hervorschoß, daß Sieburth ganz wohl und wehe zumute ward.

›Vor dem besteht so leicht keiner‹, dachte er. Und gleichzeitig dachte er: ›Bei dem ist gut sein.‹

»Aha«, sprach eine gurgelnd fette Stimme. »Lassen wir uns auch mal hier sehen?«

»Ich wußte nicht, Herr Ministerialdirektor«, erwiderte er, »daß man in diesen heiligen Hallen von mir Notiz genommen hat. Sonst würde ich mich Ihnen längst vorgestellt haben.«

Der Hochmögende schmunzelte.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er, sich gleichfalls setzend. »Es gibt Männer der Wissenschaft, und zwar von unbestrittenen Verdiensten, die in meinem Vorzimmer ihren Stammplatz haben. Wenn die Schwalben heimwärts ziehen, sind sie da, und wenn sie wiederkehren, sind sie auch da. Sie hätten es gar nicht nötig, denn wer arriviert ist, dem hat auch meine sogenannte Allmacht nichts mehr zu bieten – selbst für das Knopfloch gibt es ja feste Wetterperioden –, aber sie sind eben da.«

»Ich will mich nicht rühmen«, erwiderte Sieburth, unwillkürlich den gleichen Ton anschlagend, »aber über die Schwellen hoher Gönner hat mich die schweißige Toga noch nie gehetzt.«

»Ei, der Teufel!« sagte jener mit weit werdenden Augen. »Wie heißt das doch gleich im Urtext?«

Er sann ein wenig nach und zitierte: »› Dum per limina te potentiorum sudatrix toga ventilat …‹ Ja, ja, ein Luder war dieser Martial! Selbst seinen Freund Juvenal schonte er nicht, und sie waren doch aus der gleichen Giftgrube gekrochen. Also so sind Sie, Verehrtester! Ich will dem Schicksal nicht vorgreifen, aber mir scheint, unter diesem Zeichen werden wir uns schon verständigen.«

Sieburth verneigte sich.

»Und – e – haben Sie – Wünsche mitgebracht?«

»Keine anderen«, erwiderte er, »als die sich aus meiner Lage von selber ergeben.«

»Lage – Lage!« spottete jener. »Sagen Sie doch lieber ›Stellung‹ statt ›Lage‹. Ihre Stellung ist klar; von Ihrer Lage will ich nichts wissen. Das Sprichwort sagt: Wie man sich bettet, so liegt man. Und Ihr Bettzeug ist Ihre Sache.«

›Aha! Conduite!‹ dachte Sieburth.

Aber das Lachen des Mannes war so breit und behaglich, daß eine Anspielung kaum geargwöhnt zu werden brauchte. Und Sieburths Sorge wich, wie sie gekommen war.

»Ich habe Ihretwegen vor Jahren schon einmal mit Ihrer Fakultät einen Tanz gehabt … Als ich Sie nach Königsberg brachte. Ich nehme an, Sie haben diese Widerstände durch Ihre Tätigkeit inzwischen beseitigt.«

Sein Blick lauerte. Tausend gegen eins: Diese Frage wollte prüfen, wie er seinen Konflikt darstellen würde.

Vorsichtig erwiderte er: »Hierüber wird man hier besser Bescheid wissen als ich. Wenn es so wäre, wie Sie, Herr Ministerialdirektor, meinen, dann hätte man mich für den erledigten Lehrstuhl sicherlich längst in Vorschlag gebracht.«

Der Ministerialdirektor machte überlegend ein Flunschmaul.

»Ich habe ja sonst ein ganz gutes Gedächtnis«, sagte er dann, »und besonders, wo ich Kabalen wittere. Aber ganz genau weiß ich im Augenblick doch nicht Bescheid. Lassen Sie mir Zeit bis zum heutigen Abend, und wenn Sie nichts Besseres zu tun haben – Damen zum Beispiel gehen immer vor –, dann will ich hoffen, Sie schenken ihn mir.«

Sieburth bedankte sich stumm.

»Sie haben vorhin meine Schwäche getroffen. Von den beiden Stänkern Martial und Juvenal, die über die Nachwelt den goldenen Nachttopf ausgegossen haben, hätte ich gern noch etwas mehr mit Ihnen geschwatzt. Denn die Herren Alt-Philologen, wissen Sie – au!«

Er schrieb mit dem Bleistift eine Adresse und reichte den Zettel Sieburth hinüber.

»Um acht Uhr also.«

Und er öffnete selber die Tür, hinter der jener rotkragige Diener mit der Karte des nächsten Bittstellers schon dastand.

Sieburth war weit entfernt, sich durch die biderbe Gutgelauntheit des Mannes täuschen zu lassen. Er wußte genau, was eine solche Einladung bedeutete.

Am Kneiptische zwischen Abend und Morgen wurden die Bewerber auf ihr geistiges Stammkapital und dessen Nutzbarmachung hin geprüft, wurden ausgeholt, ausgebeutelt, ausgelaugt und kurz und klein geschnitten, bis sie als Opfer seiner Zergliederungskünste mit aufgeschlitzter Seele vor ihn lagen, worauf er dann mit kühlem Abwägen seine Entscheidungen traf.

Schon mancher, der ein großes Auserwähltsein mit sich zu tragen glaubte, fand sich nach solch einer Kneipnacht für immer kaltgestellt; schon mancher, der nichts als einen bescheidenen Unterschlupf begehrte, sah sich mit freudigem Staunen plötzlich an eine erste Stelle gerückt.

Wie weit Erudition und Charakter mitspielten, blieb dem Einzelfall überlassen. Das Verhältnis zum Staat gab den Ausschlag. Vorsichtige Bejaher wurden ins vorderste Treffen gestellt, plumpe Radikalinskis flogen in die Rumpelkammer.

Ein Katz- und Mausspiel wartete Sieburths, von dessen Ausgang seine Zukunft abhängen mußte. Mit erbittertem Vergnügen sah er ihm entgegen.

›Du wirst mich nicht fangen‹, dachte er. ›Eher fang' ich dich.‹

Den Nachmittag über blieb er in seinem Hotelzimmer, denn er wollte sich nicht müde machen.

Aber das Stillsitzen und Grübeln bekam ihm schlecht. Helenens Schicksal lag ihm in den Gliedern. Und mit ihm auch das eigene. Denn er fühlte, daß er mit allen Fasern seines Wesens an ihr hing. Was Herma ihm gewesen war, was Cilly ihm hätte werden können, was die endlose Schar der Zufallsweiber gewährte und versprach, das alles hatte sich in diesem Kinde zusammengeballt, das, kaum gewonnen, für immer verloren schien.

Die rabiat gewordene Mutter hielt ihn als Gefangenen. Ihre Drohung lähmte jede Entschlußkraft. Denn daß sie Ernst machen würde, daran war kein Zweifel.

Jede Annäherung, jedes Unternehmen selbst, die Verschwundene ausfindig zu machen, mußte zum Verderben führen.

Ohne ihm ein Lebenszeichen gegeben zu haben, war sie von dannen gefahren. Wohin, dafür bot sich nicht der mindeste Anhalt. Verwandte lebten verstreut in der Provinz. Da jene Drohung auch sie zum Schweigen zwang, so war wenig Hoffnung gegeben, daß er in absehbarer Zeit von ihr erfahren würde.

Je länger er die Sachlage überdachte, desto aussichtsloser wurde sie. Aber gleichviel! Für heute galt es, Beruf und Aufstieg sicher zu stellen. Was später kam, mußte dem Spiel der Möglichkeiten anheimgestellt werden. – – –

Am Eingang der Potsdamer Straße gab es ein bürgerliches Weinhaus, das von Gelehrten und höheren Beamten gerne besucht wurde.

Um weißgescheuerte Tische herum hatten sich Stammgäste angesiedelt, die seit Jahren dort – und nur dort – verkehrten, wenn der sanfte Zwang häuslicher Liebe sie freigab.

Fünf Minuten vor der festgesetzten Zeit fand Sieburth sich ein, denn Wartenlassen wäre gefährlich gewesen.

Pünktlich erschien er. Grüßte hierhin, grüßte dorthin, und als er sich zu dem fremden, noch jungen Manne gesellte, erhob sich im Umkreis ein lächelndes Raunen, das unschwer zu deuten war: »Welches Unglückswurm hat er heute am Wickel?«

»An diesem geruhsamen Platze wollen wir anfangen«, sagte der Ministerialdirektor sich setzend. »Später können wir ja sehen, wohin unsere Beschwingtheit uns tragen wird.«

Und dann, als ihm Wein- und Speisekarte vorgelegt wurden: »Sie sind natürlich mein Gast. Und ich stelle Sie dem preußischen Staate in Rechnung. Der läßt sich die Wissenschaften was kosten. Das ist Tradition schon von den Zeiten der Humboldts her.«

Ein Bocksbeutel kam in liegender Flasche, der hitzig ins Blut zu gehen drohte.

›Vorsicht!‹ ermahnte sich Sieburth, obwohl er am Kneiptische sonst seinen Mann stand.

»Okuli – da kommen sie!« sagte sein Gönner, Schnepfen bestellend und vorher Forellen, die, um das Warten zu kürzen, einem andern Gästepaar weggefischt wurden.

»Ohne Raub kommt man anständig nicht durch die Welt«, rechtfertigte er sich. »Das haben wir von Bismarck gelernt. Erst mit dem Frevel beginnt das Vergnügen. Meinen Sie nicht auch?«

Agent provocateur!‹ dachte Sieburth und lächelte höflich.

»Also ich hab' mich inzwischen ein Weniges über Sie informiert. Man kann eure berühmten Lebensläufe nicht alle im Kopf haben. Das müssen fünfzig Jahre später die Herren Studiosen besorgen. Was Ihre Fakultät anbelangt, so werd' ich mich hüten, Ihnen den Appetit zu verderben. Sie ist von altersher etwas schwierig – diese Fakultät. Es gibt da einige Herren, die glauben, ihren Beruf verfehlt zu haben, weil die Barrikaden und die Schafotte nicht mehr in Mode sind. Hat man sich auf die Forderung hin frisiert: ›Sire, geben Sie Gedankenfreiheit‹, dann ist es ein großes Malheur, wenn diese Gedankenfreiheit schon da ist. Denn schließlich haben wir sie im Bismarckschen Staate, wenigstens so wohl temperiert, daß als Lohn für staatserhaltende Gutgesinntheit ein Platz an der Sonne immer noch Wert hat. So haben auch Sie gemeint, Herr Professor, was?«

Sieburth spürte, wie die Glut der Scham ihm heiß ins Gesicht stieg.

Zweifellos spielte der Schlußsatz auf die Tätigkeit an, die er bei den jüngsten Wahlen entwickelt hatte und die an höherer Stelle bemerkt worden war.

›Wenn ich jetzt nicht den richtigen Weg finde‹, dachte er, ›dann bin ich verloren vor ihm und auch vor mir selber.‹

Und er erwiderte: »Staatserhaltung und Gutgesinntheit sind gewiß sehr wichtige Dinge, besonders, wenn man dem Gestalter seines Schicksals gegenübersitzt, aber ich muß leider verzichten, sie als Motive für mich in Anspruch zu nehmen, auch da, wo ich mich bei den jüngsten Wahlen nützlich zu machen versuchte.«

Der hohe Beamte öffnete die listigen Spalten seiner Lider ebenso weit, wie er heute vormittag getan hatte, als ihm unversehens das Wort Martials an den Kopf geflogen war.

»Nun, nun, nun!« sagte er, indem er mit warnendem Schmunzeln auf die Flasche hinwies. »Wir haben ja kaum erst begonnen.«

»Zu Konfessionen wird auch dieser Wein mich nicht beflügeln«, erwiderte Sieburth, glücklich, sein Hohnlächeln wieder zu fühlen, »ich wollte mich nur vor der Mißachtung schützen, die ich sehr scharf auf mich zukommen sah.«

Der Ministerialdirektor zog nachdenkend die Stirnfalten herunter. »Sie sind nicht ganz im Bilde, Verehrtester«, sagte er. »Wer sich der Staatsidee, wie wir sie jeweilig verkörpern, dienstbar erweist, der hat allen Grund, auf unsere Dankbarkeit zu zählen. Mißachtung mag mitspielen, wenn man die sogenannten Nicht-Gentlemen ablohnt, die wir ja leider auch nicht entbehren können. Aber was hat das mit unserem Falle zu tun? … Sie haben sich bei den Reichstagswahlen auf die Regierungsseite geschlagen, wie ich höre. Ihre Motive gehen uns nichts an. Aber wollen Sie sie mir privatim zum Besten geben – bloß um meiner Menschenkenntnis ein wenig auf die Beine zu helfen –, so würde ich mich Ihnen verpflichtet fühlen.«

›Sag' ich ihm die Wahrheit‹, dachte Sieburth, ›dann geb' ich mich wehrlos in seine Hand.‹

Aber die herrscherhafte Überlegenheit des Mannes wirkte als Herausforderung auf ihn.

Und er erwiderte: »Auf die Gefahr hin, als überheblich zu gelten, will ich bekennen, daß ich das, was Sie die jeweilige Verkörperung der Staatsidee nennen, als etwas sehr Nebensächliches betrachte.«

»Uii«, kam pfeifend von drüben ein Zwischenruf.

»Man kann ihr anhangen aus allen möglichen Gründen: aus Furcht, aus Ordnungsliebe, aus Grauen vor dem Stumpfsinn der Gegner, aus Gier nach persönlichem Vorteil – und letzten Endes auch aus Bequemlichkeit … Ich glaube sogar, daß wir diese als staatserhaltenden Faktor nicht hoch genug in Anrechnung bringen können.«

Über das Gesicht des Mannes drüben kam eine Art von pfiffiger Verklärung.

»Sieh mal an!« sagte er. »Und da wollen Sie Staatsphilosophie lehren?«

»Dies Geschäft besorgten bisher noch meistens die Hegelianer«, erwiderte Sieburth, »und wenn ich so weit sein werde, dann wird der Handwerksjargon meine Ansicht so gut in Watte packen, daß jeder darunter vermuten kann, was ihm als angehendem Staatsbürger geziemend und nützlich erscheint!«

»Und Sie glauben, daß Sie damit die begeisterte Übereinstimmung erreichen werden, die wir bei den Gebildeten der Nation gerne vorfinden möchten?«

Das hieß die Pistole auf die Brust gesetzt. Zeit gewinnen war jetzt das Gebotene.

»Darf ich vorerst fragen, Herr Ministerialdirektor: Übereinstimmung womit?«

Zum ersten Male schien es, als ob ein Schatten von Verlegenheit über die falstaffischen Züge glitt.

»Nun – nun – mit den Zielen, – die – die – – Regierung eben verfolgt.«

»Die Ziele des gestrigen Tages kennen wir allenfalls, die ›Norddeutsche Allgemeine‹ meldet sie ja. Aber was die nächste schlaflose Nacht dem Gewaltigen an Zielen bescheren wird, das weiß er heute selber noch nicht. Und darauf kann ein Lehrender weder sich noch seine Schüler im voraus verpflichten.«

Während er diese Sätze aussprach, fühlte er, wie sehr sie ihm schaden mußten. Aber der Weg war nun einmal beschritten. Ein Zurück gab es nicht mehr.

Aus dem Gesicht des Mannes drüben war die launige Besonntheit verschwunden. Mit jenem prüfenden Lauern, das Sieburth schon früher an ihm bemerkt hatte, schielte er haarscharf an seinen Augen vorüber.

»Noch immer aber haben Sie mir nicht verraten, Verehrtester, warum Sie die Basis unserer gesellschaftlichen Existenz – denn das ist die Staatsidee nun einmal – als nebensächlich betrachten.«

Dies war kein Fragespiel mehr. Dies war Inquisition auf Leben und Tod.

In Sieburth wuchs der Trotz zum selbstzerstörenden Rausche. Zukunft, Beförderung und sämtliche Ordentlichen Lehrstühle der Welt waren ihm in diesem Augenblick nicht einen Heller mehr wert.

Und er erwiderte: »Der erstbeste Zufall liegt sich mit dem zweitbesten Zufall irgendwie in den Haaren. Und daraus entsteht als drittbester Zufall die jeweilige Verkörperung der Staatsidee … Wir dienen ihr, wir müssen ihr selbst als Gegner dienen, weil sie, wie Herr Ministerialdirektor eben bemerkten, die Basis unserer gesellschaftlichen – und nicht bloß gesellschaftlichen – Existenz ist. Sie aber darum wichtig nehmen hieße dem Zufall zu viel Ehre erweisen.«

»So, so«, sagte der drüben, zusammengeduckt wie ein sprungbereites Raubtier. »Ich denke, Ihr Herren Philosophen leugnet den Zufall?«

»Selbstverständlich tun wir das. Alles leugnen wir, was die schlichten Männer des gesunden Menschenverstandes – › Idiotai‹ hießen sie darum schon bei den Griechen – begrifflich für nötig erachten. Außerdem sind wir dazu da, allem Geschehen, selbst dem blödesten, das Mäntelchen ewiger Sinnmäßigkeit umzuhängen. Auch mir ist der Zufall natürlich › asylum ignorantiae‹ – oder was man sonst will … Ich hab' mir übrigens auch noch einen andern schönen Namen dafür ausgesucht. Ich nenne ihn: den Witz der Zusammenhänge. Und in dieser Form ist er mir identisch mit dem Weltgesetz und der Gottheit … Halten Sie das für Blasphemie, Herr Ministerialdirektor?«

›So, nun bin ich erledigt‹ dachte er und tat einen tiefen Atemzug.

Das Gesicht des Ministerialdirektors zog sich vor lauter Verkniffenheit zusammen wie ein schrumpliger Apfel.

»Ich möchte mich gerne in Ihnen zurechtfinden«, sagte er. »Ich bitte: helfen Sie mir dabei … Spielen Sie bloß den Unklugen oder sind Sie es wirklich?«

»Weder eins noch das andere«, erwiderte Sieburth. »Nur Ihre Mißachtung ertrüge ich nicht.«

»Ich habe mich doch schon einmal gerechtfertigt«, entgegnete jener. »So empfindlich sind Sie?«

»Ja, das bin ich«, entgegnete er, »und zwar, weil ich fühle, daß Sie, Herr Ministerialdirektor, und ich aus demselben Holze geschnitzt sind.«

Und nun geschah das Wunderbare: Während das verschrumpelte Gesicht sich weitete, klärte und in den geröteten Lidspalten zwei Lichter auffunkelten, streckte sich eine zugreifende Hand nach Sieburths Händen hinüber, und die gurgelnde Stimme sprach: »Ich glaube, Sie haben nicht ganz unrecht. Etwas Ähnliches fühle ich auch.«

Und da in diesem Augenblick die Schnepfen kamen, fuhr er in dem gleichen Ton fort: »Ich lasse höchst barbarischer Weise die Kroutons liegen. Tun Sie es auch?«

Sieburth erwiderte lachend: »In meinem Leben spielt dies Frühlingswild keine Rolle. Ich muß von Ihnen lernen, es zu essen. Und ich hoffe, ich werde heute vieles von Ihnen lernen.«

»Ich habe schon was von Ihnen gelernt«, sagte jener, den Zeigefinger nach Sieburth hin in die Luft bohrend. »Und ich schäme mich nicht, es einzugestehen.«

»Was könnte das wohl sein?«

»Daß man auch ohne Reserven Schlachten gewinnen kann.«

»Wenn Sie, der Schlachtenlenker, es sagen«, lachte Sieburth, »dann wird's wohl so sein. Und ich bedanke mich schönstens. Aber Reserven hatte ich trotzdem und hab' ich noch immer – gut versteckte sogar.«

»Tun Sie sie weg, Freundchen!« rief jener, das Glas zum Anstoßen schwingend. »Heute abend wollen wir Menschen sein. Ach was, Menschen! Götter wollen wir sein! Damit Sie morgen früh wissen, daß es dergleichen noch gibt! Das wird Ihrem Unglauben sehr gesund sein!«

Und nun ging's mit geschwellten Segeln auf das Meer der Skepsis hinaus, dem Gestade des »Nichts« entgegen, das als ein nie erreichbarer Ankergrund vor dem spähenden Schiffer dahinflieht!

Die großen Verhöhner aus der römischen Untergangszeit fuhren lachend mit ihnen. Bald hatte Martial eine brennende Fackel dazwischen zu werfen und bald Juvenal. Und das Flugfeuer des Persius zündete manchmal am grellsten.

Auch der Geist Montaignes wurde beschworen. Und Humes Schattengestalt schritt unangegriffen vorbei. Auch der schlimmheilige Prediger Salomonis stieg lächelnd aus den Tiefen, und selbst der Romanheld Pelham war da und gab seinen Senf.

An Schopenhauer wollte man gerne vorbei, weil er ja letzten Endes ein Dogmatiker war, aber das ging nicht an. Zu tief hatte sein galliger Spürsinn in die faulen Untergründe prunkvoller Kompromisse hineingegriffen. Umso sicherer thronte Hobbes auf seinem weitschauenden Wolkensitz. Und schließlich lenkten die alten Sophisten triumphierend die Wettfahrt.

Ein herrisches Schweifen war's durch die sonnigen Welten des großen Verneinens, wo Zweifeln Moral war und die Spielhölle des Lebens ihre Marken hergeben mußte, hinter denen kein Goldwert steht und die nichts sind wie armselige Splitter, aus Totenknochen geschliffen.

Die Geheimlehre der Gewalt, die nur für die Auserwählten da ist, wurde blinzelnd gestreift – » might is right«, zweifelsohne, aber nur, wenn » right« in drohender Faust blutig-göttlich zu » might« wird – und Aristokratien und Demokratien fanden sich einträchtig auf dem gleichen Schutthaufen wieder.

Die Freiheit wurde zum Metier fortschrittstrunkener Gewürzkrämer, die Sitte zum Petrefakt heuchelnder Egoismen, und die Schönheit gar! Wozu hatte Voltaire gesagt: » Le beau pour le crapaud c'est sa crapaude«, um sich lange damit zu beschäftigen?

Das war ein anderes Streiten als mit den verbummelten Dreien am Stammtisch!

Blitz schoß gegen Blitz, und beide vereint schlugen verheerend in die papierene Weisheit der zünftigen Menschheitsbeglücker.

»Nun wollen wir aber mal für einen Augenblick die Puste anhalten«, sagte der Ministerialdirektor. »Das Juvenalsche Wort › vitam impendere vero‹, das Schopenhauer sogar als Motto verwendet, mag uns noch so sehr die Köpfe heiß machen, aber ich möchte fast glauben, daß die Wahrheit, vorausgesetzt, daß wir sie wirklich besäßen, nichts ist wie ein Luxusgut, das sich auf keine Weise bewirtschaften läßt … Was wahrhaft ist, ist nicht nahrhaft. Für den einzelnen ebensowenig wie für die Gesamtheit. Uns bleibt schließlich nichts wie das Wort des Persius – Sie kennen's natürlich –: ›Dies stille Vergnügen, mein Lachen, das gar nichts wert ist, verkauf ich um keine Ilias!‹ Aber reicht so ein Lachen aus als Lebensertrag? … Die jeweilige Verkörperung der Staatsidee, von der wir ausgingen, die gebe ich Ihnen gerne preis. Und die Menschheit ist eine fiktive Größe. Wenn Sie sagen: ›Es lohnt sich nicht, um ihretwillen den kleinen Finger zu rühren‹, so sag' ich dazu: ›Meinethalben‹. Aber zwischen beiden steht etwas, das keine Fiktion und keine Verlegenheit ist, das nennt sich: Vaterland! Wie findet Ihr Lachen sich damit ab?«

Sieburth fuhr auf. Er wußte wohl: An diesem Felsen scheiterte jeder Sturmlauf des eigenwilligen Denkens.

Und jener fuhr fort: »Sie sagen gar nichts. Das hab' ich erwartet. Hätten Sie am zweiten September siebzig vor Sedan gelegen wie ich, Sie hätten den Choral: ›Nun danket alle Gott‹ nicht bloß mitgesungen, Sie wären auch genau so gläubig gewesen wie neben Ihnen der pommersche Bauernsohn. Was hilft uns unsere Skepsis, was hilft uns unsere Denkkraft, wenn beides an einer beliebigen Massenwirkung zugrunde geht?«

Sieburth – trotz seiner Betroffenheit – suchte nach Gegengründen.

»Zuerst handelt es sich hier nicht um eine beliebige Massenwirkung«, sagte er, »sondern dahinter steht Homers ›purpurner Tod‹, dem auch des Stärksten Gefühl seinen Zoll zahlt … Und weiter: Skepsis wäre nicht Skepsis, wenn sie nicht schließlich sich selber vernichtete. Jeder letzte Grund ist ein Abgrund. Und wenn wir den Hals darin brechen, geschieht uns nur recht.«

Der Ministerialdirektor maß ihn, ernst geworden, zwischen zusammengekniffenen Lidern.

»Hier steckt eine Tragik«, sagte er, »die ich Ihnen schon lange von der Nase ablese … Sie sind kein Skeptiker – und sind auch kein Zyniker – krank sind Sie – wissenskrank sind Sie – lebenskrank sind Sie. Die Lust des Leidens ist Ihnen ins Blut gegangen und hat es vergiftet. Aber der Schinder soll heute jegliche Tragik holen. Lassen wir darum auch alle letzten Dinge! Lassen wir der Gottheit ihre Diebsverstecke, als da sind: Weltgefühl, Zeitlosigkeit und dergleichen. Lassen wir der Menschheit ihre wirksamste Panazee, welche heißt: Mittelmäßigkeit. Und kommen wir zu einer andern, die wir bisher ängstlich gemieden haben, obgleich sie, wenn ich nicht sehr irre, uns beiden noch immer geholfen hat. Sie nennt sich: Weib! … Weib, der ruhende Pol in der Ergötzungen Flucht. Wer uns heute abend zugehört hätte, der hätte uns sicher für zwei Neutren gehalten.«

Mit dieser plötzlichen Wendung war jeder Schatten weggewischt, und Sieburth sagte hell auflachend: »Ich bin hier längst fremd geworden. Wo nehmen wir Weiber her?«

»Halt, halt! Nicht so hitzig, junger Mann. Ich zähle achtundfünfzig, bin verheiratet und eine bekannte Respektsperson. Nächtliche Abenteuer kann ich mir nicht leisten. – Dazu müßt' ich noch Referendar oder schon Minister sein. Aber wollen wir als weise Männer die Zuschauer spielen, dann wüßte ich diesen und jenen Ort, wo Sittsamkeit ins Mänadentum pervertiert. Bockbierfest und dergleichen. Und es gibt auch noch Besseres. Friedrich, die Rechnung!«

Etliche Minuten später schritten sie durch die nächtige Stadt dem Zentrum zu, in dessen Straßen rudelweise noch immer Betrieb war.

Einzelne Mädelchen, süße Herumtreiberinnen, die dem an den Ecken lauernden Dirnentum gefährliche Konkurrenz machten, zogen von einem Ladenfenster zum andern, wo sie, scheinbar von Neugier gefesselt, die dunklen Auslagen musterten, innig bereit, jedem, der ihnen gefiel, Antwort und Auskunft zu schenken.

Sieburth, an dem nicht eine unbeurteilt vorüberglitt, sagte zu sich: »Hier hätt' ich leichtere Jagd gehabt in allen den Jahren.«

Die Welt als Weib und Gedanke – hier war sie vollends zur Reife gekommen.

» Was ist das? Was ist das?« hörte er neben sich sagen. »Die Welt – als was?«

Da wurde er dessen gewahr, daß er lauter gedacht hatte, als er vermeinte, und lachend wiederholte er die altgewohnte Floskel.

»Diese Parodie ist gar nicht so dumm«, sagte der Ministerialdirektor. »Damit könnte man sein ganzes Leben auspolstern.«

»Das 'rauszufinden überlass' ich meinen Jungens«, erwiderte er.

»Ich werde Sie doch lieber schimpflich kassieren«, drohte jener, ihn in den Arm zwickend. »Derlei Jugenderzieher sind eine staatsgefährliche Sache.«

»Ich glaube kaum«, verteidigte er, »daß ich damit mehr Unheil anrichte als der Staat, indem er die andere Verquickung ›Weib und Besoffenheit‹ unter seine schützenden Fittiche nimmt.«

Der hohe Sittenrichter jauchzte kurz auf und bekannte sich schmählich geschlagen.

Und da waren sie angelangt.

Ein Kneiplokal scheinbar wie andere. Durch zwei Stockwerke reichend. Stoppevoll. Von Rauch und Gelächter durchflutet.

Vielstimmiges Hallo empfing die Eintretenden. Willkommenrufe. Erhobene Gläser.

»Morjen! Hierher! Handgeben! Mittrinken!« so schallte es fast von jedem Tische, wo Männlein und Weiblein neben-, wenn nicht aufeinander saßen. Fast schien's, als wären sie von allen sehnlich erwartet worden.

Der hohe Beamte hatte jegliche Würde behaglich von sich getan. Er schüttelte Hände, beklopfte Schultern und Wangen, und zwei oder drei umarmte er auch, ohne erst viel nach Geschlecht und Alter zu fragen.

Sieburth versuchte es ihm gleich zu tun, aber dieser Verkehrston war ihm zu fremd und kam zu überraschend, als daß er sich ihm sofort hätte anpassen können.

Im oberen Stock, der als breite Galerie den Saal umgab, fand sich ein Tisch, der noch unbesetzt war.

Die Nachbarn rechts und links verlangten sofortige Verbrüderung. Wenigstens umarmt wollten sie werden. Und das geschah auch ohne weitere Feierlichkeit.

»Wo sind wir bloß?« fragte Sieburth. »Ich erkenne meine steifleinenen Norddeutschen nicht wieder. Höchstens in Köln zur Karnevalszeit hab' ich Ähnliches erlebt.«

» Dieser Karneval dauert das ganze Jahr durch«, erklärte sein Führer. »Wir sehen daraus, wie lose das Gewand der gesellschaftlichen Formen den Spießern auf dem Leibe sitzt und welche Gier besteht, es wieder von sich zu werfen. Dabei trinkt man einen magenaufdunsenden Mosel. Zu was Besserem reicht es meist nicht. Man berauscht sich genug an sich selber – oder vielmehr an der Geschlechtlichkeit, die nach Erfüllung drängt.«

»Es sind aber doch Pärchen genug da«, warf Sieburth ein, »bei denen das meiste sich längst erfüllt hat.«

»Selbstverständlich«, bestätigte jener. »Irgendwie gehören sie sämtlich zusammen. Der Urtrieb der Promiskuität ist's, der unbewußt hochsteigt … Dem Zyniker ein gefundenes Fressen … Übrigens verläuft trotz scheinbarer Zügellosigkeit alles harmlos und hausbacken … Die paar Zettelchen, die heimlich zugeschoben werden, zählen nicht mit.«

Statt des geschmähten Mosels erschien auf dem Tisch ein silbergekapselter Schaumwein, der seinen französischen Ursprung kühnlich zur Schau trug.

Die Weiblichkeit an den Nebentischen war inzwischen bemüht, den entstandenen Zusammenhang nicht wieder einschlafen zu lassen. Papierkugeln wurden herübergeknipst und statt der fehlenden Konfetti Fäden, durch Bonbons und Apfelschalen beschwert, nach ihnen geschleudert.

Und was mehr galt:

Die Augen eröffneten ein Feuerwerk, das nur zu deutlich nach Anschluß schrie.

Der heitere Großwürdenträger hatte die Hände in den prallen Hosengurt gesteckt und schüttelte sich vor Vergnügen.

»Per Bacco! Sie gehen ja den Weibern wie Pfeffer ins Blut!«

Sieburth wollte diese Schätzung bescheiden von sich weisen, aber er kam nicht dazu, denn die Unternehmungslustigste, eine schlanke Brünette mit schwerlidrigen Sammetaugen und lechzend gekräuseltem Munde, machte kurzen Prozeß, sprang von dem links liegenden Tisch auf und setzte sich zwischen ihn und seinen Gefährten.

»Vorsicht!« murmelte der, »damit kein Skandal entsteht.«

Und halb sich erhebend rief er zum Nebentisch hinüber: »Wenn auch die andern Herrschaften uns die Ehre erweisen wollten!«

»Ach, lassen Sie sie man«, sprach eine gutwillige Stimme von drüben. »Ich bin der Bräutigam. Ich kenn' sie. Sie kommt von alleine zurück.«

Die neue Tischgenossin nahm das Sektglas, das der Gastgeber ihr bot, und sie trank nicht, sie ließ nur die Zähne an seinem Rande klirren und raunte mit kaum geöffnetem Munde: »Wer seid ihr beide? Ihr seid wer! Ihr seid mehr als das ganze Volk da! Sie mit den Märtyreraugen! Und Sie! Ein Stück Lieber-Gott sind Sie. Liebhaben muß man euch, ob man will oder nicht.«

»Und du! Wer bist du?« forschte der hohe Beamte.

»Ein armes Ding, das in Klavierstundengeben erstickt. Wenn meiner drüben auch noch so gut ist, dich möcht' ich zum Mann.« Und sie kniff mit zwei Nägeln in Sieburths Daumen, während ihr Blick in dem seinen ertrank. »Aber du möchtest mich nicht. Höchstens für eine Nacht. Du trampelst über uns alle hinweg und fieberst ins Leere. Wenn der nicht aufpaßt, wirst du ein schlechtes Ende nehmen. Das prophezei' ich dir.«

»Er paßt auf! Da sei du sicher!« rief der Ministerialdirektor. »Im übrigen höre zu unken auf, sonst wirst du sofort wieder zurückspediert.« Und er hob sein Glas zum Nebentisch hinüber, wo man sich höflich und herzlich verneigte.

»Behaltet mich bloß noch fünf Sekunden«, bettelte sie. »Bis ich weiß, wer ihr seid. Bist du ein Musiker? Bist du ein Dichter? Nein, ich weiß, was du bist! Ein Weltreisender bist du, der von einem Lande zum andern jagt, weil er nirgends Erlösung findet.«

»Ahasver im sleeping-car«, lachte der Ministerialdirektor. »Die neueste Romantik eines Jungmädchenhirns.«

»Bitte, bitte, nimm mich mit«, flehte sie weiter. »Ich werde dich schon beschützen! Ich werde – –« Sie schickte sich an, seinen Hals zu umklammern.

»Halt!« rief nun zürnend ihr Lieber-Gott. »Deine fünf Sekunden sind um. Mach deinen Knicks und geh heim.«

Ohne einen Versuch des Widerstrebens stand sie auf und schritt schweigend, mit weit nach hinten geworfenem Kopfe zu ihrem Platze zurück.

»Hysterische Clairvoyance!« sagte der Ministerialdirektor. » Der Ton fehlte uns noch in unserer heutigen Abendmusik. Mann, was müssen Sie reich sein an Lust und Erlebnissen!«

»Wenn nur die ›bestia trionfante‹ nicht wäre«, sagte Sieburth, »die einem ewig im Nacken sitzt.«

Jener stutzte ein wenig, aber er hielt es für richtig, auf das Bekenntnis nicht einzugehen.

»Ein anderes Wort des Giordano Bruno fällt mir ein«, erwiderte er. »›Liebet das Weib, wenn ihr wollt, aber vergeßt nicht, Verehrer des Unendlichen zu sein.‹ In die Sprache des heutigen Abends umgesetzt: › Verächter des Unendlichen zu sein.‹«

Sieburth raffte sich zu einem Widerspruch zusammen, der nicht bloß dieser Wendung, der vielmehr allem Bisherigen galt.

»Dabei wollen wir uns aber nicht verhehlen«, sagte er, »daß, was heute zwischen uns geredet wurde, zum größten Teile doch Spiel und Rausch war.«

»Zoppen Sie schon zurück, Sie Hans Hasenfuß?« höhnte jener.

»Das nicht«, erwiderte er. »Der Ernst des Erkennens hat wohl über allem gelacht. Aber ebenso wie ich in ein paar Wochen platonische Dialoge sezieren werde, werden Sie morgen christliche Staatserhaltung betreiben, und Sie wie ich werden das Gefühl haben, zu tun, was uns zukommt.«

Der Ministerialdirektor machte sein Flunschgesicht.

»Das haut ja in meine Kerbe. Wir fügen uns der gegebenen Ordnung, mag sie uns auch noch so widersinnig erscheinen. Und sie tut's nicht einmal. Denn Ordnung ist niemals Widersinn. Und wenn sie abdankt, kann sie nur einer Neuordnung weichen. Die wird auch allerhand Widersinn in sich tragen und wird trotzdem so wenig widersinnig sein, wie die alte es war … Aber solche Stunden, wie wir sie heute erlebten, die müssen sein. Spiel und Rausch, die müssen sein, damit die beiden Urfeinde des menschlichen Denkens, das Dogma und das Absolute, uns nicht die Kehle zuschnüren … Lassen Sie das süße Zeug stehen, lieber Freund! Wenn's Ihnen recht ist, wollen wir fort.«

Bevor sie aufbrachen, versäumten sie nicht, von den Nachbarn des linken Tisches – der rechte wurde flüchtiger bedacht – umständlichen Abschied zu nehmen.

»Nun sehen Sie sie bloß an«, sagte der Bräutigam. »Man hat doch rechte Sorge um sie.«

Da saß das Mädchen mit starren Traumaugen, die gebannt an Sieburth hingen, und rühre sich nicht.

Er streckte ihr seine Hand hin, doch sie, als ob sie seine Berührung fürchtete, schüttelte den Kopf und starrte ihn weiter an.

Und so saß sie noch da, als Sieburth von der Tür her zum letztenmal nach ihr zurückblickte.

»Kommen Sie morgen um zwölf auf mein Büro«, sagte der Ministerialdirektor beim Abschied. »Da wollen wir mit Geduld und Spucke Ihre Zukunft einleimen.«

 

Und nun fand er sich von neuem ihm gegenüber. Die geblümten Sessel leuchteten im Widerschein der Vormittagssonne, und der abgetretene Teppich zeigte noch graulicher die Spuren all der herzklopfenden Männer, die hier schon gesessen hatten.

Der Gewaltige thronte mit heitrem Alkaldengesicht wieder in seinem ledernen Schreibstuhl.

»Lassen wir mal unsere Schädel brummen«, sagte er, »und gehen wir tapfer an die Geschäfte. Ich will Ihnen zugleich gestehen, daß meine Unwissenheit gestern morgen, Ihre ›Lage‹ betreffend – so sagten Sie ja – ein wenig geschauspielert war. Hoffentlich nicht schlecht, was? … Sie beschäftigen uns nämlich zurzeit in ziemlich ausgesprochener Weise. Ihre Fakultät hat geradezu einen Koller gegen Sie. Das deutete ich abends schon an. Ich habe vielleicht nicht das Recht, Ihnen die Korrespondenz mit ihr vorzulegen, aber ich nehme an, Sie werden keinen Gebrauch davon machen.«

Und er reichte Sieburth ein Aktenstück, das dieser nicht ohne Erregung durchflog.

Darin stand schwarz auf weiß bewiesen, mit welcher Energie und Zähigkeit die Fakultät sich gegen seine Berufung gewehrt hatte.

Immer wieder – seit dem Heimgang des großen Hegelianers – hatte das Ministerium ihn in Vorschlag gebracht, immer wieder hatte sie Einspruch erhoben und, da ihr eine wirksame Weigerung versagt war, wenigstens um Offenhaltung des Postens gebeten.

Mit Ihren Begründungen war sie unendlich vornehm geblieben. Gegen sein Privatleben wurde nicht der leiseste Vorwurf erhoben. Und der Erfolg seiner Lehrtätigkeit – der allerdings mit Zahlen belegbar war – fand sich rückhaltslos anerkannt … Aber – aber – er habe literarisch so wenig geleistet, und es fehle ihm vor allem die mathematisch-naturwissenschaftliche Vorbildung! Ihm, der trotz seinem philologischen Kram naturwissenschaftlicher dachte als irgend einer, der jahrelang in den Laboratorien herumgetobt hatte.

Auch an Gegenvorschlägen fehlte es nicht.

Statt seiner wurden zwei andere Kandidaten genannt, die gar noch in den Windeln des Privatdozententums steckten. Und einer davon erwies sich als Cillys Verlobter. Man sah über hundert Meilen hinweg die Schicksalsschwestern am Werke.

Diese zwei Herren also besaßen die nötige Eignung – er aber nicht, der unter den Studierenden der Albertina längst eine große Anhängerschaft hatte und dem guten Hagemann – trotz dessen Wichtigkeit fürs Examen – in jedem Semester von neuem das Wasser abgrub.

Was aber am wehesten tat, war, daß in dem Reigen der Unterzeichner selbst der Name seines Freundes Pfeifferling nicht fehlte … Daß er nicht fehlen durfte, weil wahrscheinlich nach den Bestimmungen die Gesamtheit der Ordentlichen Lehrer zum Unterschreiben verpflichtet war, mußte ihm als Rechtfertigung dienen, aber weh tat es doch.

Dankend legte Sieburth das Aktenbündel auf den Tisch zurück. »Damit scheint ja mein Fall erledigt!« sagte er mit einem Achselzucken.

»Was Sie sich denken!« rief jener. »Wie wir Sie gegen den Einspruch der Fakultät als Außerordentlichen hineingeschoben haben – weiß der Deibel, was die Leute schon damals gegen Sie hatten! –, so werden wir Sie ihnen jetzt auch als Ordentlichen auf die Nase setzen … Ja, im Vertrauen: Ich habe von meinem Chef schon einen tüchtigen Rüffel erwischt, weil es noch nicht geschehen ist.«

Sieburth dachte bei sich: ›An dieser Begünstigung können unmöglich nur die Wahlen schuld sein.‹

Da fand sich auch schon des Rätsels Lösung: »Und nun noch eine Frage«, fuhr der Ministerialdirektor fort, »die ich mit geziemender Ehrerbietung an Sie zu richten wage: Wo haben Sie die höfischen Verbindungen her?«

»Welche höfischen Verbindungen?«

»Nun, nun! Offene Karten, wenn ich bitten darf! Ein sehr hoher Herr hierselbst interessiert sich mächtig für Sie. Hat sich schon damals interessiert. Ich dachte, Sie würden gestern was von dieser Freundschaft verlauten lassen, aber Sie haben dichtgehalten … Nu mal 'raus: Wie steht's mit der Milchbruderschaft?«

»Ich kann mir nur eines denken«, erwiderte Sieburth. Und er erzählte von dem kränkelnden Erbprinzen, als dessen Freund und Hüter er vier Jahre seiner Jugend hingebracht hatte.

»Und in so anständiger Gesellschaft wollen Sie noch nicht einmal gelernt haben, Schnepfen zu essen?« rief jener lachend. »Aber auf diese Weise erklärt sich ja alles. Der hohe Vater Ihres Schützlings und unser hoher Herr sind dicke Freunde. Das ist bekannt. Und aus der Entfernung sorgt er noch immer für Sie. Da hätten wir beide uns gar nicht zu treffen brauchen! Da hätten Sie sich auch bei keiner Wählerei zu strapazieren brauchen. Mit solchen Gönnerschaften hupft man auf den Lehrstuhl Kants wie der Floh auf das Strumpfband.«

»Gehorsamsten Dank für diesen Vergleich«, sagte Sieburth, dem ein Schmerz heiß durch die Brust ging.

»Na, was wollen Sie?« lachte jener. » Einen Vorteil muß die jeweilige Verkörperung der Staatsidee doch mit sich bringen. Manche nennen das Korruption. Aber ich sage Ihnen: die sogenannte Korruption, die als gütige Fee helfend und ausgleichend auf Filzschuhen rumschleicht, wirkt oft moralischer als die dumm-stolze und alles niedertrampelnde Tugend … Nein, nein, ernsthaft! Nach Prinzipien arbeiten nur die Banausen. Wer mit Persönlichkeiten zu tun hat, dem wird die Ausnahme zur Regel und die Regel noch nicht einmal zur Ausnahme … Und jetzt fahren Sie ruhig in Ihre Ferien. Ihre Berufung wird noch vor Ihnen zu Hause sein … Ja, noch eins: Ich habe hintenrum gehört, daß Sie sich viel mit Weibern zu schaffen machen. Seit dieser Nacht weiß ich, daß das in Ihrem Leben nicht anders sein kann. Ich mach' Ihnen keinen Vorwurf daraus. Eher wäre ich neidisch – obgleich man ja auch seine Erinnerungen hat. Aber einen Rat möchte ich Ihnen mitgeben. Nicht den unseres Freundes Juvenal: ›Liebe drauflos und sei stumm‹, denn den befolgen Sie schon, wie ich mit Vergnügen feststellen konnte. Aber haben Sie mal was von Sankt Chapelet gehört?«

Sieburth verneinte.

»Der war bei Lebzeiten der ruchloseste und liederlichste von allen. Aber er wußte es so schlau einzurichten, daß er nach seinem Tode der heilige Chapelet genannt wurde und sogar Wunder tat. Man müßte überhaupt den Boccaccio immer auf seinem Nachttisch liegen haben. Man kommt dadurch zu leichterem Atemholen. Und das werden Sie brauchen können in der Stadt, in der man den kategorischen Imperativ mit der gleichen Selbstverleugnung benutzt wie den Igel als Arschwisch. Ich wünsche Ihnen also die entsprechende Stählung Ihres Charakters, mein Freund!«

Und lachend gingen sie auseinander.

Doch jener Schmerz blieb sitzen.


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